Zwischen Kreisverkehr und Rosengarten: John Bingham und die geheime Welt

The Spy Who Came in from the Cold

Der Mann, der George Smiley war - Teil 2

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Teil 1: Eine Spurensuche in zwei Teilen

John Bingham war ein Mann mit Geheimnissen. Der Verlag hielt sich mit Informationen zu seinem Autor sehr zurück. 1908 geboren, hieß es, habe er das Cheltenham College besucht, er habe mal in Frankreich und in Deutschland gelebt, und durch Europa gereist sei er auch. Das war alles. Mitte der 1960er, als einige von Binghams Krimis bei Penguin als Taschenbuch erschienen, gab es auf der Rückseite wenigstens ein Photo. Da war ein Mann mit Pfeife und Hornbrille zu sehen, von dem man erfuhr, dass man ihn auch als Lord Clanmorris kenne. Die Kriegsjahre habe er bei den Royal Engineers verbracht, was, seiner Aussage nach, keinen großen Mut erfordert habe und nicht weiter gefährlich gewesen sei. Nach dem Krieg habe er zwei Jahre für die Alliierte Kontrollkommission gearbeitet und sei in Hannover stationiert gewesen. Auch das war nicht sehr aufschlussreich.

MI5 und Adelskrone

Wer war er also? John Bingham stammte tatsächlich aus einer Adelsfamilie, folgte 1960 seinem Vater als der 7. Baron Clanmorris of Newbrook nach. Vor dem Zweiten Weltkrieg arbeitete er als Journalist. Im Zeitungsmilieu kannte er sich gut aus, mehrere seiner Helden sind Reporter. Michael Sibley wird vom Journalisten zum Schriftsteller wie sein Erfinder. Der Roman A Case of Libel (1965) liest sich wie ein Probelauf für die Murdoch-Ära. Der neue Eigentümer einer gut bürgerlichen, etwas verschnarchten überregionalen Sonntagszeitung will Geld sehen und setzt einen Chefredakteur ein, der aus den Sunday News ein Massenblatt mit großen Schlagzeilen machen soll. Bingham beleuchtet das Umkrempeln der News und die damit verbundenen Brutalitäten aus verschiedenen Blickwinkeln, und wie üblich ahnt man am Anfang nicht, wer wem unter welchen Umständen begegnen und wozu das führen wird.

Kurz vor Kriegsausbruch soll Bingham bei einer Zugfahrt in England ein deutsches Paar belauscht haben, das Militäranlagen und Munitionsfabriken ausspionierte. Er gab sich als Landsmann aus, erfuhr Namen und Urlaubsadresse des Paares und ging mit seinen Informationen zu einem Freund beim Geheimdienst. Das ist die halboffizielle, irgendwann verbreitete Version, wie er selbst Agent wurde. Wahrscheinlich hatte ihn der Inlandsgeheimdienst MI5 schon früher angeworben. Das war wohl der Grund für seine Reisen durch Europa, und wenn es das deutsche Paar wirklich gab, dürfte Bingham nicht zufällig im selben Abteil gesessen haben. Aber nichts Genaues weiß man nicht - auch nicht, ob er wirklich bei den Pionieren war wie in den Penguin-Ausgaben behauptet.

Es könnte eine Anspielung auf seine wahre Tätigkeit sein. Das in England geläufigere Wort für Pionier (engineer) ist sapper. Und "Sapper" ist das Pseudonym, unter dem H.C. McNeile, der im Ersten Weltkrieg bei den Royal Pioneers diente und danach gern andeutete, Geheimagent gewesen zu sein, in der Zwischenkriegszeit extrem erfolgreiche Romane und Kurzgeschichten veröffentlichte. Vieles davon gehört zum Spionagegenre, das damals noch extrem chauvinistisch, reaktionär und leider antisemitisch war (Bingham ist sich dieses unrühmlichen Erbes sehr bewusst). Der von Sapper erfundene Bulldog Drummond, ab Mitte der 1920er auch Held zahlreicher Filme, ist ein Vorgänger von James Bond, kämpft gegen den die Weltherrschaft anstrebenden Carl Peterson und andere Superbösewichte.

John Bingham

In den 30 Jahren oder mehr, die Bingham für den MI5 arbeitete, verbrachte er die meiste Zeit in der Abteilung zur Überwachung politischer Subversion. Offenbar war er der Stellvertreter des legendären Maxwell Knight. Die meisten Experten gehen davon aus, dass er Chef der Abteilung wurde, als Knight ausschied. Ganz sicher ist das wieder nicht. Bingham war in einer Phase für den MI5 tätig, als die britischen Dienste noch um absolute Geheimhaltung bemüht waren, statt PR-Berater zu engagieren und sich den Anschein von Offenheit und Transparenz zu geben, um ihr Image aufzupolieren (le Carrés Meinung nach ein desaströser Fehler, weil der Schuss nach hinten losging).

