Der Geheimagent für besondere Aufgaben

Das abenteuerliche Leben des sagenumwobenen deutschen Schattenmanns Richard Christmann

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Verfolgungsjagden im Kugelhagel, lebensgefährliche Undercover-Einsätze, Gefängnisausbrüche, gewitzte Täuschungsmanöver, orientalische Einsatzgebiete, Intrigen auf höchster Staatsebene, Sprengstoffanschläge - und unzählige Frauengeschichten ... Hochintelligente Geheimagenten für besondere Einsätze mit derartig abenteuerhafter Agenda, die fünf Sprachen sprechen, Sportwagen fahren und Maßanzüge zu tragen verstehen, erwartet man eigentlich nur im Kino.

Ironischerweise wurden einige der zahlreichen höchst realen Aktionen des deutschen Doppelagenten Richard Christmann sogar zu Lebzeiten verfilmt (London ruft Nordpol (1958), Schlacht um Algier (1966) Die Brücke von Arnheim (1977)). Nun liegt erstmals eine wissenschaftlich abgesicherte Biographie des sagenumwobenen Schattenmannes vor, die neben dem abenteuerlichen Leben des Richard Christmann auch politisch brisant ist: Sie widerlegt die sorgfältig gepflegte Legende, der BND betreibe lediglich beobachtend Spionage. Christmann war ein Mann der Tat, der aktiv Subversion betrieb und sich in fremde Regierungsangelegenheiten einmischte.

Ausgerechnet der schärfste Kritiker des Bundesnachrichtendienstes, Erich Schmidt-Eenboom, portraitiert gemeinsam mit dem Politikwissenschaftler Matthias Ritzi einen deutschen Meisterspion, dessen Qualitäten dem vielgescholtenen deutschen Geheimdienst beinahe schmeicheln. Das an Adrenalin und Testosteron reichhaltige Leben des Draufgängers taugt wegen seiner Dienstherren, die sich im Schatten des Dritten Reiches bewegten, nur bedingt zur Heldensaga.

Christmann unterwanderte zu Beginn des Zweiten Weltkriegs undercover den französischen Geheimdienst, sabotierte dann den französischen und niederländischen Widerstand und täuschte trickreich den britischen Geheimdienst. Nach dem Krieg schmuggelte er Propagandamaterial in das damalige Saar-Protektorat und organisierte die westdeutschen Beziehungen zu Tunesien, wo er Adenauers geheimen Krieg gegen Frankreich führte. Trotz der moralische Vorbehalte kann man sich der Faszination von diesem nervenstarken Spion, der in der Geheimdienstwelt fachlich Beeindruckendes geleistet hat, nur schwer entziehen. Die Forscher, die Christmanns Aufzeichnungen besitzen, konnten insbesondere sämtliche Meldungen Christmanns an den BND mit freigegebenen Akten oder sonstigen Dokumenten abgleichen.

Fremdenlegion

Der Mann, der später unter vielen Tarnnamen Geheimdienstgeschichte schrieb, wurde 1905 bei Metz als Richard Christmann geboren. Seine Herkunft bescherte ihm nicht nur exzellente Kenntnis der französischen Sprache und Mentalität, sondern aufgrund von Querelen um seine Staatsbürgerschaft eine umstrittene Zwangseinweisung in die Fremdenlegion. Während des Ersten Weltkriegs war die deutsche Familie nach Osnabrück gezogen, so dass der Abiturient den französischen Behörden mal als Deserteur, mal als deutscher Spion erschien und man ihn pragmatisch in die legendäre Einheit für Nichtfranzosen zwang. Ironischerweise wurde er genau hierdurch tatsächlich zum Deserteur und Spion.

In den französischen Kolonien unternahm Christmann diverse Fluchtversuche, die häufige Inhaftierung härtete ihn auch insoweit ab. Trotz seiner Desertierungsversuche erhielt er während seiner sechsjährigen Zeit in der Fremdenlegion Auszeichnungen für Tapferkeit und Schießkünste. Christmann wurde u.a. in Tunesien eingesetzt, wo er Kontakte in die arabische Welt knüpfte, die ihm mehrfach nutzen sollten.

Nachdem er die Legion 1932 verließ, schlug er sich u.a. in Frankreich als Übersetzer durch und erlernte den Beruf des Versicherungsmathematikers und dann des Ingenieurs. In diese Zeit fielen etliche Frauengeschichten inklusive eifersüchtigen Rivalinnen. Eine Ex-Frau denunzierte ihn später der Spionage und Subversion, was sich zwar als falsch erwies, dem Deutschen jedoch langfristige Aufmerksamkeit der Behörden einbrachte, die ihn immer wieder gängelten und schließlich auswiesen.

Nicht weniger aufmerksam beäugte ihn die Gestapo in Osnabrück und Münster, die alle Ex-Fremdenlegionäre erfasste und systematisch vernahm. Christmann fand Arbeit an einem Hochofen und musste wie die ganze Belegschaft einer SA-Einheit beitreten. Zwar hatte er einen erfolglosen Antrag auf Mitgliedschaft in der NSdAP gestellt, ein glühender Nazi scheint Christmann eher nicht gewesen zu sein.

