Das Märchen von der belgischen Schuldentilgung

Das haarsträubende Unwissen der Finanzexperten in EU und EZB

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Belgien ist ein staatsschuldentilgendes Musterland - auf diese vielversprechende Meldung in der Wirtschaftswoche stößt man schon einige Zeit. Was hat es damit auf sich?

Man kann davon ausgehen, dass nicht nur die datenliefernde EUROSTAT, sondern auch die interpretierenden Finanzwissenschaftler und Finanzredakteure in jahrzehntelanger Erfahrung gelernt haben, Finanzdaten zu interpretieren - möglicherweise im Gegensatz zum Autor dieses Berichtes, dem nicht selten bescheinigt wird, als "Soziologe" nicht die notwendige Fachkenntnis zu besitzen.

Das Land der Pralinen und Pommes Frites, so das Fazit der ermutigenden Jubelmeldung, kann Griechen, Italienern und natürlich auch Deutschen zeigen, wie man Staatsschulden tilgt. Was hat die belgische Regierung so richtig gemacht? "Innerhalb von 15 Jahren senkte sie den Schuldenstand auf 88 Prozent des BIP. Die Einhaltung der Sparziele ließ sie von einem unabhängigen Expertenrat kontrollieren", erfahren wir von der Wirtschaftswoche.

Belgien, so die Finanzexperten, war 1993 mit 144 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes verschuldet, 2006 nur noch mit 88,1 Prozent. Das Ganze wird auf einer bunten Grafik für visuell ansprechbare Seelen verdeutlicht.

Die staatliche belgische Schuldenagentur Dette Publique Fédérale Belgique sieht die Schuldensituation allerdings bereits etwas bescheidener. Danach war Belgien 1993 mit genau 134,1 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes verschuldet. 2010 konnten die Belgier wieder 96,6% Schuldenquote vermelden.

Auch das wäre eine starke Leistung - wenn dabei nicht die Frage aufgeworfen würde, wie sich denn das belgische BIP seit 1993 entwickelt hat. Nur, wenn dieses nämlich in diesem Zeitraum konstant geblieben wäre, hätte sich eine Tilgung ergeben. Da es den Belgiern aber zu wünschen ist, dass ihr Bruttosozialprodukt nicht seit 18 Jahren stagniert, muss die Steigerungsrate nun natürlich von der Quote abgezogen werden.

Das Bruttosozialprodukt Belgiens betrug im Jahre 1993 genau 197,723 Milliarden Dollar. Die Weltbank nimmt für 2010 genau 467,472 Milliarden Dollar an. Sagen wir der Einfachheit halber und um Detaildiskussionen um reales und gewichtetes, nominales und anderes Bruttosozialprodukt zu vermeiden: Das Bruttosozialprodukt der Belgier hat sich mindestens verdoppelt.

Diese Fakten ermöglichen es uns nun, einen Vergleich vorzunehmen.

Das Märchen von der belgischen Schuldentilgung wird aber leider nicht in Wirtschaftsmedien verbreitet, sondern es gilt als Standardwissen der Volkswirtschaft. Im Dezember 2010 veröffentlichten drei Ökonomen der Europäischen Zentralbank EZB in der renommierten, von der ETH-Zürich herausgegebenen Ökonomenstimme ein Papier mit der Wiederholung des belgischen Märchens. Der Artikel endet mit folgender Empfehlung:

Unsere Untersuchung hält mehrere Handlungsempfehlungen für den Schuldenabbau bereit. Zum einen erscheint eine einschneidende Fiskalkonsolidierung, die sich vor allem auf die Ausgabenseite stützt, für den Schuldenabbau besser geeignet, als Steuererhöhungen und zaghafte Anpassungen.

Kurios: Laut Wirtschaftswoche hatten ja gerade die Belgier angeblich ihre Sparziele, die von einer Expertenkommission überwacht wurden, erreicht. Getilgt haben sie nicht einen Euro.

Es gibt in Belgien auch Grassroot-Ökonomen, denen nicht entgangen ist, dass die Schulden Belgiens ausschließlich gestiegen und nie auch nur im Entferntesten getilgt wurden.

Wenn die Finanzexperten der EU, der EZB, der ETH-Zürich und der Wirtschaftswoche Schuldenerhöhung für Schuldentilgung halten, dann darf vom Euro-Rettungsschirm noch einiges erwartet werden.

Die Frage ist, wie lange europäische Politiker und die Öffentlichkeit noch das verbreitete Finanzwissen aus den VWL-Fakultäten, von Handelsblatt, FTD und Wirtschaftswoche glauben.

Dass mit diesem Wissen Schulden reduziert werden können, ist nicht sehr wahrscheinlich.

Alexander Dill leitet das Basel Institute of Commons and Economics, das sich mit der Berechnung von Sozialkapital und Vorschlägen zur Tilgung von Staatsschulden beschäftigt.