Hackerevents statt Ausschreibungen

Wie Anke Domscheit-Berg als Stadträtin für Friedrichshain und Kreuzberg die Verwaltung revolutionieren will

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die Open-Government-Aktivistin Anke Domscheit-Berg wurde von der Piratenpartei gefragt, ob sie eine Nominierung als Stadträtin im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg annehmen würde und akzeptierte das Angebot. Ob sie tatsächlich nominiert wird, entscheidet die örtliche Mitgliederversammlung, der mehrere Kandidaten zur Auswahl stehen.

Frau Domscheit-Berg - Sie werden möglicherweise von der Piratenpartei als Bezirksstadträtin für Friedrichshain und Kreuzberg nominiert. Wie kam es zu diesem überraschenden Angebot? Sie sind ja nicht bei der Piratenpartei, sondern bei den Grünen.

Anke Domscheit-Berg: Das können die Piraten natürlich am besten selbst beantworten. In Vorgesprächen wurde Bezug darauf genommen, dass sich die Piraten gern mit dem Fokus Open Government und Bürgerbeteiligung positionieren wollen. Sie wünschten sich daher wohl Kandidaten, die in diesem Bereich kompetent sind, aber auch Sachkompetenz zur Verwaltung und deren Arbeit selbst haben. Ich beschäftige mich seit Jahren sehr intensiv mit dem Thema des offenen Regierens und mein Einsatz dafür ist halt recht bekannt.

Die Piraten sind außerdem auch keine Partei, die strikt nach Parteifarben agiert. Zum Beispiel erlaubt sie eine Parteiendoppelmitgliedschaft, was bei den anderen Parteien per Satzung ausgeschlossen ist. Diese Offenheit, nicht nach Schubladen und Parteibuch zu entscheiden, sondern nach der Sache, hat wohl auch dazu beigetragen, dass ich von den Piraten gebeten wurde, zu kandidieren. Man hat ein Interesse daran, den Job so zu besetzen, dass er ein Erfolg in der Praxis wird - im Sinne der Piraten. Daher scheint Kompetenz hier höher bewertet zu werden, als andere Kriterien.

Nicht zuletzt ist ja zumindest denen, die mich kennen, bekannt, dass meine Überzeugungen und das Parteiprogramm der Piraten sehr viele Überschneidungen haben. Im Bereich Open Government sind wir praktisch deckungsgleich. Wenn ich das Parteiprogramm der Piraten umsetze, setze ich damit auch meine eigenen Überzeugungen um. Entscheiden wird aber die Piratenbasis in Friedrichshain-Kreuzberg, wen sie am Ende nominieren werden. Ich bin ein Fan von Basisdemokratie, das ist ein guter Prozess.

Anke Domscheit-Berg. Foto: Opendata Network / Michael Hörz. Lizenz: CC BY 2.0.

Welchen Zuständigkeitsbereich streben Sie im Falle ihrer Wahl an?

Anke Domscheit-Berg: Ein Muss wäre die Zuständigkeit für Open Government, Transparenz und Bürgerbeteiligung. Wenn diese Aufgaben nicht dabei sind, würde ich das Amt nicht annehmen. Diese Themen machen allerdings (leider noch) keinen Stadtratsposten aus, und gerade in Friedrichshain/Kreuzberg sollen im Rahmen einer Umstrukturierung verschiedene Fachbereiche zusammengelegt werden. Was diese zusätzlichen Bereiche angeht, gibt es natürliche Kandidaten wie "Bürgerdienste und Ordnungsamt", die einfach dazugehören, wenn man sich mit einer offenen Verwaltung auseinandersetzt.

