Bulgarien in Pogromstimmung

Wie ein Autounfall eine landesweite Hetzjagd gegen die Minderheit der Roma auslösen konnte

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Am vergangenen Wochenende brannte im südbulgarischen Katuniza ein aufgebrachter Mob Häuser und Autos der Minderheit der Roma nieder. Seitdem drohen rassistisch motivierte Demonstrationen und mitunter gewalttätige Proteste, die in etlichen Ortschaften in Bulgarien stattfinden, in eine landesweite Welle von Pogromen gegen diese marginalisierte Minderheit umzuschlagen.

Was war geschehen? Am Freitag, den 23. September, verstarb der Jugendliche Angel Petrov bei einem Autounfall in dem südbulgarischen Dorf Katuniza. Der Minibus, der den 19-jährigen Dorfbewohner überfuhr, wurde von Angehörigen der lokalen Minderheit der Roma gefahren.

Bulgarischen Medienberichten zufolge bildeten sich innerhalb der dortigen Roma clanartige Machtstrukturen aus, die hauptsächlich auf familiären Banden beruhen und an deren Spitze der als "Roma-Boss" oder auch "Roma-Zar" bezeichnete Kiril Raschow steht. Bei dem flüchtigen Fahrer des Unfallfahrzeugs soll es sich um einen engen Vertrauten von Raschow gehandelt haben.

Schon Freitagnacht versammelte sich eine Gruppe von Dorfbewohnern vor den Häusern von "Zar-Kiro", so Raschows Spitznahme, um dessen Vertreibung aus dem circa 2.300 Einwohner zählenden Dorf zu fordern. Am Samstag schwoll der Mob vor dem Anwesen von Raschow auf mehr als 2.000 Menschen an, als rechtsextreme Hooligans der beiden größten Fußballvereine aus der benachbarten Stadt Plowdiw in Katuniza eintrafen.

In der folgenden Nacht wurden Raschows Häuser und Fahrzeuge niedergebrannt während der Chef des Roma-Klans sein Anwesen fluchtartig verlassen musste. Bei den Ausschreitungen starb zudem ein 16-jähriger Bulgare an den Folgen eines Herzversagens. Die Polizei hat 127 der Randalierer festgenommen, von denen 28 mit Anklagen wegen Landfriedensbruch rechnen müssen. Mehrere Demonstranten und Polizisten wurden verletzt.

Landesweit wurden in Reaktion auf diese pogromartigen Ausschreitungen Demonstrationen veranstaltet, die oftmals über spontan gebildete Facebook-Gruppen organisiert und koordiniert wurden, von denen es inzwischen mehr als 100 geben soll – mit zumeist klar antizigaischer Ausrichtung .

Zu Ausschreitungen und versuchten Pogromen an Roma kam es in den letzten Tagen in Sofia, Plowdiw, Warna und Plewen. Oftmals mussten die Polizeikräfte in den vergangenen Nächten Gruppen von Hunderten von Angreifern daran hindern, in Roma-Stadtteile einzudringen. Hierbei handelte es sich offenbar um lokal organisierte Nazibanden, die den Tod der beiden bulgarischen Jugendlichen für ihre barbarischen Zwecke zu instrumentalisieren versuchten, wie ein Beispiel aus der Stadt Plewen illustriert, wo die Faschisten ein Lokal der türkischen Minderheit demolierten, bevor sie zum Sturm auf das dortige Romaghetto ansetzten:

A group of 150 youngsters tried to attack the Roma-populated quarter in the northern city of Pleven, but were fended off by the local police which had to mobilize its entire staff. Before that however, the protesters violated a local club of the ethnic Turkish party DPS Movement for Rights and Freedoms Darik Radio reported.

Novinite

Selbstverständlich bemühte sich auch Ataka, die führende rechtsextreme Partei Bulgariens, die antiziganische Stimmung zu instrumentalisieren. Der "Parteiführer" Wolen Siderow versuchte sich an einer theatralischen "Stürmung" der Präsidentenresidenz in Sofia, um dem bulgarischen Staatsoberhaupt eine Deklaration zu überbringen, in der die Pogrome gegen die Roma in übelster antiziganischer Tradition den Roma selber angelastet werden. Die "kriminelle Aktivität" der Roma sei gefährlich für "das Land, und den Staat", erklärte der stramme Nationalist am vergangenen Montag. Für die Rechtsextremen um Ataka kommen die Ausschreitungen gegen die circa 500.000 Mitglieder zählende Minderheit der Roma wie gerufen, um im beginnenden Präsidentschaftswahlkampf in Bulgarien punkten zu können.

