Die Moral des Netzes

Philosophie für Nerds I

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Stellen Sie sich vor, Ihr Nachbar installiert sich ein Nachtsichtfernglas am Fenster, von dem aus er beobachten kann, was Sie in Ihrem Schlafzimmer so treiben, auch wenn Sie das Licht ausgeschaltet haben. Wenn Sie ihm auf die Schliche kommen und fortan die Vorhänge zuziehen, beschafft er sich ein besseres Gerät, das auch durch Vorhänge sehen können.

Stellen Sie sich nun vor, Sie erzählen das in Ihrem Bekanntenkreis und bekommen dort zu hören, Sie sollten sich doch einfach Rollläden an den Fenstern montieren, und wenn Sie das nicht wollen, dann, so empfehlen Ihnen ganz selbstverständlich Ihre Freunde, sollen Sie doch im Schlafzimmer alle Tätigkeiten unterlassen, die für den Nachbarn interessant sein könnten.

Ein anderes Beispiel: Sie stellen fest, dass Sie im Kaufhaus immer gerade Ersatz für die Kleidungsstücke angeboten bekommen, die seit einiger Zeit wegen schadhafter Stellen im Schrank hängen. Darüber verwundert sprechen Sie wieder mit Ihren Freunden, die Sie, mit einem etwas mitleidigen Lächeln, fragen, ob Sie denn noch nicht wüssten, dass pfiffige Mitarbeiter des Kaufhaus-Konzerns regelmäßig in Wohnungen einbrechen und Kleiderschränke durchwühlen, um zu schauen, was die Leute so brauchen.

Wenn Sie entrüstet darauf hinweisen, dass Sie das nicht wünschen, schauen einige Ihrer Freunde Sie verständnislos an: Das sei doch eine praktische Sache, so bräuchte man sich nicht selbst darum zu kümmern, welche Sachen man sich kaufen soll. Andere berichten, Sie hätten sich einfach bessere Schlösser an stabilere Türen bauen lassen, durch die kommen die Kaufhaus-Spione nicht durch, und wenn sie es eines Tages doch schaffen würden, dann sei auch die Sicherheitstechnik schon wieder ein ganzes Stück weiter. Es sei so etwas wie ein Sport, ob die Einbrecher oder die Wohnungsinhaber die Clevereren sind.

Die Beispiele sind für die reale Welt, wie wir sie bisher kennen, absurd. Jeder würde sich hier zunächst über den voyeuristischen Nachbarn aufregen, würde raten, den zur Rede zu stellen oder im Zweifel zur Polizei zu gehen. Das gilt für die Kaufhausspione sicherlich noch mehr, hier kann man auch annehmen, dass Kaufhausmitarbeiter sich im Allgemeinen weigern würden, als Spione zu arbeiten. Würde ein Management solches von seinen Mitarbeitern verlangen, wäre die Sache schnell publik, das Unternehmen öffentlich geächtet, die Verantwortlichen würden zur Rechenschaft gezogen. Wir können wohl sogar annehmen, dass eine solche Methode der Umsatzsteigerung, so lukrativ sie scheinen mag, kaum einem Marketingleiter in Deutschland in den Sinn käme.

Die herrschenden moralischen Normen verbieten das beschriebene Verhalten, sie tabuisieren den Voyeurismus und das Ausspionieren. Das heißt nicht, dass so etwas nicht vorkommt, aber es ist selbstverständlich, dass es gesellschaftlich geächtet ist. Es gehört sich nicht, es ist unmoralisch, und die Empörung des Betroffenen wird allgemein geteilt.

Warum im Web Überwachung geduldet wird

Im Web ist das anders. Die Beobachtung der Tätigkeiten des Einzelnen durch Betreiber von Plattformen und Sozialen Netzwerken wird als selbstverständlich hingenommen, egal, ob diese Tätigkeiten auf den Betreiber orientiert sind oder nicht (im Kaufhaus würde man es sicherlich selbst als Belästigung und Verletzung der Privatsphäre empfinden, wenn jeder Schritt, den man durch das Haus geht, aufgezeichnet wird - vergleichbares Verhalten von Webseitenbetreibern haben wir längst akzeptiert).

