Radioastronomische Polygamie auf 5000 Meter Höhe

Bild: ESO/José Francisco Salgado

ALMA, die weltbeste Radioteleskop-Phalanx in spe, nimmt operativen wissenschaftlichen Betrieb auf

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Seit einigen Tagen erstrahlt eine weitere Interferometer-Schüsselanlage in majestätischer Anmut und ästhetischer Schönheit. Vor einer Woche hat sich das 5000 Meter über den Meeresspiegel gelegene Atacama Large Millimeter Array (ALMA) ins Stammbuch der extrem leistungsfähigen Radioteleskope eingetragen. Obwohl noch in der Aufbauphase, feierte ALMA zwischenzeitlich sein First Light und markierte den Beginn einer vielleicht 50 Jahre währenden Mission. Wenn die 66 Radioteleskope in zwei Jahren zusammengeschaltet auf Empfang gehen, steht den Forschern im Millimeter- und Submillimeterbereich das beste Radioteleskop aller Zeiten zur Verfügung. Es soll sogar ein zehnmal besseres Auflösungsvermögen als das Hubble-Weltraumteleskop haben. Sensationelle Entdeckungen sind programmiert.

Der Trick ist einfach wie genial. Man nehme zwei oder mehrere Radioteleskope, die als Solisten ungeachtet ihrer teils enormen Größe bekanntlich nur ein begrenztes Auflösungsvermögen haben, und vereheliche diese. Man vertraue dabei dem Umstand, dass es zwischen den miteinander verkuppelten und verkoppelten Radioteleskopen wirklich funkt und diese in der Tat auf gleicher Wellenlänge liegen.

Eine derart gesittete Massenhochzeit würde zwangsläufig zu bahnbrechenden wissenschaftlichen Entdeckungen führen. Denn wer der technischen Monogamie abschwört und der radioastronomischen Polygamie frönt, ebnet im Radiowellenbereich den Weg zu den Sternen und öffnet das Tor zu neuen Erkenntnissen.

Blick auf das Chajnantor Plateau. Bild: ALMA (ESO/NAOJ/NRAO)/W. Garnier (ALMA)

Vermählt bis zur Goldenen

Dieser Philosophie folgten internationale Wissenschaftler mit dem ALMA-Interferometer-Teleskop, das Anfang dieser Woche offiziell eingeweiht wurde und das zeitgleich den wissenschaftlichen Betrieb aufnahm. Derweil haben 22 Teleskope den Sprung in die Ehe geschafft und sind seither arbeitstechnisch voll belastbar. In zwei Jahren stoßen die restlichen heiratswilligen Kandidaten, 44 an der Zahl, hinzu. Spätestens dann sollen alle miteinander vermählt und zu einer Einheit verschmolzen sein.

Angedacht ist ein langjähriger Bund fürs Leben, der bis zu 50 Jahre währen und im Idealfall in eine Goldene Hochzeit münden könnte. Zumindest für diesen Zeitraum können die Alma-Betreiber mit Erlaubnis der chilenischen Regierung das 10 Quadratkilometer große Areal in der Atacamawüste zu Forschungszwecken nutzen. Als Gegenleistung für den Pachtvertrag verlangt Santiago "nur" zehn Prozent der Beobachtungszeit - nicht mehr oder weniger.

Hubble-Aufnahme der Antennengalaxie. Bild: NASA, ESA, and the Hubble Heritage Team (STScI/AURA)-ESA/Hubble Collaboration

Keine dicke Luft

Nichts soll die sensiblen Teleskope je entzweien. Selbst die geografische Gegebenheit, dass die feinfühlige Anlage ausgerechnet in einem der trockensten Gebiete der Erde Wurzeln geschlagen hat, schadet dem Verhältnis der Verbundsantennen nicht. Ebenso wenig stört die klimatische Tatsache, dass 5000 Meter über dem Meeresspiegel dicke Luft herrschen könnte, weil die Luft dort bekanntlich sehr dünn ist.

