Empörung groß in Spanien

Im Herkunftsland der "Indignados" sind mehrere Millionen auf die Straße gegangen

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Die Empörung gewinnt in Spanien immer neue Indignados hinzu, auch wenn die Bewegung in vielen anderen Ländern noch in den Kinderschuhen steckt ("Wir sind 99 Prozent"). Doch Spanien zeigt, wie stark die Empörung ausweiten kann und auch in Israel konnte beobachtet werden, welche Dynamik eine solche Bewegung entwickeln kann. Die spanischen Marschierer haben mit ihrem Marsch auf Brüssel schon Europa mit ihrem "Virus" infiziert.

Waren es in Spanien zehntausende "Empörte" die mit Demonstrationen am 15. Mai erstmals, angeregt von den Demokratiebewegungen in Nordafrika, in Erscheinung traten, so sind es am Samstag schon Hunderttausende gewesen, die sich in mehr als 80 Städten im spanischen Staat über die herrschenden Zustände empört haben.

Damit hat die Bewegung gezeigt, entgegen allen Befürchtungen nach der freiwilligen Räumung der Protestlager im Juni, dass sie ihren Höhepunkt noch nicht erreicht hat. Dass sogar in Mieres, einer Kleinstadt Asturiens mit gut 40.000 Einwohnern, mehr als ein Drittel der Bevölkerung auf die Straße ging, zeigt ihre Bedeutung vielleicht noch deutlicher als die Tatsache an, dass in der Hauptstadt Madrid etwa eine halbe Million Menschen protestiert haben. Die Bewegung hat weiter an Breite und Tiefe gewonnen und ist längst auch tief in die Provinz vorgedrungen.

Überall waren die Demonstrationen deutlich größer und stärker als im Mai. Die größten Demonstrationen fanden aber erneut in den Hochburgen Madrid und der katalanischen Metropole Barcelona statt, wo etwa 400.000 demonstriert haben sollen. Der zentrale Platz in Madrid, die "Puerta del Sol", war erneut zum Brechen gefüllt, den die Bewegung wochenlang wie viele Plätze im Land besetzt gehalten hatte.

Die Märsche nahmen zum Teil regelrecht einen Volksfestcharakter an, wenngleich die Wut immer spürbar war. Alberto Martínez war zum Beispiel mit seiner gesamten Familie auf der Demonstration in Barcelona. Von der Frührente des 59-Jährigen müssen neben seiner 52-jährigen Frau nun auch seine beiden arbeitslosen Söhne mit 23 und 25 Jahren leben. Denn fast 50 Prozent aller jungen Menschen sind in Spanien ohne Job Alberto ist sehr sauer darüber, dass Banken mit Milliarden gerettet werden, aber viele Familien nicht einmal mehr das Sozialgeld bekommen und noch dazu von den Banken aus der Wohnung geworfen werden, weil sie angesichts der offiziellen Arbeitslosigkeit von 21,2 Prozent den Kredit nicht mehr bedienen können. "Wir haben nie geglaubt, dass es uns schlechter als unseren Eltern ergehen könnte, doch ich kann nicht zu zulassen, dass es meinen Kindern noch mieser ergehen soll", drückt er seine Empörung aus.

"Die Sonne erleuchtet die Welt"

Dass die Empörung mit immer neuen Kürzungen von Löhnen, Renten, Sozialleistungen, Einschnitten ins Bildungs- und Gesundheitssystem zugenommen hat, war klar. Doch die Plattform Wahre Demokratie Jetzt wurde von dieser massiven Beteiligung im ganzen Land doch überrascht. In Madrid musste den Teilnehmern, die noch am Sammelplatz der Demonstration ausharrten, erklärt werden, dass das die Demonstration war, weil der "Sol" schon überfüllt war. Jon Aguirre Such, ein Sprecher der Plattform, zog als Bilanz der Proteste in Madrid, in Spanien und in der gesamten Welt: "Die Menschen, die heute auf der ganzen Welt am 15. Oktober auf die Straßen gegangen sind, haben Geschichte geschrieben."

