Wer führt die EU - und warum nicht?

Die Euro-Krise hat tiefe Risse in Europa offenbart. Die offiziellen Brüsseler Strukturen funktionieren nicht mehr, Merkel sticht Sarkozy aus und weiß doch selbst nicht, wo es lang geht

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Das Gipfeltheater, das in diesen Tagen zur Rettung des Euro in Brüssel aufgeführt wird, hat tiefe Risse in der Führung der Europäischen Union offenbart. Erst stritten Deutschland und Frankreich, die sich traditionell als "Motor" der EU verstehen, so heftig, dass der EU-Herbstgipfel um ein paar Tage verschoben werden musste.

Bild: Der Rat der Europäischen Union

Dann bekam Bundeskanzlerin Angela Merkel zu Hause in Berlin Probleme mit dem Bundestag, der über die Euro-Rettungspläne informiert werden wollte. Deshalb fiel erst die Regierungserklärung am vergangenen Freitag aus, dann wurde ein weiterer Gipfel am kommenden Mittwoch einberufen wurde - ein Novum in der an Kuriositäten reichen EU-Geschichte.

Schließlich beschwerte sich der britische Premier David Cameron, die Euro-Länder neigten zu Alleingängen und forderte, ähnlich wie zuvor schon Polen, besser eingebunden zu werden. Ergebnis: Am Mittwoch wird es nicht nur ein weiteres Euro-Krisentreffen, sondern vorher auch noch einen weiteren EU-Gipfel mit allen 27 Mitgliedern einschließlich Großbritannien geben.

Der angebliche finale Euro-Gipfel, der danach beginnt, dürfte deshalb bis in den Donnerstagmorgen dauern ... wenn es denn "Merkozy" (Merkel und Sarkozy) gelingt, bis dahin ihre Streitigkeiten beizulegen und die Banken von einem radikalen Schuldenschnitt zu überzeugen. Wenn nicht, könnte der Gipfelmarathon dieser Woche genauso ergebnislos verlaufen wie der letzte Krisengipfel am 21. Juli - mit dem kleinen Unterschied, dass dann niemand mehr an die Handlungsfähigkeit Europas glauben wird.

Damit ist das Führungschaos in der EU aber noch nicht einmal vollständig beschrieben. Schließlich gibt es ja auch noch EU-Kommissionschef José Barroso, der zunehmend verzweifelt versucht, seine Behörde in die Aktionen der Euro-Führer einzubinden - zuletzt mit seinen Vorschlägen zur Bankenrettung. Da die Rettungsaktionen zwischenstaatlich organisiert werden und nicht über die Brüsseler Behörde, hat Barroso jedoch wenig Einfluss.

Und dann wäre da noch der neue Ratspräsident Herman Van Rompuy, den Merkel und Sarkozy so sehr mögen, dass sie ihn zum nächsten Eurogruppenchef küren wollen. Der blasse Belgier genießt seine neuen starken Rollen, möchte aber gleichzeitig die Fassade der Gleichberechtigung wahren. Die Krise werde nicht nur in Berlin und Paris gelöst, sagte er am Sonntag, schließlich gebe es ja auch noch die anderen 15 Euro-Länder.

Die haben jedoch kaum noch etwas zu melden. Griechenland ist endgültig zum Bittsteller und Befehlsempfänger degradiert worden, nachdem herauskam, dass sein Finanzbedarf noch wesentlich höher ist als gedacht. Spanien und Portugal ducken sich weg und sind nirgendwo zu sehen oder zu hören. Irland bildet sich ein, die Krise schon hinter sich zu haben, was dem Land ein ausdrückliches (Eigen-)Lob von Sarkozy einbrachte.

Ganz bitter hat es Italien erwischt: Das einst stolze Gründungsmitglied der EU ist unter die Räder der Märkte geraten und muss nun den Weisungen der EZB und des deutsch-französischen Duos folgen. Beim Gipfel am Sonntag wurde Regierungschef Silvio Berlusconi denn auch von Merkel und Sarkozy ins Gebet genommen. Am Ende gelobte er Besserung, bereits am Montag soll sein Kabinett nachsitzen und die geforderten Reformen auf den Weg bringen.

Deutsche Führungsrolle und die Erosion der EU-Strukturen

So viel zur aktuellen Gipfel-Lage, wie sie sich im Jahre zwei nach Beginn der Schuldenkrise in Griechenland darstellt. Die Vollversammlung der Vereinten Nationen könnte verwirrender nicht sein, von straffer Führung ist in der EU keine Spur. Hinter diesem Durcheinander stehen politische und ökonomische Verwerfungen, an denen Europa noch lange knabbern dürfte.