Dass ALMA in Gefilden operiert, wo bislang nur wenige Observatorien der Welt jemals vorgedrungen sind - nur das einige Kilometer entfernte Tokyo Atacama Observatory (TAO) liegt noch höher (5640 Meter) - geschieht aus gutem Grund. Einerseits ist die Luft hier oben sehr trocken, was den Empfang von Radiowellen begünstigt, andererseits weichen die Forscher auf diese Weise dem in den unteren Luftschichten reichhaltig vorhandenen Wasserdampf aus, der die kosmische Radiostrahlung im Millimeter- und Submillimeterbereich mit Vorliebe blockiert. Kein Wunder also, dass Astronomen ihre Instrumente vorzugsweise auf hochgelegene, trockene Standorte abstellen.

Hochzeitsfoto und Reaktionen

Dass der ALMA-Interferometer sich auch abseits der Zivilisation wohlfühlt, belegt das von ihm selbst geschossene erste "Hochzeitsfoto", auf dem gleichwohl ein anderes Paar zu sehen ist: die beiden im Sternbild Rabe beheimateten und miteinander kollidierenden Antennengalaxien NGC 4038 und NGC 4039.

Das Hochzeitfoto von ALMA. Bild: ALMA (ESO/NAOJ/NRAO)

Obwohl für das First Light nur 12 Schüsseln verkuppelt wurden, die zudem alle nur 125 Meter voneinander entfernt standen, gelang ALMA dennoch das bislang beste Astro-Bild, das jemals im Submillimeter-Bereich von dem rund 75 Millionen Lichtjahren entfernten galaktischen Duo aufgenommen wurde.

Schon jetzt schwärmen die nicht ganz unbefangenen Forscher von dem Leistungsvermögen ihres Babys. "Bereits in dieser frühen Phase operiert ALMA effektiver als alle anderen Submillimeter-Teleskope. Dass dieser bedeutende Meilenstein erreicht wurde, geht auf den beeindruckenden Einsatz der vielen Wissenschaftler und Ingenieure der ALMA-Partner auf der ganzen Welt zurück", erklärt der Generaldirektor der Europäischen Südsternwarte ESO, Tim de Zeeuw, sichtlich voller Stolz.

Professor Tim de Zeeuw fungiert seit September 2007 als Generaldirektor der ESO. Bild: ESO

Noch pathetischer klingen die Worte von Thijs de Graauw, der als Direktor von ALMA fungiert. "Wir erleben einen historischen Augenblick in der Geschichte der Astronomie, der Wissenschaft, und vielleicht sogar für die Entwicklung der Menschheit, jetzt wo wir das größte momentan im Bau befindliche Observatorium in Betrieb nehmen."

ALMA und VLT (rechts->sichtbares Licht) im Vergleich. Bild: ALMA (ESO/NAOJ/NRAO). Visible light image: ESO/Alberto Milani.

Steckbrief von ALMA

ALMA besteht aus einem Verbund von 66 transportablen Radioteleskopen, die Radiostrahlung im Wellenlängenbereich von 0,3 bis 9,6 Millimetern auffangen und bündeln. Das Interferometer besteht genauer gesagt aus 50 Antennen mit einem Schüsseldurchmesser von jeweils 12 Meter, das wie eine einzige Riesenantenne funktionieren soll.

Zusätzlich werden weitere vier 12-Meter- und zwölf 7-Meter-Antennen als kompaktes Netzwerk eingebunden. Die Positionen der einzelnen Schüsseln lassen sich je nach Bedarf und Beobachtungsziel auf Abstände zwischen 150 Metern und 16 Kilometern variieren.

