"Die Nord- und Ostsee sind komplett gemanagte Randmeere"

Der Meeresforscher Prof. Dr. Martin Visbeck über Todeszonen in der Ostsee, die Tragik der Überfischung und eine suboptimale Meerespolitik

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Der Klimawandel geht mit einem Ozeanwandel einher: Die chemische Zusammensetzung sowie das Ökosystem der Weltmeere verändern sich. Diesen fundamentalen globalen Prozess untersucht der Exzellenzcluster Ozean der Zukunft an der Kieler Universität aus der Perspektive verschiedener Disziplinen. Meeresforschen, Geowissenschaftler, Mathematiker, Mediziner, Juristen und Ökonomen haben ein gemeinsames Ziel: Den Ozean besser zu verstehen und damit fachliche Grundlagen für eine nachhaltigere Meerespolitik zu schaffen. Mit Telepolis sprach der Sprecher des Forschungsnetzwerkes und stellvertretender Direktor des IFM-GEOMAR, Prof. Dr. Martin Visbeck.

Kalkskelette der Alge "calcidiscus leptoporus" im heutigen Ozean bei einem pCO2-Wert von 280-380 ppmV. Foto: Ulf Riebesell, Copyright: Leibniz-Institut für Meereswissenschaften (IFM-GEOMAR)

Es gibt Berichte, dass sich in der Ostsee sauerstoffleere Todeszonen gebildet haben. Stimmt das?

Martin Visbeck: In der Tat. Die Ostsee stand in den vergangenen Jahrzehnten teilweise kurz vor dem Umkippen, in etwa 10 bis 20 Prozent der tiefen Regionen kam es zunehmend zur Ausbildung sogenannter Todeszonen, wo es nur wenig oder gar keinen Sauerstoff mehr gibt. Die Ursache ist vor allem der Dünger, der seit 30 Jahren über die Flüsse in die Ostsee fließt und dort das marine Pflanzenwachstum stimuliert. Wenn die Pflanzen und Kleinstlebewesen absterben, sinken sie in die tieferen Schichten hinein, wo ein Kompostierungsprozess einsetzt - Bakterien zerlegen die Biomasse. Den Sauerstoff, den diese Bakterien benötigen, entziehen sie dem Meer.

Bei der Ostsee kommt noch hinzu, dass sie ein Schichtgewässer ist, in dem die oberen Schichten eher Süßwasser sind, während die tieferen Salzwasserschichten aus der Nordsee kommen. Diese können nicht von oben mit frischem Sauerstoff beatmet werden. Wenn ihnen die Luft ausgeht, entstehen Todeszonen. Das ist derselbe Prozess, der einen Teich umkippen lässt.

Kalkskelette der Alge "calcidiscus leptoporus" in einem möglichen zukünftigen Ozean bei einem pCO2-Wert von 580-720 ppmV. Foto: Ulf Riebesell, Copyright: Leibniz-Institut für Meereswissenschaften (IFM-GEOMAR)

Dies ist aber nicht der einzige Wandel, den Sie erforschen...

Martin Visbeck: Mit großer Sorge beobachten wir auch die zunehmende Versauerung der Meere. Das menschengemachte CO2, das den Klimawandel verursacht, bleibt nur zur Hälfte in der Atmosphäre. Der größte Teil der anderen Hälfte landet im Meer. Dort wird er gelöst, was den pH-Wert der Meere verändert. Sie werden saurer.

Die regionalen und globalen Folgen dieses chemischen Wandels erforschen wir im Moment. Wir nehmen aber an, dass so gut wie alle Organismen, die Kalkschalen bilden - Korallen, Muscheln, Schnecken, Plankton - betroffen sind: Ihre Schalen werden instabiler. Dadurch ändert sich deren Wachstum und damit wird sich das Grundernährungsnetz im ganzen Ökosystem verändern. Es gibt etwa die These, dass es in 60 Jahren keine gesunden Riffe mehr geben wird, wie wir sie kennen, weil die Mehrheit der Korallen angeschlagen sind.

Prof. Dr. Martin Visbeck

"Gibt es weniger Fische, übernehmen die Quallen"

Wie wird sich das Ökosystem der Meere verändern?