Politisch ist es wohl so, dass Deutschland seine Führung endgültig zementiert hat - wie anders soll man es interpretieren, wenn EU-Gipfel neuerdings auf das Placet des Bundestags warten müssen? Was als legitime Forderung der Volksvertreter begonnen hat, scheint in einen deutschen Sonderweg zu münden - und beginnt die Nachbarn schwer zu nerven.

Luxemburgs Regierungschef Jean-Claude Juncker sprach aus, was viele denken: "Das Organisationstempo in Berlin ist langsamer als in den anderen Hauptstädten", kritisierte er in Brüssel. Er habe zwar Verständnis dafür, dass der Bundestag auf seinem Budgetrecht bestehe, "aber das darf nicht dazu führen, dass die EU nicht in der gebotenen Schnelligkeit reagieren kann".

Den Briten scheint die deutsche Dominanz ebenfalls große Sorgen machen, sonst gäbe es ja nicht diesen ominösen zweiten EU-Gipfel am Mittwochabend. Auch Polen muckt immer öfter auf - schließlich will man sich die aktuelle EU-Ratspräsidentschaft nicht völlig aus den Händen nehmen lassen.

Frankreich hingegen hat sich mit der Rolle des Juniorpartners längst abgefunden. Wie selbstverständlich reist Sarkozy jetzt vor jedem EU- und Eurogipfel nach Berlin oder Frankfurt, um sich dort von der Kanzlerin die Leviten lesen zu lassen. Wie selbstverständlich stellt er vor dem Gipfel weitreichende (und oft wichtige und richtige) Forderungen, um hinterher sang- und klanglos auf die Linie Deutschlands einzuschwenken.

Schuld daran ist nicht etwa ein nachlassendes Ego Sarkozys, sondern die im Vergleich zu Deutschland schwindende Wirtschaftskraft Frankreichs und der wachsende Druck der Märkte - womit wir beim dritten und letztlich wohl entscheidenden Aspekt, der Ökonomie, wären.

Seit der Ankündigung der Ratingagentur Moody's, Frankreichs AAA-Rating auf den Prüfstand zu stellen, kann Sarkozy nicht mehr auf Augenhöhe mit Merkel reden und agieren. Seine Führungsrolle verdankt er vor allem dem Umstand, dass er aktiv und kreativ agiert - im Gegensatz zur passiven, abwarteten Haltung Merkels. Außerdem kann es Merkel sich einfach nicht leisten, die EU ganz allein aus Berlin zu führen.

Nicht viel besser sieht es in den anderen großen Volkswirtschaften aus. Die einstige Nummer drei im Wirtschafts-Ranking, Italien, ist ganz weit abgerutscht, und Großbritannien spielt ohne den Euro ohnehin nicht in derselben Liga. Außerdem gibt es seit Sonntag eine neue Kategorie der de facto bankrotten EU-Länder: denn nichts anderes bedeutet der geplante Schuldenschnitt von bis zu 50 Prozent für Griechenland.

Vor diesem Hintergrund mutet es merkwürdig an, wenn Barroso, Van Rompuy und selbst Merkel immer wieder die Einheit der EU beschwören und eine gemeinsame Führung fordern. Die Einheit ist, unter dem Druck der Märkte, längst zerbrochen, und in der Führung werden die Karten gerade neu gemischt. Dabei sind die offiziellen EU-Strukturen längst aufgeweicht.

Die EU-Kommission wurde bei den Rettungsaktionen an den Rand gedrängt, im Ministerrat geben Merkel und Sarkozy den Ton an, und das letzte Wort hat immer wieder die Kanzlerin. Zu dumm, dass Merkel selbst nicht genau weiß, wo es lang geht: Man gehe nach dem Prinzip "trial and error" vor, räumte sie am Sonntag beim Auftakt des Brüsseler Gipfelmarathons ein.

"Wir müssen auch lernen und die Folgen unserer Entscheidungen abschätzen", rechtfertigte sie sich für die mageren Ergebnisse ihres Krisen-Managements. Und dann muss Merkel natürlich noch ihren Laden in Berlin zusammenhalten, den Bundestag einbinden und die Banken auf ihre Seite ziehen.

Kein Wunder, dass in dieser Gemengelage immer wieder die Märkte die Oberhand behalten ...