Arabischer Herbst

Nur wenige Wochen vor den für Ende November angesetzten Wahlen schwankt Ägypten zwischen Aufbruch und Restauration

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"Etwas ist zerbrochen." Mit diesen Worten kommentierte das bekannte Blog The Arabist die Folgen der blutigen Auseinandersetzungen in Kairo vom 9. Oktober (Militär agiert brutal gegen Kopten), bei denen 26 Demonstranten - zumeist ägyptische Kopten - ums Leben kamen.

Während die Militärführung immer noch die Repression der Demonstration verteidigt und eine härtere Gangart gegenüber künftigen Protesten ankündigt, tauchen immer mehr Zeugenaussagen und Videoaufnahmen auf, die massakerähnliche Szenen darstellen und schildern, bei denen Militärfahrzeuge in voller Geschwindigkeit in Menschenmassen hineinrasten, Soldaten wild um sich feuerten, und Zivilpolizisten ganze Banden von Schlägern bei den folgenden Ausschreitungen koordinierten.

Die offenbar vom Sicherheitsapparat provozierten - oder zumindest tolerierten - blutigen Religionsunruhen nutzte die Militärführung, um eine weitere Einschränkung demokratischer Rechte und eine Ausweitung der eigenen Machtbefugnisse anzukündigen. Diese restaurative Taktik, bei der tolerierte oder inszenierte Ausschreitungen zur Stärkung der eingeben Machtmittel instrumentalisiert werden, setzte der nach dem Sturz Mubaraks in Ägypten regierende Militärrat (SCAF - Supreme Council of the Armed Forces) bereits im Gefolge der Stürmung der israelische Botschaft ein, die offenbar sehr gut geplant war und bei der sich die Sicherheitskräfte ebenfalls anfänglich auffallend zurückhielten.

Nach der Stürmung der israelischen Botschaft ging Militärrat dazu über, die Notstands- und Sondergesetze aus der Mubarak-Ära wieder einzuführen und auch vermehrt anzuwenden.

Militärrat als Bastion restaurativer Kräfte

Inzwischen hat die durch das Militär ausgeübte Repression ein Niveau erreicht, das durchaus mit den in der Mubarak-Ära üblichen Einschränkungen elementarer Grundrechte verglichen werden kann. Rund 12.000 Zivilpersonen wurden vor Militärtribunalen angeklagt, wobei sich diese Verfahren größtenteils gegen den radikalen Flügel der ägyptischen Protestbewegung richteten, dessen Aktivisten auch nach dem Sturz Mubaraks auf dem Tahrir-Paltz für echte, grundlegende Veränderungen protestierten.

Symbolisch für diese Repressionswelle gegen die ägyptische Demokratiebewegung steht das Schicksal des im Hungerstreik befindlichen Bloggers Michael Nabil, der im vergangenen April zu drei Jahren Zuchthaus wegen angeblicher "Beleidigung des Militärs" verurteilt wurde. Zudem hat die Militärführung bereits ihre umfassende Kontrolle über die Massenmedien zementiert, die auch bei den blutigen Auseinandersetzungen am 9. Oktober ersichtlich wurde, als im Fernsehen Aufrufe an "aufrechte Ägypter" gesendet wurden, dem Militär beizustehen, das "von Kopten angegriffen" würde.

Letztendlich bemüht sich die Militärführung, den demokratischen Transformationsprozess weitestgehend zu sabotieren und zu unterminieren, um tatsächliche, fundamentale Veränderungen der Macht- und Eigentumsverhältnisse in Ägypten zu verhindern. Erreicht wird dies durch eine Verzögerungstaktik des Militärs, bei der die Übergabe der Regierungsgeschäfte an unabhängige zivile Kräfte immer weiter hinausgeschoben wird.

In der immer weiter verlängerten Übergangszeit will der Militärrat - der jahrzehntelang die Herrschaft Mubaraks stützte - das künftige institutionelle und machtpolitische Gefüge möglichst weit zugunsten der bestehenden Funktionseliten beeinflussen und festlegen. Dabei gilt es eher als unwahrscheinlich, dass Ägyptens Militärs auch weiterhin direkt regieren wollen. Eher zielt der Militärrat auf den Aufbau politischer Strukturen und Kräfte ab, die ihm auch weiterhin eine herausragende Machtposition hinter den Kulissen der Tagespolitik garantieren.