Martin Visbeck: Ökosysteme gehen nicht kaputt, sondern stellen sich auf neue Gleichgewichte ein. Die einen Lebensformen gehen, die anderen übernehmen - die Frage ist hier auch, ob dieser Wandel unserer Gesellschaft nützt oder nicht. Die dramatischste Veränderung im Tierreich findet bei den Fischen statt: Ungefähr 90 Prozent aller Großfische wurden bis heute weggefischt. Das beeinträchtigt auch die Grundnahrungsketten massiv, weil Fischlarven zum Beispiel in Fresskonkurrenz zu den Quallen stehen. Gibt es weniger Fische, übernehmen die Quallen - was bereits geschieht. Und das wiederum hat offensichtlich negative Folgen für die Ökonomie des Fischfangs.

Sind die Fischer nicht selbst an der Misere schuld?

Martin Visbeck: Die Überfischung der Meere ist eine tragische Angelegenheit, weil wir zumindest in Europa die Möglichkeiten haben, sie aufzuhalten. Die Nord- und Ostsee sind komplett gemanagte Randmeere, so wie unsere Europäischen Wälder - Fangquoten steuern die Bestände von Fischschwärmen. Es gibt keine Schwärme größerer Fische in Nord- und Ostsee, die nicht gewollt sind.

Während man aber bei den Wäldern auf eine mittel- und langfristige Ertragsmaximierung abzielt, geht es in der Fischerei oft nur um eine kurzfristige Arbeitsplatzerhaltung. Sie ist zu einem europaweiten Subventionsgeschäft geworden. Wenn Sie im Supermarkt einen Euro für Fische bezahlen, hat jemand anderes aus Steuergeldern noch einen Euro draufgelegt - ansonsten könnte man in Europa gar nicht mehr fischen, weil die Überfischung die Erträge der Fischer minimiert hat...

"Die Tragik der europäischen Fischereipolitik"

Verstehe ich das richtig: Die Regierung subventioniert den weiteren Abbau der bereits überfischten Bestände?

Martin Visbeck: Genau. Da ist die unbeabsichtigte Folge der Subventionspolitik. Sie hält tragischerweise die Fischbestände klein, wodurch Aufwand und Kosten der Fischerei ansteigen. Ökonomisch macht das keinen Sinn.

Wir haben ein Gedankenspiel durchgerechnet: Würde man per Moratorium den Fischfang für acht Jahre aussetzen, würden sich die Schwärme in den Europäischen Randmeeren sofort erholen und eine ertragreiche Fischerei wieder möglich machen. Das hätte zur Folge, dass dieselbe Summe, die heute für Subventionen rausgeht, an Steuergeldern reinkommen würde - man würde also von einer Subventionswirtschaft zu einer Ertragswirtschaft kommen. Das ist die Tragik der europäischen Fischereipolitik: Obwohl man das Problem heute verstanden und technisch im Griff hat, wird der nachhaltigen Weg nicht konsequent eingeschlagen.

Die Nordsee ist wie die Ostsee ein "gemanagtes Randmeer. Foto & Copyright: Uni Kiel

Wie könnte eine nachhaltige Fischereipolitik aussehen?

Martin Visbeck: Lösungsstrategien erfordern es auch, dass jemand im politischen Geschäft die Sache in die Hand nimmt. Die ideale Lösung wäre, die Fischerei einfach auszusetzten - aber das ist wahrscheinlich politisch nicht durchsetzbar.

Eine Ergänzung im Seerechtes wäre ein erster Schritt in die richtige Richtung, um dem extremen Raubbau in der Hochseefischerei entgegenzuwirken. Außerhalb der 300-Meilen-Küstenzone sind die Fische Allgemeingut. Sie gehören keinem, es gibt keine Fangquoten, keiner ist für deren Erhalt zuständig. Die Hochseefischerei weiß zwar, dass ihr extremes Fischen nicht nachhaltig ist - aber sie ist finanziell davon abhängig, und wenn eine Flotte die Thunfische nicht aus dem Meer holen, wird es eine andere machen. Das ist die Tragik der Allmende.