Es gibt aber auch Themen, die ich aufgrund meines fachlichen Hintergrundes besser besetzen könnte, als andere und Themen, die besonders gut zu den Piraten passen. Ich könnte mir sehr gut Bereiche wie Antidiskriminierung vorstellen, mein Engagement für mehr Chancengleichheit ist ja auch bekannt. Aber auch Jugend oder Bildung kämen sicherlich in Frage. Mich beschäftigt schon länger der Umstand, wie sehr sich sozialer Hintergrund auf die Benachteiligung von Kindern in unserem Bildungssystem auswirkt. Ich unterstütze daher seit seinem Bestehen die Initiative Teachfirst Deutschland, bei der Topabsolventen von Universitäten nach dem Abschluss für 2 Jahre an Brennpunktschulen unterrichten. Diese Teachfirst Fellows gibt es auch in Friedrichshain-Kreuzberg. Eine dieser Schulen in Neukölln habe ich vor ein paar Wochen besuchen können und einmal mehr die Überzeugung gewonnen, dass man hier noch viel machen muss - aber auch machen kann!

Nicht zuletzt kann ich mir auch den Bereich Wirtschaft vorstellen, da würde es sicher nicht schaden, 15 Jahre Erfahrung in der Wirtschaft gesammelt und Universitätsabschlüsse in BWL zu haben. Letztlich wird der Zuschnitt aber nicht von mir entschieden. Um damit leben zu können, muss ich mich in den Bereichen kompetent fühlen. Ich will nur das übernehmen, wo ich auch etwas bewegen kann - und dazu muss man Ahnung davon haben.

Was könnten Sie in dieser Position bewegen? Lassen sich auf Bezirksebene Ziele umsetzen, wie Sie sie im Government 2.0 Camp vertreten haben?

Anke Domscheit-Berg: Ich glaube, die größten Potenziale, Open Government in die Praxis umzusetzen, gibt es in den Städten, das habe ich auch schon 2010 geschrieben. Wir haben keine Meinungsführungsschaft auf der Bundesebene - zum Beispiel im Kanzleramt, wie man das in England oder in den USA sieht. Wir brauchen also einen anderen Weg, einen deutschen Sonderweg, wenn man so will. Das schöne an Open Government ist ja gerade, dass digitale Demokratie sich nicht aufhalten lässt. Behindern ja, aber nicht verhindern. Veränderungen gegen eine Mainstreamkultur bekommt man aber viel leichter hin, wenn man im Kleinen und an der Basis anfängt.

Diese Entwicklung gibt es schon in Deutschland, erkennbar an der Berliner Open Data Aktionsplattform - einer Community Public Partnership, die in einer informellen Kooperation zwischen Zivilgesellschaft und Verwaltung in einem Jahr kontinuierlicher Arbeit echte Ergebnisse zustande gebracht hat. In Berlin gibt es durch diese Initiative das erste deutsche Open Data Portal.

Online-Behördengänge statt Nummernziehen

In Stadtstaaten wie Berlin ist die Bezirksebene diejenige, wo die meisten Interaktionen zwischen Bürgern und Bürgerinnen und dem Staat stattfinden. Da sind die Bezirksämter, wo man Nummern ziehen muss und die meisten zuständigen Behörden. Wenn man die Beziehung zwischen Einwohnern und ihrer Verwaltung verändern will, muss man daher genau dort anfangen.

Wer sagt denn, dass Nummernziehen gottgegeben ist? Warum soll man den Status eines Antrages nicht auch online verfolgen können, wie ein DHL-Paket? Wieso muss ich mir eine Meldebescheinigung ausgedruckt persönlich abholen, nur um sie in einer anderer Behörde wieder abzugeben? Wieso kann ich nicht Probleme in der kommunalen Infrastruktur - wie herumliegender Sperrmüll, kaputte Lampen oder Schlaglöcher nicht einfach online und am besten auch per Mobiltelefon melden? - und verfolgen, was aus dem Fall geworden ist? Wieso kann ich nicht einfach und barrierefrei meine Meinung dazu äußern, wofür bezirkliche Gelder eingesetzt werden sollen - ob ein Spielplatz oder ein Parkplatz gebaut wird?

