Griechenland: Chronik eines angekündigten Todesfalls

Papandreous Pyrrhussieg und ein rot-roter Bruderkrieg

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Die Kurzbilanz des zweiten Generalstreiktags in Athen enthält einen Toten Demonstranten, eine im Parlament offen gegen ihr Gewissen entscheidende Abgeordnete, eine Parlamentarierin, die eben diesem lieber als der Parteidisziplin gehorcht und somit nur noch 153 Abgeordnete für Premierminister Giorgos Papandreous Regierungsfraktion. Darüber hinaus gab es intensive Randale und Prügeleien zwischen den stalinistischen Gewerkschaftlern der PAME-Gewerkschaft und den übrigen Demonstranten.

Woran starb Dimitrios Kotsaridis?

Die Ereignisse des Tages wurden überschattet vom Tod eines Demonstranten. Der dreiundfünfzigjährige Dimitrios Kotsaridis verstarb, so geht es aus einem knappen Bulletin des Evangelinos Krankenhauses Athens hervor, an einem durch Atemversagen ausgelösten Herzanfall. Bereits seit Tagen wurde in Athen darüber gemunkelt, dass die anhaltenden Proteste zu Todesopfern führen würden. Angesichts der allgemein spürbaren Aggressivität im Land erscheinen solche Prophezeiungen weniger ein Orakel als vielmehr eine logische Schlussfolgerung zu sein.

Kaum ein Hauptstadtbewohner ist mehr in der Lage, über die aktuelle Situation des Staats zu reden, ohne dabei an den Rand des Nervenzusammenbruchs zu gelangen. Griechenland ist ein Staat, in dem Sachwerte und politische Ideologien traditionell hinter den Wert eines Lebens zurücktreten. Trotz des bei vielen Bürgern bemerkbaren Werteverfalls löste Kotsaridis Tod einen allgemeinen Schockzustand aus.

Nichtsdestotrotz versuchte sowohl die stalinistisch orientierte Kommunistische Partei Griechenlands (KKE) als auch die an diese angegliederte Gewerkschaft PAME politisches Kapital aus dem Fall zu schlagen. Offen behauptete die Parteisekretärin der KKE, Aleka Papariga, im Parlament: "Es handelt sich um einen geplanten Mord." Papariga sieht "anarchistische, dem Staat nahe stehende Faschisten" als Urheber der Krawalle und Täter des mutmaßlichen Mords an Kotsaridis. Kotsaridis war Sekretär einer PAME-Organistation für Bauarbeiter im Athener Viertel Vyronas.

Fakt ist, wie Iason Pipinis über den regierungsnahen Privatsender Mega TV berichtete, dass Polizeikräfte dem unglücklichen Kotsaridis Tränengasgranaten direkt vor die Füße warfen. Ebenso unbestritten ist, dass die ersten ärztlichen Untersuchungen auf einen Herztod nach Atemlähmung hinweisen. Kotsaridis war, wie bekannt wurde, mit einer Kreislauferkrankung vorbelastet. Der Herzspezialist Ilias Sioros, der im Evangelos Krankenhaus bei der Reanimierung des Toten scheiterte, bestätigte diese Aussagen vor laufender Kamera. Auch die regierungsnahe Presse adaptierte diese Version. Eigentlich müsste es Regierungsgegnern trotz der Trauer freuen, dass der notorisch vollkommen unangemessene Gaseinsatz der Athener Polizei endlich als gesundheitsschädlich manifestiert wird.

Die Suche nach einer ideologisch passenden Todesursache

Parteipolitisch passt dieses offene Eingeständnis übermäßigen CS-Gaseinsatzes jedoch nicht ins Programm der KKE und weiterer extremistischer Gruppen. Sie befürchten, dass dieser Umstand bei kommenden Demonstrationen die Teilnahmelust der Griechen senken könnte. Wer möchte schon in Tränengasschwaden ersticken?

Außerdem erscheint es diesen Kreisen aus wahltaktischen Gründen weiser, Angehörige des konkurrierenden Linksbündnisses SYRIZA als Drahtzieher zu beschuldigen. Auf solche rot-roten Bruderkriege reagierten die meisten Athener am Donnerstagabend mit Abscheu und Verzweiflung. Sie sehen nun angesichts einer zerstrittenen Linken und einer unfähigen, selbst Krisenbeteiligten parlamentarischen Rechten keinen politischen Ausweg mehr aus der Krise. Immer öfter hört man Rufe nach einer Diktatur, die das kranke Parteiensystem abschaffen sollte.

Ein Trauerspiel vermummter Schläger

Denn was sich am Donnerstag rund um den Syntagmaplatz abspielte, lässt wahrlich keine Hoffnung auf bessere Zeiten aufkommen. Vorgeblich um die Demonstration vor Ausschreitungen zu schützen, hatten die PAME-Aktivisten ab neun Uhr morgens einen Kordon um das Parlamentsgebäude gebildet. Hinter dieser Garde standen, etwas gemütlicher, die ansonsten mit Schlägereien, Steinwürfen und Tränengaseinsatz beschäftigten MAT-Einsatzpolizisten.