Die Generäle hoffen schlicht, dass der revolutionäre Elan der Demokratiebewegung mit der Zeit erlahmen wird, und sie hierdurch ein ihren Interessen genehmes politisches System installieren können. Jegliche halbgaren Zugeständnisse müssen dem SCAF in Massendemonstrationen und Protesten abgerungen werden - dies gelingt auch beizeiten, wie etwa Fall der Regelungen für die kommenden Wahlen, die am 28. November beginnen sollen.

Die Wahlen

Aufgrund massiven Drucks und anhaltender Proteste musste der Militärrat Anfang Oktober ein jungst erlassenes Wahlgesetz revidieren, das ein Drittel aller künftigen Parlamentssitze für "unabhängige" Abgeordnete reservierte. Hierdurch wäre nach Ansicht ägyptischer Aktivisten vielen Figuren aus dem alten Regime und dem Militär der Weg ins Parlament geebnet worden. Dabei konnten die Militärs mit diesen partiellen Zugeständnissen die Protestbewegung auch spalten, da etliche Gruppen und Parteien zudem die Aufhebung der Notstandsgesetze forderten, die weiterhin in Kraft bleiben.

Dennoch scheint bei dem Blutbad vom 9. Oktober tatsächlich etwas "zerbrochen" zu sein. Zerbrochen ist für viele Aktivisten der Demokratiebewegung wohl die Illusion, das Militär - das immer noch am Mythos festhält, nicht auf das eigene Volk geschossen zu haben - befinde sich auf der Seite der Bevölkerung und der Revolution. In der breiten Bevölkerung kann hingegen keine allgemeine Abwendung von der immer noch idealisierten Militärführung konstatiert werden.

Gleich nach dem Massaker vom 9. Oktober wurden Demonstrationen organisiert, bei denen Muslime und Christen gemeinsam gegen Religionshass und die Militärrepression protestierten. Die geringe Teilnehmerzahl bei diesen Kundgebungen deutet aber darauf hin, dass die Geduld der Ägypter mit ihrer Militärregierung noch nicht erschöpft ist. Der Glaube an das Militär - der aus den anfänglichen Erfolgen der Armee beim Jom-Kippur-Krieg seine historische Legitimation bezieht - scheint bei der breiten Masse der Ägypter noch nicht zerbrochen.

Diese Fraktionierung der demokratischen Kräfte, wie auch die allgemeine Unsicherheit bezüglich des Wahlverlaufs, könnten vom Militär auch intendiert sein, um im - selbst verursachten - Wahlchaos sich als Ordnungsmacht zu profilieren und gemäß der eigenen Interessen intervenieren zu können, wie Rainer Hermann beobachtet:

Außer dem Wahlgesetz fehlt auch noch die Infrastruktur für die Abstimmung, an der sich 44 Millionen Ägypter beteiligen können sollen. Aber vielleicht, so vermuten manche in Ägypten, sind die Unsicherheiten auch nur Teil ihres Kalküls. Je mehr der Wahlkampf und die Wahlen von Unsicherheiten überschattet sind, je verschwommener die Gesetze bleiben, desto eher können Kandidaten das Ergebnis gerichtlich anfechten - und für das Militär entstünden Gelegenheiten, ein eventuell unerwünschtes Ergebnis hinterher zu korrigieren.

Neben dem Militär bilden auch noch die intakten Netzwerke der ehemaligen Mubarak-Clans aus der "National Demokratischen Partei" einen Machtfaktor, der einen einigermaßen reibungslosen Wahlablauf unterminieren kann. Ehemalige Mitglieder der Mubarak-Partei, die zumeist auch der ägyptischen Oligarchie angehören, begannen bereits mit der Gründung neuer Partien, die über eine großzügige finanzielle Ausstattung verfügen. Diese neuen politischen Organisationen des alten Regimes können auf die insbesondere in der ägyptischen Provinz weiterhin erhaltenen Patronage- und Abhängigkeitsverhältnisse zurückgreifen, um sich Einfluss und auch Wählerstimmen schlicht zu kaufen.

Der ägyptische Kasernenkapitalismus

Für das Militär steht in der derzeitigen Übergangszeit tatsächlich vieles auf dem Spiel. Viele Generäle sind längst in die Rolle von Unternehmern in Uniform geschlüpft, um dabei ein ansehnliches Vermögen anzuhäufen.