Very Large Array - bestens bekannt durch den Film "Contact" mit Jodie Foster. Bild: Dave Finley

Bei alledem erreicht ALMA eine enorme Auflösung: Das Interferometer übertrifft die Schärfe des "Very Large Array" (VLA) um den Faktor zehn. Dieses in der Nähe von Socorro (US-Bundesstaat New Mexico) ansässige Areal besteht immerhin aus 27 Schüsseln, von denen jede einen Durchmesser von 25 Metern aufweist. Selbst das Auflösungsvermögen des Hubble-Teleskops soll ALMA mit Fertigstellung übertrumpfen - ebenfalls um den Faktor zehn.

Interferometrie-Verfahren

ALMA ist nicht die einzige Schüssel-Armada, die basierend auf dem Prinzip der Interferometrie zusammengeschaltet wird und auf diese Weise eine deutlich verbesserte Auflösung erzielt. Schon seit vielen Jahren nutzen andere Anlagen den Vorteil, eingehende Daten im Verbund mit zahlreichen Antennen computergestützt zu überlagern und zu speichern.

Dieses Falschfarbenbild der Antennengalaxien ist eine Komposition von einer ALMA- und Hubble-Aufnahme. Bild: ALMA (ESO/NAOJ/NRAO). Visible light image: the NASA/ESA Hubble Space Telescope

So etwa das die USA durchziehende Netzwerk "Very Long Baseline Array" (VLBA), in das zehn Radioteleskope mit je 25 Meter Durchmesser eingebunden sind. Es umspannt mehr als 8000 Kilometer vom Mauna-Kea-Observatorium auf Hawaii über Brewster im Staat Washington bis zu St. Croix auf den Virgin Islands. Dank der kombinierten Antennen lässt sich ein virtueller Schüssel-Durchmesser von mehreren tausend Kilometern erreichen, wodurch sich die Auflösung des Teleskops enorm erhöht.

Blitzschneller Computer

Umgesetzt wird das Interferometrie-Verfahren in der Radioastronomie durch elektrische Kabel, die direkt auch Kilometer weit voneinander entfernte Radioteleskope verbinden - oder die Beobachtungen einzelner Radioobservatorien werden mit genauen Positions- und Zeitangaben versehen im Computer durch entsprechende Simulationen und Abstimmungen zur Interferenz gebracht. In jedem Fall bringt letztlich ein Empfänger, der sogenannte Korrelator, die verschiedenen Signale zusammen und der Computer errechnet die Überlagerung.

Die Qualität der Aufnahmen eines interferometrischen Teleskops wie ALMA hängt sowohl von der Anzahl der Einzelantennen als auch von ihren Abständen zueinander ab. Größere Abstände bedeuten, dass schärfere Abbildungen erzeugt werden können, und je mehr Antennen zusammengeschaltet werden, desto mehr Details werden erkennbar. Bild: ALMA (ESO/NAOJ/NRAO)/W. Garnier (ALMA)

Bei ALMA werden die von jeder einzelnen Antenne eingesammelten Bit und Bytes über ein Glasfaserkabel weitergeleitet und mit einem der schnellsten Supercomputer der Welt überlagert und zu einem Gesamtbild verdichtet. Der ALMA-Korrelator ist in der Lage, 17 Billiarden Rechenoperationen pro Sekunde auszuführen.

Wissenschaftliche Ziele

ALMA richtet seine Antennen vornehmlich auf jene Regionen im All, die meist dunkel und undurchlässig für weißes, sichtbares Licht sind, die jedoch im Millimeter- und Submillimeterbereich hell aufleuchten und einen Blick in ihr Inneres erlauben.

So soll ALMA im Grenzbereich zwischen Infrarot- und Radiostrahlung die kältesten Objekte im Universum mit noch nie da gewesener Empfindlichkeit und Auflösung studieren. Hierunter fallen weit entfernte, uralte Galaxien, interstellare Molekülwolken, Gase und auch der Nachhall des Urknalls, der sich in Form von kosmischer Mikrowellen-Hintergrundstrahlung verrät.

