Kauft alte Bücher!

eBooks sind der letzte Schrei - in Grönland und auf dem Klo untauglich

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Neulich an der Tür: Der analoge Postbote bringt ein Päckchen mit digitalaffinem Inhalt: Ein eBook. Die Augen von Kollege Harald beginnen zu leuchten. Hintergrund: Unser Büro ist tief gespalten. Zwischen den Anhängern der Analog-Partei und den anderen. Kollege Harald gehört oft zu den anderen, was nicht schlecht ist, wenn mal das Internet wieder nicht geht, auf das auch die Analog-Partei-Mitglieder angewiesen sind. Aber: Jetzt also ein eBook. Von der Firma, die nicht Kienzle heißt – von der stammen die Taxiuhren - , grau, etwas mehr als handtellergroß, angeblich sollen die Inhalte von jeder Menge Bücher drin sein: Dostojewskis Schuld und Sühne, Schillers Räuber, Goethe gar.

Wir machen einen Test mit dem eBook, um Vor- und Nachteile gegenüber dem aBook (a wie analog) herauszufinden. So objektiv und neutral wie nur möglich! Die Ergebnisse vorweg: Sie sind erschütternd.

Punkt eins: Das eBook ist weitgehend nicht in der Lage, wie noch das simpelste aBook, Blumenblätter zwischen den Seiten trocken zu pressen. Schlägt man mit dem eBook mehrmals auf die Blätter des Delphinium grandiflorum ein (vulgo: Rittersporn), so bleibt nur ein wenig ansehnlicher Brei zurück.

Punkt zwei: Sie sind zwischen Nuuk und Kangerlussak auf Grönland mit dem Flugzeug abgestützt und haben ein aBook und Streichhölzer dabei. So retten Sie durch ein kleines Feuerchen ihr Leben. Ihr Nachbar mit dem eBook ist schon längst erfroren, es brennt nicht.

Punkt drei: Sie stellen ihr eBook in das ansonsten leere Bücheregal. Es sieht Scheiße aus.

Punkt vier: Sie werfen statt wie üblich mit dem Reclamheftchen "Heidegger Martin: Der Ursprung des Kunstwerkes" mit Ihrem eBook in einer Auseinandersetzung nach dem Partner. Folge: Trennung und langjährige Schadensersatzzahlungen.

Punkt fünf: Edgar Wibeau in Ulrich Plenzdorfs Roman "Die neuen Leiden des jungen W." kommt auf dem Klo nur deshalb in Kontakt mit Goethe, weil das aBook auch auf dem Örtchen zu gebrauchen ist. Kollege Harald verweigerte in dieser Hinsicht übrigens jeden Test.

Punkt sechs: Sie können zwar auch auf dem Bildschirm des eBooks mit einem Filzstift ganze Sätze unterstreichen, es bringt aber nicht wirklich was.

Punkt sieben: Im eBook sind zwar Dostojewski und Schiller drin, wichtige Werke der Weltliteratur wie die gesammelten Reden von Nicolae Ceausescu fehlen jedoch.

So weit so schlecht, aber Spaß beiseite. "Jenseits der Bilder" lautet der Titel des Hauptwerkes von Régis Debray. Der war einst Weggenosse Che Gueveras und Berater des sozialistischen Präsidenten François Mitterrand und ist heute Professor in Lyon. Debray – und hier der Bogen zum eBook - ist der Begründer der Mediologie, einer französischen Version jener Theorieansätze, die das Materielle der Medien als von Bedeutung ansehen und in den Mittelpunkt der Betrachtung stellen. Debray steht damit in der Tradition des bekannten Marshall McLuhan und der weniger bekannten Theoretiker Harold Adam Innis oder Joshua Meyrowitz.

Sie alle thematisieren, wie die materielle Form der Botschaft die Auswirkungen der Botschaft verändern kann. Gerne genommenes Beispiel: Die Bibel als handschriftliche Kopie war nur dem Klerus zugänglich. Als gedrucktes Massenprodukt aber auch den Gebildeten und mit dem Wissensmonopol der Kirche war es vorbei. Für Luther führt der Weg zu Gott nicht mehr über den Umweg des Geistlichen, jetzt kann das Wort Gottes jeder selbst lesen. Debray geht nun vom Bild aus und untersucht die Wechselwirkung zwischen materieller Beschaffenheit, Auswirkung und Funktion des Mediums. Seine These: Ändert sich eine der drei Seiten dieses Referenzzusammenhangs, ändern sich auch die anderen.

In diesem Sinne wäre zu fragen, was es denn bedeutet, dass Dostojewskis mit Federkiel geschriebenes Werk nun auf dem eBook zu rezipieren ist. Diese Frage ist auch deshalb interessant, weil sich damit der Seinsgrund unzähliger Seminare, Abschlussarbeiten und gar Lehrstühle bilden lässt. Dies auch auf Dauer, denn wie die bisherige Medienforschung zeigt, sind Fragen hinsichtlich der gesellschaftlichen Auswirkung von neuen Medien kausalanalytisch angesichts der unübersehbaren Zahl an Variablen kaum zu beantworten. Manchmal geben hier kulturkritische Betrachtungen wie seinerzeit beim Aufkommen des Fernsehens von Paolo Pasolini in den "Freibeuterschriften" mehr Hinweise als empirische Studien auf der Suche nach Effekten, die sich, wenn überhaupt, nur durch Langzeitbeobachtung feststellen lassen.

Was aber bedeutet also nun das Auftauchen der eBooks? Es bedeutet: "Leute, kauft alte Bücher!" und vergesst die Goldanlage. Denn wir stehen an einer Zeitenwende von Analog zu Digital und in einer nicht zu fernen Zukunft werden die Artefakte aus dem analogen Zeitalter wertvoller sein als Edelmetall - und eBooks dann so gewöhnlich sein, dass sie alt aussehen.