Die Armee, die über ein weitverzweigtes Firmenkonglomerat gebietet, gilt als einer der wichtigsten Wirtschaftsaktoren im Land. Letztendlich haben sich die Streitkräfte zu einem auf militärisch-zivile Produktion spezialisierten Konzern gewandelt, der Hunderttausende von Ägyptern beschäftigt und Milliarden von Euro jährlich umsetzt. Der ägyptische Verteidigungsminister, der offiziell sinnigerweise als Minister für Verteidigung und Produktion tituliert wird, ist de facto Feldmarschall und Vorstandsvorsitzender eines Militär-Konzerns in Personalunion:

Ägyptens Armee betreibt Hunderte Hotels und Krankenhäuser, Autowerkstätten und Konservenfabriken, Kegelbahnen und Bäckereien. Zehntausende Ägypter arbeiten allein in den mindestens 26 Fabriken, die militärische wie zivile Güter herstellen. Ob Ägypter einen Kühlschrank oder einen Fernseher kaufen, der Bildungsminister Laptops bestellt, die Eisenbahn neue Züge oder der Chef der Feuerwehr neue Löschwagen in Auftrag gibt oder ob der Wohnungsbauminister neue Müllverbrennungs- oder Kläranlagen braucht: Alle landen bei Tantawi und der Militärwirtschaft.

Das Militär ist somit vor allem an der Aufrechterhaltung der bestehenden Eigentumsverhältnisse interessiert, es will die Kontrolle über sein lukratives Firmenimperium behalten und verhindern, dass zivile Regierungen je in eine Machtposition gelangen, in der sie den Militärs diesen enormen Produktionsapparat streitig machen könnten.

Konflikt zwischen den Mubaraks und der Offzierskaste

Die wirtschaftliche Rolle des Militärs ist im übrigen in den letzten Jahren der Regentschaft Mubaraks etwas abgeschwächt worden, da dieser im Rahmen neoliberaler Reformen die Etablierung einer neuen Klasse von Industriekapitalisten gefördert hatte.

In dieser Konfliktkonstellation ist auch einer der Gründe für die Bereitschaft des Militärs zu finden, den Mubarak-Clan nach Ausbruch der Revolution fallen zu lassen. Der Schauprozess gegen Mubarak soll die Ägypter nicht nur von der schleichenden Restauration im Lande ablenken, hier werden auch "alte Rechnungen" innerhalb der Machtelite beglichen:

Zwischen der Offizierskaste und Mubarak war offenbar in den vergangenen Jahren ein immer tieferer Graben entstanden, weil der Präsident durch die Duldung einer neuen Klasse von kapitalistischen Unternehmern um seinen Sohn Gamal deren wirtschaftliche Interessen grob missachtet hatte. … Die Massenproteste boten den Generälen im Februar eine unerwartete Gelegenheit, sich der ganzen Familie zu entledigen, deren Günstlinge an den Pranger der Korruption zu führen und ihre eigene verlorene Macht wiederherzustellen.

Gegenkraft: Die Gewerkschaftsbewegung

Indes scheint dem Militär mit dem Aufstieg der ägyptischen Gewerkschaftsbewegung eine weitere Gegenkraft erwachsen zu sein, die eine Restauration der alten Machtverhältnisse - mitsamt der Rückkehr zum ägyptischen "Kasernenkapitalismus" - erschweren kann. Nach dem Sturz Mubaraks konnte die Koalitionsfreiheit in Ägypten errungen werden, wo zuvor nur die mubaraktreuen Gewerkschaften offiziell aktiv sein durften.

Inzwischen sind mindestens 130 Einzel- und Branchengewerkschaften in Ägypten in einem eruptiven, chaotischen Prozess binnen kürzester Zeit entstanden, die die etablierten staatstreuen Gewerkschaften in die Defensive drängen. Der Einfluss und die Machtmittel dieser sich rasch entfaltenden Arbeiterbewegung können nach Ansicht von Beobachtern bereits diejenigen des im entstehen begriffenen ägyptischen Parteienspektrums übersteigen.

Die unabhängigen ägyptischen Gewerkschaften belassen es nicht nur bei der Organisation der Arbeiterschaft - sie sind auch streikfreudig. Nach Dekaden, in denen Streiks de facto verboten waren, erfassen immer neue Streikwellen einzelne Betriebe oder ganze Branchen. Die Arbeiterorganisationen kämpfen um eine Anhebung des sehr niedrigen Lohnniveaus zwischen Alexandria und Assuan, aufgrund dessen das bevölkerungsreichste arabische Land zu einem Billiglohnstandort ausgebaut wird, in das sogar Industrieproduktion aus Osteuropa verlagert wird.