Für diese Herausforderungen gibt es längst Lösungen. Verwaltung muss nicht weiterhin den Ruch preußischer Geschichte haben. Sie kann offen, modern und transparent sein, Bürgern ohne Machtdistanz und auf Augenhöhe begegnen. Bürger und Bürgerinnen sind alle Experten für irgendwas. Diese Kompetenz zu nutzen und dadurch Vorteile für den Stadtbezirk zu bekommen, ist ein Weg, den man in Friedrichshain-Kreuzberg bestimmt einfacher gehen kann, als in anderen Regionen - gerade durch die besondere Zusammensetzung der BVV, aber auch der Einwohner und Einwohnerinnen selbst. Die Vielfalt der Bürger und Bürgerinnen ist einzigartig, die Potenziale, die da schlummern sind sehr groß. Mit den Piraten und ihren Sympathisanten hätte man außerdem Zugang zu IT-Kompetenzen, die man für so einen Umbau zwingend benötigt, für den aber gerade in Berlin keine riesigen Geldtöpfe zur Verfügung stehen. Das macht den Bezirk besonders reizvoll für eine solche Aufgabe.

Ich habe in den letzten beiden Jahren den Random Hacks of Kindness mitorganisiert, der jeweils im Co-Workingspace Betahaus in Kreuzberg stattfand. Beim RHOK treffen sich auf der ganzen Welt Programmierer und Designer zu einem Hackathon, einen Programmiermarathon, um gemeinsam Lösungen zu entwickeln, mit denen NGOs und Behörden leichter humanitäre Probleme lösen können oder in Desaster- und Notfällen schneller und effektiver Hilfe leisten können. Wenn man Menschen richtig motiviert und sie das Gefühl haben, ihr Engagement ist nicht für die Schublade sondern trägt wirklich dazu bei, etwas zum Besseren zu verändern, dann machen sie auch mit. Der Random Hacks ist dafür ein wunderbares Beispiel.

Open Source Lösungen

Als Stadträtin würde ich diese Form neuer Zusammenarbeit zwischen Verwaltung und Zivilgesellschaft - jenseits verfahrener Feindbilder - stark fördern. Ich würde versuchen, regelmäßig lokale Hackerevents zu organisieren, um schneller gute Lösungen für die bezirkliche Verwaltung zu entwickeln, ohne lange und teure Ausschreibungen. Ich habe schon viel Erfahrung darin und weiß, dass das machbar ist. Diese Lösungen sollten, wie auch beim Random Hacks of Kindness, Open Source sein, damit auch andere Bezirke oder Städte diese Anwendungen nutzen können. Schließlich wollen wir Friedrichshain-Kreuzberg zu einem Vorreiterstandort hinsichtlich Open Government ausbauen aber nicht zum Selbstzweck sondern um einen Prozess in ganz Deutschland voranzutreiben. Was bei uns geht, das soll auch überall anders gehen können. Damit würde man vielen Argumenten den Boden entziehen, wenn Bedenkenträger sagen "dies geht nicht" oder "jenes geht nicht". Wir könnten Präzedenzfälle schaffen in Kreuzberg, die ein Motor sein können und die zeigen, was alles geht - wenn man wirklich will und die Unterstützung der Menschen vor Ort hat.

Ein weiterer Schritt wäre die Schaffung von Transparenz, angefangen von der Arbeit der BVV und Stadtverwaltung selbst bis hin zur Öffnung der Daten in öffentlicher Hand. Da es ein Berliner Open Data Portal schon gibt, kann man hier aufsetzen und sich im Bezirk auf die Suche machen nach Daten, die dort in der Verwaltung vergraben sind und diese Schätze heben - also auf dem Berliner Portal zugänglich machen. Mit diesen Schwerpunkten hätten wir die Möglichkeit, alle drei Bereiche des Open Government (Transparenz, Kollaboration und Partizipation) exemplarisch umzusetzen, wie ich das in meinen Artikel "Das Einmaleins des Open Governments" geschildert habe.

Als Teilnehmerin am Netzdialog hatten Sie bereits Arbeitskontakt zu eher weniger technikaffinen Politikern anderer Parteien. Lässt sich mit drei Grünen und einem Sozialdemokraten im Bezirksamt vernünftige Politik machen?

