Was ist (heute) Aufklärung?

Zur Aufklärung gehört auch, kritische Fragen an die Wissenschaft zu richten

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Man muss kein Anhänger der Homöopathie oder einer anderen alternativmedizinischen Methode sein um einem "Recht auf wissenschaftliche Medizin" wie Anatol Stefanowitsch es einfordert, skeptisch gegenüber zu stehen. Wenn nämlich Stefanowitsch gleich zu Beginn seines Textes über die "unerwartete Unterstützung" der Alternativmedizin von der Seite der Philosophie klagt (Der aufgeklärte Patient und das Recht auf wissenschaftliche Medizin), die ihm als "Geisteswissenschaftler peinlich" ist, und am Schluss meint, ein "genuin philosophisches Argument" anzuführen und sich dann ausgerechnet auf die Aufklärung beruft, dann ist eine philosophische Antwort nötig, auch wenn die Gefahr besteht, dass diese als Verteidigung der Alternativmedizin missverstanden wird.

Die ersten Sätze des Textes "Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?" von Immanuel Kant werden oft zitiert, aber – auch wenn sie sehr klar sind – merkwürdigerweise selten verstanden. Mit diesen Sätzen fordert Kant jeden Menschen auf, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, und zwar ohne die Leitung eines anderen. Diese Forderung gilt ganz allgemein für jedermann, und es ist insbesondere und im ganzen Text nicht gesagt, was denn als Verstand zu gelten habe. Nirgends steht, dass die wissenschaftliche Vernunft der Alltagsvernunft, der persönlichen Erfahrung oder dem Bauchgefühl vorzuziehen sei. Wichtig ist allein, dass man sich seiner eigenen Vernunft bedient, dass man selbst "räsoniert" wie Kant schreibt, d.h. also, dass man über seine eigenen Überzeugungen selbst reflektiert.

Ist Anatol Stefanowitsch ein aufgeklärter Mensch, ist er ein Aufklärer? Wenigstens ist davon in seinem Text nichts zu spüren. Da ist nirgends ein kritisches Hinterfragen der eigenen Überzeugungen zu finden. Dabei sind seine Annahmen sehr voraussetzungsreich und problematisch. So lässt er nur ganz bestimmte Verfahren, sogenannte klinische Studien, als Nachweis für die Wirksamkeit einer Behandlungsmethode gelten. Stefanowitsch schreibt dabei selbst, dass er kein medizinischer Experte ist, er glaubt und vertraut diesen Experten offenbar (was völlig in Ordnung ist), aber er reflektiert nicht über die Voraussetzungen dieses Vertrauens, welches ja zunächst gerade nicht von der "Benutzung des eigenen Verstandes ohne Leitung eines Anderen" zeugt. Dabei ist der Einsatz klinischer Studien für die Rechtfertigung medizinischer Behandlungen zwar erfolgreich, aber deshalb trotzdem des Nachfragens würdig, also ein willkommener Gegenstand der aufklärerischen Reflexion. Ein Beispiel soll das verdeutlichen.

Die Eier-Kocher im Wettbewerb

Stellen wir uns drei Eierkocher vor. Stephano hat durch statistische Untersuchungen festgestellt, dass die Wahrscheinlichkeit, ein ideales weiches Ei zu kochen, bei einer Kochzeit von 4,5 min am größten ist. So kocht er also jedes Ei exakt 4,5 min. Die meisten Eier gelingen ganz gut, manche sind zu hart, manche zu weich.

Der zweite, Hanno, lässt sich von jedem Ei die Herkunft berichten, er begutachtet die Schale, wiegt das Ei in der Hand, schüttelt und klopft ein wenig und gibt es dann ins Wasser, um es nach einer gewissen Zeit wieder heraus zu holen. Er besitzt keine Uhr. Vom Geschmack seiner Eier werden wahre Wundergeschichten erzählt, auch wenn man hin und wieder hört, dass manchmal auch ein Ei zu hart oder zu weich gewesen sein soll.

Der dritte, Simplizio, hat einen großen Topf in dem er immer Eier im kochenden Wasser hält. Wenn jemand ein Ei essen möchte, bekommt er irgendein Ei aus dem Topf. Die Leute schätzen an ihm, dass man nicht warten muss, und wenn die richtige Menge Menschen bei ihm Eier bestellt, ist ziemlich oft sogar ein weiches Ei dabei.

Stephano ärgert, dass Hanno so verehrt wird, also fordert er ihn zu einem objektiven Vergleich heraus. Den hat er mit Simplizio schon gemacht und er nennt ihn "klinischen Test". Gegen Simplizio hat er haushoch gewonnen, Hanno aber weigert sich, die Testbedingungen anzuerkennen, er behauptet, im klinischen Test könne er eben nicht so individuell jedes einzelne Ei betrachten, eine "doppelt verblindete Plazebokontrollierte Studie" würde nicht mit seiner Arbeitsweise vereinbar sein. Er empfiehlt dem Stephano stattdessen, auf seine zwanghafte Uhr zu verzichten und sich lieber mehr mit jedem einzelnen Ei zu beschäftigen, denn kein Ei gleiche dem anderen.