Der Aufbruch der ägyptischen Arbeiterbewegung markiert sozusagen eine Revolution innerhalb der Revolution, die eine Restauration alter Machtverhältnisse ungemein erschwert. Die Kampfbereitschaft der Gewerkschaftsbewegung führt diese automatisch auf Kollisionskurs mit den "Unternehmern in Uniform" des ägyptischen Militärrates, der auch gelegentlich brutal gegen Streikende vorgeht. Inzwischen haben die Militärs auch Streiks offiziell verboten, doch eine umfassende Niederschlagung der Gewerkschaften scheint derzeit an deren rasch wachsender Stärke zu scheitern, wie Heba Morayef von Human Rights Watch gegenüber der Washington Post ausführte. Die Generalsriege des Militärrats befinde sich laut Morayef in einem Dilemma:

Auf der einen Seite ist da wirtschaftliche Panik und ihr Instinkt besteht darin, repressive Maßnahmen einzuleiten. Aber da ist zugleich die politische Einsicht, dass sie es sich nicht erlauben können, diese Streiks komplett niederzuschlagen.

Eine Restauration früherer Machtverhältnisse müsste das Militärregime somit nicht nur auf politischer Ebene gegen die Demokratiebewegung, sondern auch auf ökonomischer gegen die Gewerkschaftsbewegung durchsetzen. Der Aufbruch der ägyptischen Arbeiterbewegung bildet somit einen weiteren Faktor, der den ordinär reaktionären Tendenzen entgegenwirkt.

Der politische Islam

Spekuliert wird indes, innerhalb wie außerhalb Ägyptens, immer noch, inwieweit die Militärs in der islamischen Bewegung des Landes verbündete Kräfte gefunden haben. Seit März 2011 gingen die demokratischen und säkularen Kräfte Ägyptens davon aus, dass die Muslimbruderschaft und der Militärrat einen geheimen Deal abgeschlossen haben. Ähnliches wird von ausländischen Beobachtern vermutet. So hielt sich etwa die Muslimbruderschaft mit der Kritik am ursprünglichen Wahlrechtsentwurf (siehe oben) des Militärrates auffallend zurück , der erst nach heftigen Protesten nahezu aller sonstigen Partien revidiert werden musste:

In dieser Konstellation wird die informelle Zusammenarbeit von Militärrat und Muslimbruderschaft offensichtlich. Die Generäle sehen die Islamisten als attraktiven Partner: Sie sind zum einen rechtlich verwundbar, da ihre Partei wegen der Verwurzelung im politischen Islam jederzeit verboten werden könnte. Zum anderen genießen die Muslimbrüder eine große Popularität, die sie schon mehrmals - und als einzige gesellschaftliche Bewegung - zugunsten des Militärrats und seiner Politik mobilisiert haben. Die lange verbotene Muslimbruderschaft ihrerseits genießt die Aufwertung zum inoffiziellen Juniorpartner der Generäle. Ihnen wollen die Muslimbrüder nun beweisen, dass sie keine Gefahr mehr für die staatliche Ordnung sind, und im Parlament müssen sie zeigen, dass sie bereit sind, legislative Verantwortung zu übernehmen.

Dennoch sind in jüngster Zeit auch unübersehbare Konfliktlinien zwischen Muslimbrüdern und Militärrat offen zu Tage getreten, die auf einen Bruch der informellen Abmachungen hindeuten könnten. In einer Phase enger Kooperation zwischen beiden Partien in den ersten Monaten nach dem Sturz Mubaraks, in der die Muslimbruderschaft ihre "Freiheits- und Gerechtigkeitspartei" gründen konnte, kann tatsächlich von einer Unterstützung des Militärrats durch den politischen Islam gesprochen werden.

Die Bruderschaft hielt ihre Lippen sogar geschlossen, als die Militärtribunale gegen Zivilisten wüteten, was breite Empörung hervorrief, die zu heftiger Kritik am Militärrat führte, die aber auch die Bruderschaft traf, welche des Verrats der demokratischen Ziele der Revolution beschuldigt wurde.

Doch in jüngster Zeit gewinnen offenbar Differenzen zwischen Militärs und Islamisten die Oberhand. Zum einen sprachen sich führende Muslimbrüder gegen eine Verschiebung des Wahltermins aus, da hierdurch die islamische Bewegung sich benachteiligt fühlt.