Anke Domscheit-Berg: Der Netzdialog war in der Tat ein Erlebnis der anderen Art, den ich in meinem Bericht ja auch sehr kritisch beschrieben habe - trotz meines Jobs bei Microsoft zu dieser Zeit. Aber mit Verwaltung beschäftige ich mich beruflich schon seit über 10 Jahren, eine gewisse Technikaversität und Hemmung gegenüber Neuerungen und insbesondere der Öffnung nach außen sind mir also davor auch schon hinreichend begegnet. Wie modern jemand eingestellt ist, hängt jedoch nicht einfach von der zugeordneten Partei ab. Sogar in der CSU gibt es inzwischen moderne Netzpolitiker und Netzpolitikerinnen. Es wird sich zeigen, auf welche Unterstützung man stößt. Ich wüsste aber nicht, warum man die gerade bei den Grünen nicht finden sollte. Auf jeden Fall findet Verwaltung vor allem unterhalb der Stadträte statt. Da kann die Kultur eine ganz andere sein. Es hilft aber auch dann wenig, einfach nur auf die "lahme Verwaltung" zu schimpfen und was sich da alles nicht bewegt. Die Welt ist auch in der Verwaltung nicht schwarz-weiß.

Eine wertvolle Lektion, die ich in diesem letzten Jahrzehnt gelernt habe, ist unter anderem, wie man trotzdem in so einer Kultur Veränderungen erreichen kann: Wie Verwaltungen von innen ticken und wie man sich eine Allianz der Willigen schmieden kann, um Innovationen in die Organisation zu tragen und Widerstände abzubauen. Verwaltungen sind zwar starr und hierarchisch aufgebaut, aber sie funktionieren nicht unbedingt hierarchisch. Wenn die Mittelebene nicht will, dann hat ein Behördenchef schlechte Karten.

Andersherum kann man recht viel erreichen, wenn man Unterstützer in der mittleren Ebene gewinnen kann. Dazu braucht es jedoch auch Sensibilität und Verhandlungsgeschick. Verwaltung funktioniert nach ganz eigenen Mustern, mit der Brechstange erreicht man da nicht viel. Alles geht langsamer als man will und fast immer heißt es, dass das, was man umsetzen will, auf keinen Fall machbar und/oder nicht finanzierbar ist. Da braucht man auch einen langen Atem und manchmal schlicht Fantasie, auf welchem anderen Wege das gleiche dann doch erreichbar sein kann.

Hier habe ich viele Erfahrungen gesammelt, da ich als Beraterin bei Accenture und im Business Technology Office von McKinsey vor allem in Projekten in der öffentlichen Verwaltung gearbeitet habe. Das reichte von der einfachen Prozessanalyse (also: wie funktioniert Verwaltung von innen?) über Reorganisation von Behörden und ihren Aufgaben bis hin zur Entwicklung von IT Strategien für die nächsten 20 Jahre - in einem IT Umfeld, das eher einer Spaghetti-Landschaft ähnelt als einer guten IT-Architektur und in dem für Innovationen sehr wenig Geld da ist. Da muss man kreativ werden, wenn man wirklich Dinge verändern will. Ich habe viele Verwaltungen von innen gesehen, auf allen föderalen Ebenen, in ganz Deutschland - von Mecklenburg Vorpommern über NRW bis hin nach Bayern. Das war ein gutes Training.

Sie haben einen ungewöhnlichen Karrieregang hinter sich und arbeiteten vorher unter anderem bei McKinsey und bei Microsoft. Was haben Sie da genau gemacht?