Dabei könnten die nun gegen den "Roma-Boss" Raschow aufgenommenen Ermittlungen tatsächlich seine etwaigen illegalen Tätigkeiten und Verbindungen zur Unterwelt nachweisen, die ihm von der öffentlichen Meinung bereits angedichtet werden. Der "Roma-Zar" könnte tatsächlich auch ein Mafia-Boss sein, der über gute Kontakte zur lokalen Polizei verfügte und sich somit einen gewissen Schutz vor Strafverfolgung sicherte.

Weit verbreitete Organisierte Kriminalität wird ethnisiert

Doch bildet der mutmaßlich von Raschow aufgebaute kriminelle Clan nun wirklich keine Ausnahme in Bulgarien, das immer noch – oder schon wieder? - unter einer starken Präsenz von Mafiaclans zu leiden hat, die teilweise neofeudale Herrschaftsformen annahmen können.

Die im Staatswesen allgegenwärtigen mafiösen Netzwerke ("Über 650.000 Verbrechen bleiben ungeklärt") haben etwa Teile der EU-Fördermittel für Bulgarien erfolgreich in dunkle Kanäle geleitet. Die bulgarische Mafia schreckt auch nicht vor Mordanschlägen zurück, wie etwa im Fall des Anfang 2010 erschossenen Journalisten Boris Tsankow, der über diese kriminellen Organisationen berichtete. Damals wurden keine Anwesen bulgarischer Mafiaklans von empörten Bulgaren angegriffen, obwohl deren Anschriften durchaus bekannt sind, wie etwa im Fall der Galewi-Brüder, die eine Art neofeudaler Herrschaft in dem Städtchen Dupniza errichteten, das von bulgarischen Medien als eine "private Stadt" bezeichnet wird, in der jeder gewerbetreibende Bewohner de facto "tributpflichtig" gegenüber den Galewi sei.

Die angeblichen – bislang nicht bewiesenen – kriminellen Umtriebe des Roma-Klanführers Raschow dienten somit als Vorwand, als Katalysator, um den schwellenden Antiziganismus zum Ausbruch zu verhelfen. Die in Bulgarien allgegenwärtige Mafia-Herrschaft und Korruption wird somit in den Roma personifiziert, die zu Sündenböcken gestempelt werden. Die Kriminalität wird im Endeffekt zu einem "ethnischen" oder "rassischen" Merkmal der Roma ideologisiert. Soziale Widersprüche – wie etwa die tatsächlich weitverbreitete Elendskriminalität - werden so zu Eigenschaften einer Menschengruppe erklärt. Den verhetzten Pogromteilnehmern scheint es somit, als ob Kriminalität, Verelendung und Arbeitslosigkeit, die auch in Bulgarien seit Krisenausbruch wieder zunehmen, im Gefolge der Vertreibung der Roma ebenfalls verschwinden würden.

Und die Erfahrung der Vertreibung haben die Roma Bulgariens schon zuhauf machen müssen, wie etwa Amnesty International einem Bericht bemerkte, der häufige Zwangsräumungen ganzer Romasiedlungen konstatierte, bei denen Hunderte von Menschen ihr Obdach verlieren. Die Roma Bulgariens seien laut der NGO zudem umfassender Diskriminierung im Bildungssektor und im Gesundheitsweisen, sowie häufigen exzessiven Polizeiübergriffen ausgesetzt.

Laut UNHCR beträgt die Arbeitslosenquote unter den bulgarischen Roma zwischen 56 und 80 Prozent. Somit erschafft sich auch der bulgarische Antiziganismus seine eigenen Feindbilder: Den ausgegrenzten Roma, die aufgrund allgegenwärtiger Ressentiments kaum Arbeit finden können, werden die Folgen ihrer Diskriminierung als minderwertige "rassische Eigenschaften" angekreidet. Der bulgarische Antiziganismus, der die Roma umfassend ausgrenzt, wirft ihnen eine angebliche rassische oder kulturalistische Neigung zur Verelendung, Elendskriminalität oder Arbeitsscheu vor – wobei dies eben die Folgen der Marginalisierung dieser Bevölkerungsgruppe sind.

Bei den jüngsten Ausschreitungen gegen den "Roma-Boss" in Katuniza hätten die bulgarischen Sicherheitskräfte hingegen eine bemerkenswerte Passivität an den Tag gelegt, beklagte das bulgarische Helsinki-Komitee. Die Polizei habe sich passiv verhalten, während sich eine "Flut von schweren Verbrechen vor ihren Augen abspielte", die zu "rassistischen Ausschreitungen" führte und in weiten Landesteilen in vermehrten "sozialen Spannungen" gipfelte.