Die Bruderschaft verfügt über die beste landesweite Organisationsstruktur, die es ihrer "Freiheits- und Gerechtigkeitspartei" erlauben würde, bereits jetzt einen gut organisierten Wahlkampf in ganz Ägypten zu führen. Andere, noch im Aufbau befindliche Partien könnten diesen Organisationsvorsprung der Muslimbrüder kaum rechtzeitig aufholen.

Eine Verschiebung der Wahlen lässt somit auch die Chance der "Freiheits- und Gerechtigkeitspartei" auf eine dominante Stellung im künftigen Parlament schwinden. Zudem opponiert die Bruderschaft den Vorgaben, die das Militär in Bezug auf die künftige verfassungsgebende Versammlung durchsetzen will. Mittels dieser spezifischen Einschränkungen will dar Militärrat verhindern, dass aus einem islamisch dominierten Parlament ein islamisch geprägter Staat erwächst:

SCAF plans to introduce fundamental guidelines and criteria for the next parliament to use in picking the members of the 100-person committee to be charged with drawing up a permanent constitution. Many believe that SCAF resorted to this plan out of fear that an Islamist-dominated parliament would ensure that the Egyptian constitution backs a religious state rather than a civil one.

In dieses Muster einer zunehmenden Entfremdung zwischen der Armeeführung und dem politischen Islam fügt sich auch die jüngste Anordnung des Militärrates, mit der die Verwendung religiöser Slogans im Wahlkampf untersagt wurde.

Dabei ist die muslimische Bewegung längst von einem Prozess der Fragmentierung und Ausdifferenzierung erfasst worden, der auch die Reihen der angeblich so straff geführten Muslimbruderschaft erfasste. Zum einen rebelliert der Jugendverband der Bruderschaft, der auf die Durchführung transparenter Wahlen bei der Besetzung von Machtpositionen innerhalb dieser religiösen Bewegung besteht.

Viele jugendliche Aktivisten wurden aus der Muslimbruderschaft ausgeschlossen, da sie sich nicht mehr ihrer Disziplin beugen wollen und anderen Partien als der "Freiheits- und Gerechtigkeitspartei" beitraten. Zudem hat inzwischen die größte liberale Gruppierung Ägyptens, die Wafd-Partei, ihr Wahlbündnis mit der Muslimbruderschaft aufgekündigt, um doch eigenständig zu den Wahlen anzutreten.

Dieser Prozess der Ausdifferenzierung des politischen Islam findet nicht nur auf organisatorischer, sondern auch auf ideologischer Ebene statt. Neben salafistischen und erzkonservativen Kräften finden sich auch gemäßigte und schlicht konservative Gruppen innerhalb des vielfältigen islamischen Kräftespektrums in Ägypten wieder. Teile der islamischen Bewegung bemühen sich sogar, an westlich-liberale Grundsätze und Vorstellungen anzuknüpfen, um einen "islamischen Liberalismus" zu kreieren. Paradigmatisch für diese Bestrebungen ist diese Erklärung des Chefideologen der Islamischen Gruppe, Nageh Ibrahim, bei einer Rede vor der Wadf-Partei im vergangenen Juli:

Der Liberalismus hat viele gute Ideen, die nicht den universellen Prinzipien der Scharia zuwiderlaufen. Wir müssen eine Form des Islamischen Liberalismus suchen, der mit den Normen der ägyptischen Gesellschaft kompatibel ist, ohne andere Kräfte zu entfremden.

Innerhalb der gesamten islamischen Bewegung im arabischen Raum findet derzeit ein kontroverser Diskussionsprozess statt, der viele Dogmen des politischen Islam in Frage stellt

Die Debatten greifen tief genug, so dass viele in der Region glauben, dass die wichtigsten Kämpfe nicht zwischen Islamisten und Säkularen, sondern zwischen den Islamisten selber geführt werden, bei denen sich Puritaner und Liberale gegenüberstehen.

Innerhalb des säkularen Lagers herrschen indes Zweifel, ob solche Aussagen wie diejenigen Ibrahims mehr als bloße Lippenbekenntnisse eines ehemaligen islamischen Terroristen darstellen. Die säkularen Kräfte - von den liberalen Parteien, über die Jugendbewegung bis zu linken Gruppen - gehen den kommenden Wahlen mit gemischten Gefühlen entgegen. Eine Verzögerung der Wahlen birgt die Gefahr einer Verfestigung des Militärregimes mit sich, während ein schneller Wahlgang durchaus die islamischen Kräfte in eine dominante Position bringen dürfte, die in der Errichtung eines klerikalen Regimes münden könnte.