Binghams Tochter Charlotte, auch Schriftstellerin, veröffentlichte 1963 ihr autobiographisches Buch A Coronet Among the Weeds (in Großbritannien ein Bestseller), in dem sie ihren Vater liebevoll als einen aristokratischen Bohemien porträtierte, ohne sein Geheimnis zu lüften. Erst lang nach seinem Tod (er starb 1988), als schließlich bekannt wurde, für welche Behörde er gearbeitet hatte, fühlte sich auch Charlotte nicht mehr an ihre Schweigepflicht gebunden. In einem Beitrag für die Mail on Sunday ("My Father, the Real George Smiley", 8.2.2004) erzählt sie, dass ihr Vater sie zu ihrem 18. Geburtstag (1960) zum Abendessen einlud. Mittagessen war normal. Dinner hieß, dass etwas Ernstes besprochen werden sollte. Charlotte dachte an Krankheit oder Scheidung. Dann eröffnete ihr der Vater, dass er beim MI5 sei (ihre Mutter Madeleine, die Theaterstücke und historische Sachbücher schrieb, war im Krieg ebenfalls für den Geheimdienst aktiv gewesen). Charlotte wurde nun klar, dass viele von den Leuten, die im Haus ihrer Eltern verkehrten, um da vermeintlich über Bücher und Theateraufführungen zu reden und mit denen sich ihr Vater zu langen Gesprächen in den Rosengarten zurückzog (Bingham war begeisterter Rosenzüchter), Agenten waren.

Charlotte zufolge war Bingham von 1938 bis 1972 beim MI5. Von 1958 bis 1960 arbeitete dort auch ein gewisser David Cornwell. Bingham war sein Vorgesetzter und sein Mentor. Er ermutigte ihn zum Schreiben seines ersten Romans, las das Manuskript, stellte den Kontakt zu seinem Literaturagenten her und führte ihn bei seinem Verleger Victor Gollancz ein. Bei Gollancz erschien 1961 Cornwells Erstling, Call for the Dead, gefolgt von A Murder of Quality (1962) und The Spy Who Came in from the Cold (1963). Der junge Spion war inzwischen zum Auslandsgeheimdienst MI6 gewechselt. Dort hatte man nichts gegen seine schriftstellerischen Ambitionen (nur bei Spy gab es Widerstand, was sich leicht denken lässt), aber die Bücher unter seinem richtigen Namen zu veröffentlichen, kam nicht in Frage. Deshalb erschienen sie unter dem Pseudonym John le Carré.

Call for the Dead und A Murder of Quality sind mehr Kriminal- als Spionageromane. Doch die Hauptfigur ist ein Geheimagent. Sein Name ist George Smiley. Seine Vorgeschichte (Call for the Dead, Kapitel 1) ist aus Elementen von Binghams Biographie zusammengesetzt (aus dessen adeliger Herkunft wird zum Beispiel Smileys Ehe mit Lady Ann). Smiley, so kurzsichtig wie Bingham, ist kein James Bond und kein Actionheld, sondern einer, der penibel die Akten studiert, aus kleinsten Details die wichtigsten Informationen zieht und die an das Schachspiel erinnernde Vernehmung zur hohen Kunst entwickelt hat. Man darf wohl annehmen, dass er einiges von John Bingham gelernt hat - vom Mitglied des MI5 wie vom Krimiautor. Das Verhör ist genauso ein Markenzeichen von le Carré wie von Bingham. Weil der Verlag wusste, was das Publikum erwartete, werden im Klappentext zur Erstausgabe von Binghams Night’s Black Agent "nicht weniger als vier einem kalt den Rücken hinunterlaufende Kreuzverhöre durch die Polizei" versprochen; "und es ist unumgänglich, dass der sich windende Verdächtige sich in einem Labyrinth aus Lügen verirrt."

Kröten, kaputte Typen und ein Loch im Kopf

Was Bingham wohl gedacht haben mag, als er in Call for the Dead las, wie le Carré seinen Protagonisten beschrieben hatte? Im ersten Kapitel heißt es:

Klein, dick und von ruhiger Veranlagung, schien er viel Geld für wirklich schlechte Kleidung auszugeben, die an seiner untersetzten Gestalt herunterhing wie die Haut an einer verschrumpelten Kröte.

1999, anlässlich des 20. Jubiläums der TV-Adaption von Tinker Tailor Soldier Spy, gab le Carré der BBC ein Radiointerview, in dem er bekannte, dass George Smiley nicht nur von seinem Tutor in Oxford inspiriert ist (Vivian Green), sondern auch von seinem alten Chef beim MI5. Vermutlich ist es diesem Interview zu danken, dass im Jahr darauf einige von Binghams frühen, längst vergriffenen Büchern neu aufgelegt wurden, jeweils mit einem Vorwort von le Carré. "Niemand, der John kannte und wusste, was für eine Arbeit er machte", heißt es in dem Essay, "hätte die Beschreibung von Smiley in meinem ersten Roman, Call for the Dead, überlesen können: Klein, dick […]." (Den Vergleich mit der Kröte lässt er 2000 weg.)