Die PAME-Prätorianer hatten sich gründlich vorbereitet. Mit Motorradintegralhelmen, als Fahnen getarnten Knüppeln und wattierten Anoraks waren sie fast ebenso gut geschützt wie die staatlichen Ordnungskräfte. Letztere störten sich überhaupt nicht an dem klaren Verstoß gegen das gesetzliche Vermummungsverbot.

Dieses Bild gefiel einigen Jugendlichen überhaupt nicht. Sie befanden, dass dadurch der zentrale Syntagmaplatz unter die Kontrolle der dogmatischen Kommunisten gelangen würde. Es dauerte nicht lang bis zu den ersten schimpftiradenreichen Wortgefechten. Außer bösen Worten flogen schnell die ersten Steine und kurzerhand bot sich ein surreales Bild zweier Gruppen, die mit Fahnenknüppeln aufeinander losgingen.

Die Anhänger der Linken trugen teilweise Kapuzen und knallrote Fahnen, die PAME-Fraktion hatten weiße Flaggen mit dem roten PAME-Emblem. Flugs mischten sich die als "die üblichen bekannten Unbekannten" auftretenden, angeblich anarchistischen Schläger in das Wirrwarr.

Nahezu zeitgleich wurden per iPhone-Aufnahmen der vermummten Schläger mit Polizisten verbreitet. Einige davon zeigen die Ordnungshüter zusammen mit Randalieren Arm in Arm stehend bei einer Art Lagebesprechung. Letztendlich löste sich nach dem Eingreifen der Polizisten alles in einer allgemeinen Gewaltorgie auf. Kurz vor 21 Uhr war der Spuk auf dem Syntagmaplatz beendet.

Bis spät in die Nacht wurden in Athens Innenstadt Geschäfte geplündert. Die Straßenzüge um das Stadtzentrum glichen Szenen aus einer Geisterstadt. Lediglich das Autonomenviertel Exarchia war belebt. Statt Schlägertrupps und Molotowcocktails fanden sich auf dem zentralen Platz des Viertels zahlreiche gelangweilte Jugendliche. Einige dröhnten sich mit Drogen zu, andere schlürften ein Bier aus der Dose. Die sonst an Streiktagen übliche Demonstrationsbereitschaft und die traditionellen Krawalle mit der Polizei fielen aus.

Das Volk schrie "Nein" - das Parlament votierte "Ja"

Währendessen passierte im Plenum die letzte Lesung des umstrittenen "Sparpakets" die parlamentarischen Hürden mit den Stimmen der Regierungspartei. Einer nach dem anderen fielen die Parteidissidenten um.

Fast weinerlich begründete Vasso Papandreou, mehrfache Ministerin, PASOK-Urgestein und eine der Hauptstimmen gegen die Sparpolitik ihr erneutes Einknicken. "Es ist das letzte Mal, dass ich umkippe, denn mein Gewissen sagt 'Nein'", entschuldigte sie sich. "Aber Giorgos Papandreou hat mir gesagt, dass wenn nur ein Passus des Gesetzes nicht durchs Plenum kommt, dann verweigert der IWF die sechste Tranche. Das kann ich nicht riskieren", lieferte sie die Begründung für ihren Gewissensbruch gleich mit.

Nur eine der Dissidentinnen, Louka Katseli, stand zu ihrem Wort. Sie stimmte für alle Paragraphen des Gesetzeswerks außer für den, der faktisch die Auflösung aller Arbeitsrechtsvorschriften samt den Tariflöhnen gestattet. Sie schlug vor, den entsprechenden Paragraphen entweder zu entschärfen oder aber mit den Gewerkschaften zu diskutieren und dafür zunächst für zwei Monate auszusetzen.

Dem "Nein" folgte der direkte Parteiausschluss aus dem Mund des Premiers. Papandreou hat somit nunmehr nur noch 153 der 300 griechischen Parlamentarier auf seiner Seite. Noch im Juni 2010 hatte Papandreou für diesen Fall direkte Neuwahlen angekündigt. "Mit nur 153 Abgeordneten werde ich nicht regieren", meinte er damals, als er wieder einmal mit Dissidenten zu kämpfen hatte. Neuwahlen schließt der Premier nun jedoch aus. "Klar, denn er regiert sowieso nicht mehr, das macht nun die Troika", bemerkte eine Kioskverkäuferin am späten Abend dazu.

Für die Griechen geht heute erneut der Alltag los. Wieder werden in ärmeren Stadtbezirken der Hauptstadt Schüler aufgrund von Unterernährung zusammenbrechen. Erneut müssen sie den tagtäglichen Streikplan studieren, um zu wissen, welche Verkehrsmittel fahren und welche Ämter geöffnet sind. Und wie üblich wird die Presse mit Spekulationen beginnen, welche Horrormaßnahmen für die nächste Kredittranche fällig werden.