Anke Domscheit-Berg: Ich war 2 Jahre bei McKinsey und 3 Jahre bei Microsoft, davor 9 Jahre bei Accenture. Bei McKinsey war ich Projektleiterin für IT-Strategieprojekte, vor allem in der öffentlichen Verwaltung. Dort habe ich zum Beispiel mit meinem Team eine Strategie für eine flexiblere IT-Architektur einer großen Bundesbehörde entwickelt. Ich habe schon damals in dieser Behörde Prozesse angelegt, die künftig medienbruchfreie Onlineanträge für Bürger und Bürgerinnen ermöglichen. Ein Teil davon ist schon umgesetzt. Ich habe bei McKinsey aber auch die Studie "A Wake Up Call for Female Leadership in Europe" geleitet, in der wir untersucht haben, welchen Barrieren Frauen auf den Weg in Führungspositionen entgegenstehen und wie man sie abbauen kann.

Bei Microsoft war ich unter anderem zuständig für Kontaktpflege zur Verwaltung und sogenannte Innovative Government Programs. Ich hatte große Gestaltungsspielräume, und so habe ich für mich Open Government dort hinein definiert. Eine meiner Hauptaufgaben war, Zukunftsthemen für die Verwaltung auch extern zu vertreten, unter anderem auf Konferenzen oder anderen fachlichen Veranstaltungen. Ich habe auch häufiger für Fachzeitschriften geschrieben - fast immer über Open Government. Es ging dabei nie um vertriebliche Auftritte sondern um strategische Visionen: was glaube ich, wohin sich die Verwaltung entwickelt oder sich entwickeln sollte, was tut sich im Rest der Welt, was sind erstrebenswerte Visionen? Für Microsoft lag der Mehrwert darin, jemanden zu haben, der für innovatives Gedankengut hoch anerkannt war in der Verwaltung. Ich bin und war nie ein Vertriebsmensch.

Orchidee in der Organisation

Meine Gegenüber waren nicht in der Politik oder Regierung (dafür gab es bei Microsoft einen eigenen Bereich, in dem auch die wirklichen Lobbyisten beschäftigt waren) sondern in den Behörden und Verwaltungen, dort in der Regel die IT-Leiter. Ich habe nie im Bereich Vertrieb oder Business Development gearbeitet. Ich habe direkt an die Leiterin für das Geschäftsfeld Public Sector berichtet, ich war von der Aufgabenzusammensetzung so eine Art Orchidee in der Organisation, nach meiner Kündigung wurde die Stelle nicht wieder besetzt. Mein Anderssein war nicht immer leicht für beide Seiten und nicht immer konfliktfrei. Ich habe auch dort gesagt, wovon ich überzeugt war, im Unternehmen oder auch draußen. Man war nicht gerade begeistert, wenn ich mich kritisch über Regierungsmitglieder wie den Bundesinnenminister äußerte oder über WikiLeaks getwittert habe.

Es gab einiges, das ich an Microsoft sehr geschätzt habe, zum Beispiel den Umstand, dass die Hälfte der deutschen Geschäftsleitung weiblich ist (ich bin ein Fan gemischter Führungsteams) und dass ich eine extreme Freiheit hatte, darin, wann und wo ich arbeite. Das ist in deutschen Unternehmen sehr selten und ermöglicht eine viel bessere Vereinbarkeit, wenn man eine anspruchsvolle Aufgabe hat und trotzdem Familie. Das war für mich wichtig, ich war in der Zeit auch eine Weile alleinerziehend. Da wo ich meinen Laptop, mein Mobiltelefon und ein WLAN hatte, da war mein Arbeitsplatz. Nach 11 Jahren Unternehmensberatung mit extrem viel Reiserei war das ein Luxus für mich.

In einem Interview von 2009 prophezeiten Sie dem arabischen Raum etwas, das 2011 mit der Facebook-Revolution eingetreten scheint. Könnte es auch einen "deutschen Frühling" geben?

Anke Domscheit-Berg: An die Macht der Veränderung durch gesellschaftliche Bewegung glaube ich schon viel länger - seit dem Mauerfall 1989. Als ich in den Monaten davor nachts Aufrufe für das Neue Forum und Augenzeugenberichte von Polizeiübergriffen abgetippt habe (auf der Schreibmaschine meines Großvaters), als wir Studenten zusammen demonstrierten, in Berlin und anderswo, da hatten wir natürlich Hoffnung auf Veränderung und eine Demokratisierung der DDR. Aber einen Mauerfall? Das hätte sich keiner von uns vorstellen können. Ich jedenfalls nicht.