Würde man den Fischern allerdings einen gewissen Eigenanteil der Schwärme zur Nutzung überlassen, würden sie nachhaltiger fischen und auch besser kontrollieren, ob sich alle daran halten. Denn sonst würde ihr Anteil des Schwarmes wertlos werden. Solche Versuche wurden sehr erfolgreich etwa in Fischereimanagement in Kanada durchgeführt. Mittelfristig gewinnen die Fischer und die Fische dabei.

"Die sicherste, aber auch teuerste Option, CO2 aus dem Klimasystem zu entfernen"

Fehlt dem Wandel des Ozeans die mediale Aufmerksamkeit, um die Politik anzustoßen? Die Probleme des Regenswaldes und des Klimas sind immerhin bei der Öffentlichkeit angekommen...

Martin Visbeck: Der Ozean ist eine Sphäre, die sehr stark vom globalen Klimawandel betroffen ist. Um mit diesen Veränderungen umzugehen, sind relativ drastische Maßnahmen notwendig, die die Zustimmung des größten Teils der Gesellschaft erfordern. Es ist zwar allseits bekannt, dass 70 Prozent der Erdoberfläche vom Meer bedeckt sind und das Meer ein entscheidender Faktor des globalen Klimas ist - aber die Menschen verbinden mit dem Meer normalerweise etwas anderes: Urlaub, Strände, vielleicht die Korallenriffe, in denen man tauchen kann, oder das Meer als wichtigster Transportweg des globalen Güterverkehrs, vielleicht auch deren scheinbar unendliche Größe.

Die Meere sind endlich geworden, aber die Sorgen um den Ozean sind deutlich weniger in der Öffentlichkeit präsent. Am ehesten noch der Anstieg der Temperaturen und des Meeresspiegels, was dramatische Wirkungen auf flache Küstengebiete haben kann. Kaum Beachtung finden jedoch die Probleme, die wir als ebenso groß wahrnehmen: die zunehmende CO2-Konzentration sowie die Überfischung. Um diese Prozesse zu stoppen oder zu verlangsamen, müssten sehr konsequente Maßnahmen ergriffen werden. Diese werden von der Politik im Moment nicht systematisch angegangen. Dasselbe trifft übrigens auf das Potenzial des Ozeans zu.

Methanhydrat, das sogenannte "Brennende Eis" an Deck eines Forschungsschiffes. Foto & Copyright: Leibniz-Institut für Meereswissenschaften (IFM-GEOMAR)

Welche Chancen bietet der Ozean der Zukunft?

Martin Visbeck: Eine große Chance liegt in den Ressourcen, die wir derzeit erst zu entdecken beginnen. Es gibt etwa viele Wirkstoffe von natürlichen Substanzen, die man für die chemische Industrie und medizinische Forschung und Anwendungen nutzen könnte. An Land sind etwa 90 Prozent aller natürlichen Wirkstoffe bekannt, im Meer liegt die Quote dagegen bei rund 20 Prozent. Es gibt derzeit einen Run der chemischen und medizinischen Firmen auf diese Wirkstoffe, die meisten unbekannten liegen allerdings am Meeresboden in der Tiefsee und sind nur mit hohem technischen Aufwand zugänglich.

Eine andere Ressource liegt im Energiebereich, in dem, was klassischerweise im Bergbau betrieben wird. Neben dem Öl gibt es noch weitere Energiequellen im Ozean: Methangashydrate etwa. Das ist Erdgas in gefrorener Form, das unterhalb von 1000 m Wassertiefe und bei Temperaturen von unter 3 Grad vorkommt. Unserer Schätzung nach ist das Reservoir an Gashydraten in der Tiefsee gewaltig: etwa 10 Mal so viel wie alle bekannten Öl- und Gasreserven zusammen.

Von einer umweltfreundlichen und ökonomisch rentablen Ausnutzung dieser Energieträger sind wir aber noch weit entfernt. Und man müsste gleichzeitig auch das CO2 Problem angehen. Auch dazu gibt es Vorschläge CO2 unterhalb von 1000m Wassertiefen in den Sedimenten unter dem Meeresboden einzulagern. Nach unseren Berechnungen wäre das die sicherste, aber auch teure, Option, CO2 aus dem Klimasystem zu entfernen.