Dass Betreiber von sozialen Netzwerken auf unseren Computern Tracking-Software installieren, die uns beobachtet, wo immer wir uns im Web herumtreiben, wird hingenommen, begrüßt oder als sportliche Herausforderung angesehen – wer hat das bessere Plugin?

Dabei ist dieses Verhalten im Web – nach bisherigen Maßstäben zu urteilen – noch viel verwerflicher als im sonstigen Leben, denn es ist viel schwerer nachzuvollziehen, aufzudecken und zu verhindern. Das gilt für die Verfahren der Spionage ebenso wie für die Wege, die die gestohlenen Informationen dann gehen.

Man wendet oft ein, dass dies der Preis sei, den wir eben dafür zu zahlen hätten, dass im Netz alles kostenlos ist. Das scheint mir aus zwei Gründen falsch zu sein. Den ersten Grund illustriert das Kaufhaus-Beispiel. Auch dort würde mir das Kaufhaus auf Basis der Spionage einen kostenlosen Service bieten, nämlich, mir immer genau die Kleidung zu offerieren, die ich gerade brauche. Das Kaufhaus könnte argumentieren, dass auf Grundlage dieses Marketing-Konzeptes die Kosten gesenkt werden, und die Einsparungen investiert das Unternehmen wieder in ein schöneres Einkaufserlebnis. Niemand würde eine solche Ausrede akzeptieren. Genau das ist aber die Logik der kostenlosen Nutzung des Webportals.

Zudem weiß jeder, dass die Nutzung des Portals eben nicht kostenlos ist, die Kosten des Betriebs und auch die der Spionage zahlt der Nutzer mit einem höheren Preis genau für die Produkte, die ihm ganz individualisiert in den Werbebannern der Portale präsentiert werden. Und er zahlt sie umso genauer, je besser die Werbung (durch Spionage optimiert) zu seinen Wünschen passt. Tendenziell bezahlt somit jeder Nutzer genau seine Portalnutzung, er findet sie in den Preisen für die Produkte, die er auf Grund der Werbung kauft.

In letzter Konsequenz wäre eine neue Moral zu befürchten, bei der derjenige sich zu rechtfertigen hätte, der sich diesen Kaufvorschlägen der Systeme verweigert, weil er damit sozusagen das Portal parasitär auf Kosten der anderen Nutzer verwendet. Schon heute kann man in Netzdiskussionen Entrüstung über diejenigen lesen, die Werbeblocker in ihren Browsern aktiviert haben.

Zu erwarten wäre auch, dass die Moral des Netzes auf die Moralvorstellungen im Alltag ausstrahlen, Voyeurismus und Spionage also auch außerhalb des Netzes toleriert werden und nicht Bestrafung der Übeltäter, sondern besserer Selbstschutz der Betroffenen erwartet wird.

Was ist zu tun? Ist die normative Kraft des Faktischen nicht längst übermächtig? Nein, denn die Benutzer sind und bleiben die Konsumenten, die mit ihrer Nutzungsentscheidung jeden Anbieter zu moralischem Verhalten zwingen können.

Was sich entwickeln muss, ist ein Verständnis dafür, was moralisch im Netz gerade passiert und ob das mit unseren gewachsenen Moralvorstellungen zusammenpasst. Mancher Netzaktivist mag lächeln, weil er alles, was "gewachsen" ist, tendenziell für "überholt" und "altmodisch" hält, Ballast, den man in der schönen neuen Welt über Bord werfen sollte.

Damit machen wir es aber den Anbietern unnötig leicht. Die Kreativität, Lösungen zu entwickeln, die sich mit unseren moralischen Vorstellungen überein bringen lassen, sollten wir ihnen schon zutrauen, wir müssen es nur verlangen.