Da "Sol" auf Deutsch Sonne bedeutet, war man nun in Madrid besonders stolz darauf, dass diese Sonne am weltweiten Aktionstag in vielen Ländern und in Hunderten Städten aufgegangen ist. Die größte spanische Tageszeitung titelt deshalb heute: "Die Sonne erleuchtet die Welt". Besonders schaute man aber von Madrid auch nach Brüssel, wo etwa 6000 Menschen im europäischen Machtzentrum demonstriert haben.

Schließlich waren aus Madrid Ende Juli etwa 50 Marschierer nach dem Sternmarsch auf die Hauptstadt aufgebrochen. Sie legten seither die 1600 Kilometer zu Fuß bis in die belgische Hauptstad zurück und wollten auf ihrem Weg in den Städten und Dörfern die Menschen "mit dem Virus der Empörung" infizieren. Das haben die Marschierer auf ihrem langen Marsch stets unterstrichen und der Aktionstag hat gezeigt, dass es ihnen gelungen ist.

Besonders wurde auf den Kundgebungen in Spanien betont, dass es nicht eine Bewegung ist, die sich allein aus ökonomischen Interessen speist. Dass es sich um eine Demokratiebewegung handelt, stellten die Vertreter besonders heraus: "Von Amerika bis Asien, von Afrika bis Europa erheben sich die Menschen, um für ihre Rechte einzutreten und eine wahre Demokratie einzufordern." Nun sei der Augenblick gekommen, um sich "in einem gewaltfreien und globalen Protest zu vereinen", wurde der gemeinsame Aufruf verlesen. Dass es sich um keine einfache Krise handelt, sondern das System an sich in einer tiefen Krise steckt, diese Meinung greift immer weiter um sich.

"Abwehrschirm" gegen die Finanzmärkte

Das gilt auch dafür, dass sich immer weniger Menschen von der politischen Klasse vertreten fühlen, die in Spanien von zwei großen Parteien beherrscht wird, die sich jeweils an der Macht abwechseln. Mit dem Blick auf die sozialdemokratischen "Sozialisten" (PSOE) und die postfaschistische Volkspartei (PP) spricht die Bewegung stets von einer "Zweiparteiendiktatur der PPSOE". Die beiden Parteien seien sich in den wesentlichen Fragen einig, wenn es darum geht, die einfachen Menschen für die Krise und ihre Fehler zur Kasse zu bitten. Das hat kürzlich die Verankerung der von Berlin geforderten Schuldenbremse in der Verfassung deutlich gezeigt (Schuldenbremse in Spanien sorgt für Empörung).

Gefordert wurde ein "Abwehrschirm" gegen die Finanzmärkte und ihre zerstörerischen Wirkungen auf die Ökonomie und das Leben der breiten Bevölkerung. Angespielt wurde damit auch auf die Tatsache, dass die PSOE-Regierung, die für den 20. November vorgezogene Neuwahlen ausgerufen hat, nicht nur die Verfassung noch schnell geändert hat, sondern auch noch am US-Raketenabwehrschild teilnehmen will. Spanien ist mit Polen, Rumänien, den Niederlanden und die Türkei das fünfte Land, das sich an dem umstrittenen Projekt beteiligt. Gefordert wurde, wie in der Frage der Schuldenbremse, ein Referendum abzuhalten, wie es in Spanien bei Entscheidungen mit solcher Tragweite eigentlich üblich ist.

Auch im Nachbarland Portugal gingen viele tausend Menschen auf die Straßen. Angesichts der drakonischen Sparmaßnahmen spitzt sich auch dort die Lage zu. Hunderte Demonstranten durchbrachen in der Hauptstadt Lissabon eine Polizeisperre um das Parlament und erstürmten die Haupttreppe des Gebäudes. Die neuen Sparmaßnahmen haben eine Welle der Empörung im ärmsten Land Europas ausgelöst. Zwar gab es auch schon in Portugal Generalstreiks und große Proteste, doch nun scheinen sich auch dort die Proteste zu radikalisieren.