Am 10. November habe ich dann hinterm Brandenburger Tor mit meiner Mutter auf der Mauer getanzt - und eine Lektion für mein ganzes Leben gelernt: egal wie stabil und mächtig ein System erscheint, es ist erschütterbar und man kann es verändern - wenn man viele ist, sich zusammenschließt und die Angst besiegt. Diese Erfahrung ist für mich ein unerschütterlicher Quell für Optimismus. Auch Kultur kann man verändern. Die breite Unterstützung für die Ziele der Piratenpartei sind ja auch ein deutliches Zeichen dafür, dass wir es keineswegs mit Politikverdrossenheit zu tun haben und das viele Menschen Veränderungen wollen. Auch die Grünen haben ja die Regierung letztlich zum Atomausstieg gezwungen, nachdem die Bevölkerung dahinterstand.

Aber die digitale Gesellschaft ist eine globale Gesellschaft. Das Internet verschiebt Machtverhältnisse für immer - überall gleichermaßen. Das hat den arabischen Frühling sehr stark unterstützt aber auch Bürgerproteste in ganz Europa, in Spanien, Frankreich und England. Oder jetzt aktuell in den USA mit der OccupyWallStreet-Bewegung. Das geht auch an Deutschland nicht langfristig vorbei, insbesondere, wenn sich Verwaltung und Politik nicht von selbst öffnen. Lieschen und Hans Müller können heute Einblicke erhalten in früher geheime Amtsstuben, Wasserverträge liegen auf dem Tisch und jeder kann sich dazu eine Meinung bilden.

Wir können uns leicht und schnell vernetzen und damit auch im realen Leben mobilisieren. Es gibt diese Trennung von Online- und Offline-Gesellschaft ja überhaupt nicht, von der man immer wieder liest. Die Anti-Guttenberg-Demo in Berlin wurde in 5 Stunden über Twitter organisiert, aber demonstriert haben die Menschen auf der Straße. Für meinen Sohn war das eine wunderbare Lehrstunde in Demokratie: erst auf der Straße demonstrieren und eine Woche später ist der Minister zurückgetreten. Das Volk hat ihn gewissermaßen gestürzt, weil trotz Kanzlerinnenunterstützung die durch die Masse zusammengetragenen Beweise für seinen Betrug bei der Erlangung des Doktortitels einfach erdrückend waren. Diese Informationen waren im Guttenplag Wiki für jeden sichtbar und überprüfbar, das konnte man nicht wegargumentieren. Auf VroniPlag wird diese Arbeit fortgeführt. Die vielen Menschen, die dort ihre Freizeit investieren, um Doktorarbeiten zu untersuchen, wollen einfach nur ehrliche Politiker haben und eine saubere Wissenschaft. Mit dem Internet haben sie die Möglichkeit, sich gegen Blender zu wehren - mehr als je zuvor.

Bürger und Bürgerinnen in Deutschland werden auf jeden Fall die Bewegungen in der Welt verfolgen. Wenn schon über 45 Länder der Open Government Partnership beigetreten sind, um gemeinsam mit der Zivilgesellschaft daran zu arbeiten, ihre Verwaltungen zu öffnen, aber Deutschland bleibt draußen - dann wird man sich fragen, warum das so ist. Deshalb werden bei uns sicher keine Barrikaden brennen, aber mehr und mehr Menschen vernetzen sich und wehren sich gegen das, was ihnen nicht gefällt. Ärger ist eine Quelle für Veränderung - wenn man ihn in konstruktive Handlung umwandeln kann. Krisen sind die besten Chancen für Veränderungen - da sind Dinge möglich, die sonst nicht gehen. Krisenmangel haben wir ja gerade nicht in Deutschland. Also stehen die Zeichen gut für eine neue Demokratie - eine offenere, eine echte Bürgerregierung.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.