Sternbild Rabe. Die Antennengalaxien befinden sich in dem weißmarkierten Feld. Bild: ESO, IAU and Sky & Telescope

Doch auch die Suche nach bewohnbaren Planeten, Wasser und organischen Molekülen steht auf dem Programm. So will Simon Casassus von der Universität Chile mit ALMA die Gas- und Staubscheibe um den 400 Lichtjahre entfernten jungen Stern HD142527 observieren.

Die Staubscheibe um diesen Stern weist eine große Lücke auf, die möglicherweise durch die Entstehung von Riesenplaneten freigeräumt wurde. Außerhalb dieser Lücke enthält die Scheibe genug Material um etwa ein Dutzend jupiterartige Planeten hervorzubringen. Innerhalb der Lücke könnte gerade ein junger Riesenplanet entstehen - falls genug Gas vorhanden ist.

Casassus hofft hierbei, mithilfe von ALMA die Gesamtmenge und den physikalischen Zustand des Gases in der Lücke zu messen und dabei die Geburt von Planeten oder zumindest die unmittelbaren Nachwehen davon zu studieren.

Die Parabolschüsseln haben einen Durchmesser von 12 Meter und sind jeweils 100 Tonnen schwer. Gottlob nicht schwer genug für das auf dem Bild zu sehende massive gelbe Raupenfahrzeug. Bild: ALMA (ESO/NAOJ/NRAO)

Ein völlig anderes Ziel hat der deutsche Astronom Heino Falcke von der Radboud Universität Nijmegen in den Niederlanden vor Augen und später im Fokus:

ALMA wird es uns erlauben, Lichtblitze aus der Umgebung dieses supermassereichen Schwarzen Lochs zu beobachten und Aufnahmen von Gaswolken anzufertigen, die in seinem gewaltigen Gravitationsfeld gefangen sind. So werden wir die ausschweifenden Fressgewohnheiten dieses Monsters studieren können. Wir glauben, dass ein Teil des Gases nahezu mit Lichtgeschwindigkeit aus dem Umfeld des Schwarzen Lochs entkommt.

ALMAs Schicksal

Ungeachtet der widrigen Umweltbedingungen auf 5000 Meter Höhe - die Arbeiter dort müssen infolge der extremen Höhenlage spezielle Sauerstoffmasken tragen - gehen die vor acht Jahren begonnenen Bauarbeiten unermüdlich weiter.

Antenneneinheiten des Square Kilometre Array aus der Vogelperspektive. Ähnlich wie bei ALMA wird das SKA in seinem Frequenzbereich, der sich von 100 Megahertz (drei Meter Wellenlänge) bis 25 Gigahertz (1,2 Zentimeter) erstreckt, auf Jahre hin konkurrenzlos sein. Bild: SKA

Das auf 2900 Meter Höhe einquartierte Datenkontrollzentrum, die Alma Operations Support Facility, das alle gesammelten Bit und Bytes verarbeitet, verwaltet und auch zum Teil auswertet, ist bereits voll funktionsfähig. Von hier werden später einmal die 66 ALMA-Antennen gesteuert und überwacht.

Wenn in zwei Jahren alle 66 Antennen als Einheit fungieren und gemeinsam ein kosmisches Zielgebiet anvisieren, wird ALMA wenigstens eine Zeitlang weltweit die leistungsstärkste Radioteleskop-Armada stellen.

Aber eben nur eine Zeitlang. Denn selbst die besten Teleskope und leistungsstärksten Anlagen, ehemals noch als wundersame technische Errungenschaften gepriesen, fallen irgendwann einmal im Ranking zurück und müssen einem besseren Nachfolger Tribut zollen. Auch ALMA ist vor diesem Schicksal nicht gefeit. Keine technische Errungenschaft ist das.

Informatives Video: ALMA Opens its Eyes

In Höchstauflösung: ALMA-Hubble-Kompositum