Was ist vernünftig?

Stephano antwortet darauf, dass er den Gerinnungsprozess von Eiweiß wissenschaftlich untersucht und ein Standardmodell der Eierchemie entwickelt habe, aus der sich daraus zweifelsfrei ergebe, dass die Einhaltung einer Kochzeit von exakt 4,5 min für das Standard-Ei zwingend geboten sei. Das sei auch statistisch belegt. Damit sei die Benutzung einer exakten Uhr ausgesprochen vernünftig und alles andere unvernünftig.

Hanno erwidert darauf, vernünftig sei es vielmehr, sich jedes einzelne Ei ganz besonders gut anzusehen und seine Bewegungen beim Kochen zu beobachten. Durch lange Übung und Erfahrung könne man dann gut sehen, wann das Ei seinen idealen Zustand erreicht habe. Vernünftig sei auch sich anzusehen, wessen Kunden mit mehr Begeisterung über die Eierqualität sprechen.

Man sieht, dass die beiden sich nicht einigen können werden und dass es dem Beobachter auch schwer fallen dürfte, hier Partei zu ergreifen. Hanno und Stephano haben ein grundsätzlich verschiedenes Ei-Bild das nicht vereinbar ist. Während Stephano meint, im Wesentlichen sei ein Ei wie das andere und ein mittleres, typisches Ei brauche eben 4,5 min Kochzeit, ist Hanno der Überzeugung, dass es ein mittleres, typisches Ei gar nicht gibt.

Das Menschenbild von praktizierenden Ärzten ähnelt meiner Erfahrung nach dem Ei-Bild Hannos, da sie aber nicht so viel Zeit haben wie er, akzeptieren sie im Praxisalltag, dass die Idee vom Einheitsei ja auch ganz brauchbare Ergebnisse bringt.

Was würde Kant nun den Kunden von Hanno und Stephano empfehlen?

Er würde jedem den Rat geben, seinen eigenen Kopf zu gebrauchen. Dazu gehört, darüber nachzudenken, was die eigenen Ziele sind. Will ich das schnelle Ei für zwischendurch oder will ich das persönliche Ei mit individueller Geschichte? Dazu gehört aber auch, über die Voraussetzungen der beiden Köche nachzudenken. Gibt es das Standard-Ei, und warum funktioniert Stephanos Methode recht gut, auch wenn es das nicht gibt? Und wie sicher bin ich mir eigentlich der Wundergeschichten des Hanno? Kenne ich persönlich jemanden, der ein ideales Ei von ihm gekocht bekommen hat? Wie sind meine eigenen Erfahrungen, wie sind die meiner Freunde und guten Bekannten?

Rationales Handeln, der Gebrauch der eigenen Vernunft, ist nicht nur wissenschaftliche Methode, rational ist auch (und vor allem) aus guten Gründen zu vertrauen und aus eigenen Erfahrungen zu lernen. Niemand kommt ohne diese Form von Rationalität aus, auch nicht Anatol Stefanowitsch, der bekennt, kein medizinischer Experte zu sein: Er vertraut auf die Methoden anderer Wissenschaftler, auf die Anwendbarkeit ihrer Verfahren, die er selbst nicht kennt und durchschaut.

Kant schreibt: "Satzungen und Formeln, diese mechanischen Werkzeuge eines vernünftigen Gebrauchs oder vielmehr Missbrauchs seiner Naturgaben, sind die Fußschellen einer immer währenden Unmündigkeit." Er würde deshalb ein unreflektiertes Vertrauen in die Methoden der Wissenschaft ablehnen, und niemand, der die unkritische Akzeptanz dieser Methode durch Nicht-Wissenschaftler verlangt, hat ein Recht, sich auf die Aufklärung zu berufen.

Kant hat sich in seinem Aufruf zur "Ausgang aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit" zwar auf die Befreiung von kirchlichen Dogmen konzentriert, aber nur, weil dies eben die Aufgabe seiner Tage war: "Ich habe den Hauptpunkt der Aufklärung, …, vorzüglich auf Religionssachen gesetzt: weil in Ansehung der Künste und Wissenschaften unsere Beherrscher kein Interesse haben, den Vormund über ihre Untertanen zu spielen." D.h., für Kant ist völlig klar, dass die Aufklärung, sobald sich in irgendeiner Sache, Religion, Kunst oder Wissenschaft, jemand zum Vormund aufspielen will, dagegen einschreiten muss. Sie tut das durch kritisches Befragen der Voraussetzungen der jeweiligen Form von Rationalität, und dieses Hinterfragen ist in der Tat die Aufgabe der Philosophie. Deshalb darf sich Anatol Stefanowitsch nicht wundern, wenn er heute Philosophen trifft, die kritische Fragen an die Wissenschaften stellen – gerade sie stehen in der Tradition der Aufklärung.