Doppelagent

1939 fiel Christmann den Militärs wegen seinen bei einer Musterung angegebenen Sprachkenntnissen in Französisch, Englisch, Niederländisch und etwas Arabisch auf. Die Außenstelle Münster des OKW-Amtes Ausland/Abwehr warb ihn an und gewann ihn für eine tolldreiste Undercover-Operation: Christmann täuschte vor, aus Deutschland zu desertieren, und "flüchtete" in die Niederlande. Beim nächtlichen Grenzübertritt geriet er sogar unter echtes deutsches Feuer. Dort diente er sich in der Botschaft dem französischen Geheimdienst "Deuxième Bureau" an. Mit Tarnidentitäten ausgestattet, spionierte der Doppelagent u.a. in Hamburg, wo er vom Hamburger Michel aus getarnte Flak-Stellungen erspähte, gewitzt mit Telefonbüchern militärische Einrichtungen identifizierte und etliche Kneipengespräche belauschte.

Die deutschen Geheimdienste waren entsetzt, wie einfach es für einen französischen Agenten war, militärische Informationen auszuspähen, mussten jedoch zur Tarnung in den sauren Apfel beißen und Spielmaterial freigeben. Etliche Schwachstellen wurden aufgrund Christmanns Expertise für die Zukunft abgestellt. Auch der französische Geheimdienst war von seiner Spitzenkraft begeistert und bildete Christmann in Funk- und Chiffriertechnik aus.

Christmann wurde schließlich dem Abwehr-Mann Herrman J. Giskes unterstellt. Nach dem deutschen Einfall in den Niederlanden und Frankreich folgte er Giskes ins ihm vertraute Paris, wo Christmann konspirativ lebte und ein Netz von 50 Spitzeln aufbaute. Abwehr-Chef Admiral Canaris persönlich besuchte den erfolgreichen Spion, von dem man in Berlin viel gehört hatte. Der Spion mischte beim Pariser Schwarzmarkt mit und war sogar an einem Bordell beteiligt, während er privat nie Mangel an Frauen hatte. Der eigentliche politische Auftrag des in den Kolonien gedienten Ex-Fremdenlegionärs bestand in Paris in der Kontaktpflege zu den dortigen Arabern, die als loyale Partner gegen die Franzosen sowohl in Frankreich als auch in Tunesien und Algerien gefragt waren.

Operation Nordpol

Christmann bekam 1942 Wind von einem Programm des britischen Geheimdienstes, der in den Niederlanden nachts in England ausgebildete Fallschirmagenten absetzte und den Widerstand logistisch unterstützte, um langfristig den D-Day vorzubereiten. Tatsächlich erwischte man solche Agenten über die Funkpeilung inflagranti. Giskes zwang den Funker, die Briten zu etlichen weiteren Agentenmissionen zu ermutigen, die in den folgenden Monaten jedoch allesamt bereits bei ihrer Landung abgefangen wurden. Über zwei Jahre hinweg inszenierte Giskes durch aufwändige Funktäuschungen eine scheinbar erfolgreiche Widerstandsbewegung. Zur Glaubwürdigkeit inszenierte Christmann persönlich u.a. Sprengstoffanschläge auf eigene Einrichtungen wie den Sender Kootwijk, die jedoch nur unwesentlich beschädigt wurden, jedoch über die Presse nach London gemeldet wurden. Die Briten warfen u.a. Tausende Maschinenpistolen und Munition sowie Konsumgüter ab, die natürlich dem Feind in die Hände fielen.

Das als "Englandspiel" bekannte "Unternehmen Nordpol" wurde später von deutschen Veteranen als Husarenstück gelungener Kriegslist gefeiert. (Der hieran beteiligte SS-Mann Joseph Schreieder arbeitete später für Organisation Gehlen und den Bayrischen Verfassungsschutz. Seine Kollegen vom Bundesamt für Verfassungsschutz inszenierten 1978 in der "Operation Feuerzauber" ebenfalls einen terroristische Anschlag im Stile Christmanns.) Historiker haben jedoch ebenso wie beim britischen Pendant Double Cross Zweifel, ob der jeweilige Gegner wirklich so naiv war.

Zu Beginn des Englandspiels wusste Giskes nichts von Erkennungscodes, welche den Funkmeldungen fehlten und daher die Gegenseite misstrauisch machen mussten. Gut möglich, dass man das Agentenprogramm weiterlaufen ließ, um die aufwändig inszenierte Illusion zu schützen, der D-Day würde an der niederländischen Küste oder Calais erfolgen.

Unter der Tarnung des Widerstandskämpfers "Arnaud" unterwanderte Christmann den niederländischen Widerstand und schleuste unter Lebensgefahr niederländische Widerständler zum Agententraining nach England aus. Über Funk informierten ihn die Engländer über einen hohen Orden, den man ihm in Abwesenheit verliehen habe - was ihnen nach dem Krieg etwas peinlich war. Christmann führte den Doppelagenten "King Kong", der 1944 von der Operation "Market Garden" berichtete, der bis dahin größten Luftlande-Operation überhaupt, mit welcher die Rheinbrücken eingenommen werden sollten. Aufgrund der von Christmann gelieferten detaillierten Pläne, auf denen 400 Geschützstellungen eingezeichnet waren, konnte das verratene Unternehmen durch entsprechende Massierung der Verteidigung sabotiert und die Brücke von Arnheim gehalten werden.

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