Le Carré wird nicht müde darauf hinzuweisen, dass seine Romane plausibel, aber nicht authentisch seien, dass er die geheime Welt der Agenten keineswegs 1:1 abbilde. Als er The Spy Who Came in from the Cold veröffentlichte, half ihm das auch bei Bingham nichts. "Soweit es ihn betraf", schreibt er in seinem Essay, "war ich ein literarischer Überläufer, der den guten Namen des Dienstes durch den Dreck gezogen hatte." Die Freundschaft der beiden scheint daran zerbrochen zu sein. Für le Carré war das sehr schmerzlich, und für Bingham vermutlich auch.

1966 erschien der erste von Binghams vier Spionageromanen. Man darf annehmen, dass er ihn nie geschrieben hätte, wenn es The Spy Who Came in from the Cold nicht gegeben hätte. The Double Agent ist seine Reaktion darauf. Aus dem Vorwort:

Derzeit gibt es zwei Denkschulen über unsere Geheimdienste. Die eine Schule ist davon überzeugt, dass ihr Personal aus mörderischen, mächtigen, ein doppeltes Spiel treibenden Zynikern besteht, die andere, dass der Steuerzahler eine Ansammlung von Stümpern, kaputten Typen und Tagedieben finanziert. Es ist zulässig zu glauben, dass beide Extreme das Resultat einer Mischung aus verworrenen Gedankengängen, Ignoranz und möglicherweise politischem oder persönlichem Wunschdenken sind.

Für le Carré steht außer Frage, dass das auf ihn gemünzt war. Weil es zu Binghams Lebzeiten zu keinem Gespräch und zu keiner Aussöhnung mehr kam, antwortet er wenigstens in seinem Essay auf die Vorwürfe des Freundes, der sich von ihm verraten fühlte:

Das Problem mit den Geheimdiensten war dasselbe, das auch andere Leute haben: sie können eine verdammt große Menge von Dingen zugleich sein, gut und schlecht, kompetent, inkompetent, an einem Tag unverzichtbar, am nächsten Tag ein Loch im Kopf. Ich hätte auch darauf hinweisen können, dass sich meine Erfahrungen mit der geheimdienstlichen Arbeit im Kalten Krieg in Bereiche erstreckt hatten, von denen er das Glück hatte, nichts zu wissen, da John sich schon lange auf den ausgefahrenen Gleisen der Gegensubversion bewegt hatte, während ich zu meinem Vorteil einen Blick auf unsere auswärtigen Operationen erhascht hatte. John ahnte nichts von den desaströsen Folgen, die James Jesus Angletons Spionagemanie für die internationale Gemeinschaft der Geheimdienste hatte. Er wusste nichts von verdeckten Operationen zuhause oder im Ausland. Er wusste nichts von der Ausbildung und der Infiltration und vom Tod ungezählter Armeen von kleinen Spionen gegen die kommunistische Bedrohung. Er wusste herzlich wenig von Verschwörungen und sogar noch weniger von Operationen, die in die Hose gehen. Er stand an der Spitze eines perfektionierten Systems, das ganz das seine war. Er hegte und pflegte seine Agenten, ohne auch nur im Geringsten daran zu denken, sie zu verraten oder sie Gefahren auszusetzen, denen sie nicht gewachsen waren. Aber sogar, wenn John all das zugestanden hätte, hätte er nie etwas darüber lesen, geschweige denn darüber schreiben wollen.

James Jesus Angleton war der langjährige CIA-Chef und geprägt vom Fall der Briten Donald Maclean und Kim Philby, die als KGB-Agenten entlarvt wurden und sich nach Moskau absetzten. Angleton witterte überall Verräter in den eigenen Reihen (le Carrés "Maulwürfe"), verirrte sich zunehmend in seinem individuellen Wahnsystem und wurde schließlich als Paranoiker aus seinem Amt entfernt. Der Kalte Krieg hat den Doppelagenten als eine Lieblingsfigur des Spionageromans etabliert. Die Suche nach ihm, und das Bemühen der Gegenseite, ihn zu schützen, hat nicht nur le Carré zu einigen seiner besten Plots inspiriert. Bingham mag nicht alles von dem mitbekommen haben, was in anderen Teilen der geheimen Welt an schmutzigen Operationen vor sich ging, aber ganz so ahnungslos war er vermutlich auch nicht. Er fand nur andere, weniger direkte Wege der literarischen Verarbeitung.

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