Das Ende der AL-Jazeera-Dekade

Katars Herrscher instrumentalisiert zusehends das einstige arabische Vorzeigemedium

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Seit 15 Jahren revolutioniert der von Katar finanzierte Nachrichtensender Al-Jazeera die Wahrnehmung in und von der Region. Doch seit die Araber selbst revoltieren, schrumpft das Ansehen des Riesen.

Vor gut zwei Wochen schlug die Nachricht ein: Der Generaldirektor Al-Jazeeras tritt zurück. Nach acht Jahren, in denen Wadah Khanfar den 1996 lancierten Sender zur mächtigsten Medienwaffe in der arabischsprachigen Welt gemacht und in denen er Al-Jazeera English sowie die Al-Jazeera Sport-, Dokumentarfilm- und Kinderkanäle eröffnet hatte, befand der Mann, der "on top of the game" war, dass es "genug" und "Zeit für Neues" sei. Zumindest lautete so seine offizielle Erklärung.

Richtungswechsel

So recht abnehmen mag ihm dies keiner. Ein derart einschneidender Personalwechsel aus derart mauen Gründen inmitten des epochalen "Arabischen Frühlings"? Bei einem Sender, der sich nicht nur als Seismograph, sondern gar als Taktmacher der Region versteht?

Schließlich ist es keine neun Monate her, dass Al-Jazeera den Aufständen in Tunesien und Ägypten mit seiner fieberhaften Berichterstattung und der Einholung emotionalisierender Augenzeugenberichte geradezu das "Momentum" verlieh, und sich obendrein - erstmalig - das Lob des westlichen Establishment einholte. "The most consistent television coverage of the protests came from the Qatar-based Al Jazeera English", schwärmte die New York Times im Januar, nach dem Sturz des ägyptischen Diktators Mubarak. Ausgerechnet. Die New York Times, deren Agenda weitgehend mit der Washingtons übereinstimmt und die infolgedessen alles, was dem Wohle Israels abträglich sein könnte, unter "Terror" einreiht und Al-Jazeera jahrelang als "Bin Laden-Sender" verschrie.

Tatsächlich war der Sender seit 1996 eine andere, als die vom westlichen Establishment vorgegebene Linie gefahren. Vor allem während der Bush-Ära führte er beinahe genüsslich die Heuchelei westlicher Außenpolitik vor und über die israelische Besatzung in Palästina berichtete er traditionell mit einer Verve, die Millionen Arabern aus dem Herzen sprach. Damit setzte sich Al-Jazeera vom nachgerade peinlichen, US-finanzierten Al-Hurra, aber auch von dem subtiler agierenden, saudisch finanzierten Al-Arabiya ab.

Konzessionen gegenüber den USA?

Nun aber der Rücktritt des Mannes, der Al-Jazeera wesentlich zu all dem gemacht hatte. Dem vorausgegangen war eine WikiLeaks-Enthüllung, derzufolge Wadah Khanfar 2005 in Doha Mitarbeiter der US-Botschaft getroffen haben soll, denen er (mehr oder minder klar) zugesichert haben soll, Inhalte von der Al-Jazeera Webseite zu nehmen, die die damalige US-Administration als "disturbing" empfand.

Zu einer Zeit also, da die Irak-Berichterstattung auf ihrem Höhepunkt und der "Schurkenstaat" Syrien im Visier George W. Bushs standen. Das freilich ist peinlich und, wie behauptet wird, der wahre Grund für Khanfars Abtritt. Bewiesen ist allerdings nichts und noch jagen die Richtigstellungen einander.

Andererseits wäre es durchaus vorstellbar, dass der Leiter Al-Jazeeras eingeknickt ist, und zwar auf Geheiß oder zumindest mit Rückendeckung seines Arbeitgebers in Katar. Denn, wenngleich Al-Jazeera der Nimbus des "unabhängigen" Journalismus anhaftet, besteht kein Zweifel daran, dass Katars Emir das letzte Wort hat. Seit Sheikh Hamad bin Khalifa Al-Thani an der Macht ist, laviert er durchaus geschickt zwischen den Fronten umher.

So beherbergt er mit der Al-Udeid Air Base einen der wichtigsten Stützpunkte für australische, britische und US-amerikanische Truppen in der Region, flirtet aber zeitgleich mit der libanesischen Hizbollah und dem Iran. Einem von WikiLeaks veröffentlichten Protokoll zufolge, war dies für Bahrains König Anlass, sich 2010 gegenüber der US-Botschaft in Manama zu beklagen. Wörtlich bat der König die USA darum, ihm beim "Management" von Katar zu helfen.

Die USA sollen Katar "managen"

Al-Thani liess sich offenkundig managen und instrumentalisierte Al-Jazeera entsprechend. Überdeutlich wurde dies mit Ausbruch der "Arabellions". Nach Tunesien und Ägypten lautete der einzige Sendeinhalt "Libyen". Kein Wunder, unterstützte doch Al-Thani die Rebellen mit Geld, Waffen und Treibstoff. Demgegenüber wurde die bahrainische Revolte laut vernachlässigt, erfolgte sie doch in einem Land, das wie Katar Mitglied im Golfkooperationsrat ist.

Der Gipfel journalistischer Schamlosigkeit wurde schließlich im Falle Syriens erklommen. Noch die ersten Wochen des dortigen Auftandes zogen an Al-Jazeera bis zu dem Punkt vorbei, dass wütende syrische Demonstranten in Sprechchören riefen: "Al-Jazeera, Al-Jazeera. Wo bist du?" Im April drehte sich das Fähnchen abrupt: Plötzlich wurden rund um die Uhr syrische Protestvideos gesendet (mitunter machte sich der arabischsprachige Kanal nicht einmal die Mühe, Zeit und Ort des Geschehens zu recherchieren, sondern übernahm schlicht das Gefilmte von den Demonstranten).

Den Grund für die 180-Grad Wende des Senders erklärte die libanesische Tageszeitung As-Safir am 7. September damit, dass Al-Thani die Hilfe des syrischen Diktators Assads bei Ghadaffis Sturz gesucht habe. Die Araber sollten im ölreichen Libyen nicht denselben Fehler wie im Irak begehen und sich die Ölressourcen entgehen lassen, indem sie nicht auf den US-amerikanischen Zug aufspringen. Assad habe jedoch kategorisch abgelehnt, woraufhin Al-Thani Al-Jazeera grünes Licht zur Berichterstattung über Syriens Revolte gegeben habe.

Der neue Boss: ein Verwandter des Herrschers

Ob und inwieweit dies zutrifft, sei dahingestellt. Klar aber ist, dass nicht nur die Ölreserven des Mittleren Ostens auf dem Spiel stehen. Auch die Potentaten der so stabil wirkenden Golfstaaten machen ihr Kalkül und der Medienriese Al-Jazeera kann zu dessen Resultat entscheidend beitragen. Al-Thani will offenkundig sicher gehen: Der neue Chef von Al-Jazeera heisst Sheikh Ahmed bin Jassim Al-Thani. Anders als Wadah Khanfar ist er kein Journalist. Aber ein Mitglied der Al-Thani Regentenfamilie.