Pflicht zur Kenntnis des Verbotenen

Eine ORF-Talentshow macht Schlagzeilen, weil sich Zuschauer durch eine Mundharmonikamelodie an das Horst-Wessel-Lied erinnert fühlen

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Die ORF-Sendung Die große Chance ist ein öffentlich-rechtliches Pendant zu Shows wie Das Supertalent: Darin treten unbekannte Akteure auf, die hoffen, durch das Medium Fernsehen zu Erfolg zu kommen. In Deutschland gelang dies kurzfristig dem Mundharmonikaspieler Michael Hirte, weshalb wohl auch der 68-jährige Österreicher Helmut Link hoffte, mit diesem Instrument die Herzen seiner Landsleute rühren zu können.

Als Kostprobe trug er das Volkslied "Es wollt' ein Mann in seine Heimat reisen" vor, das den Redakteuren so gut gefiel, dass sie die Aufnahme ausstrahlten - worauf hin der ORF allerdings mit politischer Aufmerksamkeit bedacht wurden, auf die dessen Funktionäre lieber verzichtet hätten.

Die Melodie erinnerte einige Zuschauer nämlich an das Horst-Wessel-Lied, das nach dem Zweiten Weltkrieg vom Alliieren Kontrollrat verboten wurde. Die DDR, die BRD und Österreich übernahmen dieses Verbot in ihre jeweiligen Strafgesetze. Seit einem Fall aus dem Jahre 1986, bei dem sich eine Frau an einer Parodie des Stücks gestoßen hatte, gilt zumindest in der Bundesrepublik auch das bloße Aufführen der Melodie als strafbar.

Diese ist deutlich älter ist als der SA-Text und findet sich nicht nur im Stück aus der ORF-Talentshow, sondern auch in Werken wie dem Königsberg-Lied, dem Bänkellied Einst lebte ich im deutschen Vaterlande und (zum Teil) in der Ballade vom Wildschützen Jennerwein. Aus diesen Gründen entschied das Reichsgericht in den 1930er Jahren auf eine Klage von Wessels Erben hin, dass die SA-Hymne lediglich als Bearbeitung einer Volksweise Monopolschutz genießt. Später erließen die Nationalsozialisten ein Verbot des ungenehmigten Abspielens der Melodie und untersagten deren Verwendung in - wie es damals hieß - "Potpourris".

In Deutschland und Österreich führte das Melodieverbot zu einer gewissen Rechtsunsicherheit, die unter anderem die zahlreichen Spottversionen betrifft, welche Gegner des Nationalsozialismus seit den frühen 1930er Jahren aus der SA-Hymne fertigten, zu der sie Texte wie den folgenden sangen:

Die Preise hoch, die Läden dicht geschlossen
Die Not marschiert - und wir marschieren mit
Frick, Goebbels, Schirach, Himmler und Genossen
Die hungern auch - doch nur im Geiste - mit

Eine entsprechend empfindliche Staatsanwaltschaft vorausgesetzt könnte deshalb sogar das Aufführen oder Abspielen des Kälbermarschs von Bert Brecht und Hanns Eisler gefährlich werden, denn auch der ist eine - wie man heute sagen würde - "Mashup"-Version des Horst-Wessel-Liedes, wie man unschwer an folgender Strophe erkennt:

Der Metzger ruft, die Augen fest geschlossen
Das Kalb marschiert mit ruhig festem Tritt.
Die Kälber deren Blut im Schlachthof schon geflossen
Sie ziehn im Geist in seinen Reihen mit.

Wahrscheinlich schützt Brecht und Eisler aber ihre Berühmtheit vor einem allzu forschen Zugriff der Justiz, was auch für Karlheinz Stockhausen gilt, der das Werk in seinen Hymnen-Aufnahmen ebenfalls verwurstete.

Eine der interessantesten Kälbermarsch-Fassungen spielten Xmal Deutschland 1981 für Alfred Hilsbergs ersten Zickzack-Sampler ein

Nach den Beschwerden über Helmut Links Mundharmonikaspiel prüfte man auch beim ORF eine mögliche strafrechtliche Relevanz der Ausstrahlung und kam zu dem Ergebnis, dass der Kandidat "mit seiner Darbietung keinerlei Bezug zum Horst-Wessel-Lied herstellen wollte und ihm die Ähnlichkeit auch nicht bewusst war". Den Redakteuren und der Jury (in der unter anderem der Berliner Rapper Paul Würdig saß) sei bei der Produktion ebenfalls nichts Problematisches aufgefallen.

Das ist unter anderem deshalb durchaus glaubhaft, weil das Horst-Wessel-Lied nun bereits seit 66 Jahren verboten ist, was auch der österreichischen Tageszeitung Die Presse auffiel, die kritisierte, dass der ORF den Helmut-Link-Auftritt still und heimlich aus seinem Webangebot entfernte, anstatt den Vorfall zum Anlass zu nehmen, sich selbst, die Öffentlichkeit und die Politik mit ein paar Gretchenfragen zu konfrontieren:

Was sagt es über das Land aus, wenn keiner mehr die Nazi-Hymne identifizieren kann? Entlarvt sich, wer sie kennt, als Ewiggestriger - oder als besonders wachsamer Bürger? Kann man Menschen vorwerfen, etwas nicht zu kennen, das seit Jahrzehnten nicht gehört werden darf? Ist das Verbot des Liedes der gesellschaftlichen Wachsamkeit also zu- oder abträglich? Diese Diskussion wäre interessant gewesen, eine Fernsehanstalt mit Bildungsauftrag hätte sich ihr stellen können.

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