Projekt- und Therapieziel: Kinderseelen retten!

Der Sexualwissenschaftler und Psychoanalytiker Klaus Michael Beier im Gespräch

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Während das Bundeskriminalamt, die Landeskriminalämter und Polizeidienststellen alle Register der kriminalistischen Kunst ziehen und unermüdlich mit hohem Engagement die Schwächsten in der Gesellschaft, sprich Kleinkinder, Kinder und Jugendliche, vor sexuellen Übergriffen und Gewalttaten zu schützen und straffällig gewordene Täter zu überführen versuchen, existiert auch eine andere Ebene, bei der die Präventionsarbeit im Vordergrund steht. Dem Missbrauch an Minderjährigen entgegentreten und vorbeugen will auch der Sexualwissenschaftler Klaus M. Beier, Direktor am Institut für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin an der Berliner Charité.

Seit 2005 leitet er hier ein weltweit einzigartiges Präventionsprojekt gegen Kindesmissbrauch. Im Rahmen des Projekts Dunkelfeld behandeln Beier und sein Team unter dem Motto "Kein Täter werden" pädophile Patienten, die befürchten, sich in Zukunft an Kindern zu vergehen oder sich bereits an Kinder vergriffen haben. Die Anmeldung ist freiwillig - die Therapie für den Interessenten kostenfrei. Sie erfolgt völlig anonym und hat für den Probanden keine rechtlichen Konsequenzen. Beier verweist darauf, dass die bisherigen vorbeugenden Therapien und Maßnahmen bei behandlungswilligen pädophilen Männern Wirkung gezeigt haben.

Beier geht von dem therapeutischen Ansatz aus, dass Pädophile ihre sexuelle Neigungen durchaus kontrollieren können, vor allem wenn ihnen der Perspektivenwechsel gelingt, sich in die Situation und Gefühlswelt des Kindes bzw. potenziellen Opfers hineinzuversetzen. Für Beier hat die Unversehrtheit und der Schutz des Kindes höchste Priorität. Gleichwohl warnt er davor, Menschen mit pädophiler Neigungen zu ächten. Sein Credo: Pädophil zu sein per se ist kein Verbrechen. Nur wer sich wirklich an Kinder vergreift oder kinderpornografisches Material konsumiert begeht ein Verbrechen! Prof. Beier ist sich darüber im Klaren, dass sein Therapieansatz infolge des sehr emotional besetzten Themas auch weiterhin Kritik provozieren wird.

Verhaltenskontrolle, aber nicht Heilung

Sie definieren Pädophilie als eine Störung der sexuellen Präferenz. Während die Weltgesundheitsorganisation (WHO) diese als eigenständige Krankheit klassifiziert, charakterisieren Sie Pädophilie eher als chronische sexuelle Störung, die sich ab der Jugend heraus prägt und bis zum Lebensende bestehen bleibt. Sie ist nicht heilbar, dafür aber kontrollierbar und somit therapierbar. Gehen Ihre Kollegen inzwischen mit dieser Definition konform?

Klaus Michael Beier: Das geht hier ein wenig durcheinander, gibt aber vielleicht gleich Gelegenheit, Klarheit zu schaffen. Im ICD-10, dem Klassifikationssystem der WHO, wird die Pädophilie als Störung der sexuellen Präferenz zugeordnet und im Diagnose-System der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung, dem DSM-IV-TR, als Paraphilie, wobei in beiden Fällen die sexuelle Ansprechbarkeit auf den kindlichen Körper gemeint ist und von einem eigenständigen krankheitswertigen Störungsbild ausgegangen wird. Unterschiedliche Auffassungen gibt es allenfalls über den Verlauf und die erreichbaren Therapieziele. Das bisher verfügbare Wissen muss man meines Erachtens so zusammenfassen, dass sich die Pädophilie - wie alle sexuellen Ausrichtungen - im Jugendalter manifestiert und dann über das weitere Leben unverändert bestehen bleibt.

Das gilt also auch für die sexuelle Ausrichtung auf das erwachsene Körperschema. Darum handelt es sich bei der Pädophilie um eine chronische, lebensüberdauernde Problematik. Ein realistisches Therapieziel ist die Verhaltenskontrolle, aber nicht die Heilung im Sinne einer Auflösung oder Veränderung der sexuellen Präferenz selbst. Es gibt unter meinen wissenschaftlichen Kollegen keinen Zweifel darüber, dass es sich bei Pädophilie um eine sexuelle Präferenzstörung handelt. Und hinsichtlich des Verlaufs hat bisher niemand Daten vorgelegt, dass sich die pädophile Sexualpräferenz ändern ließe.

Der Terminus "Hebephilie" ist in der Öffentlichkeit relativ unbekannt. Wie ist dieser von der Pädophilie abzugrenzen?

Klaus Michael Beier: Bei der Pädophilie können sie - und das ist unser wichtigstes Erkenntniskriterium - bei kooperationsbereiten Menschen, die wahrheitsgemäß antworten, das Körperschema anhand ihrer Begleitfantasien bei der Masturbation sowie der Fantasien bestimmen, die ihre Erregung grundsätzlich begleiten. Bei jedem Menschen, der mir bereitwillig Auskunft gibt, kann ich die Präferenzstruktur explorieren. Ich würde hierbei den Probanden beispielsweise fragen, inwieweit in seiner Fantasie Männer oder Frauen auftreten und könnte dadurch das von ihm präferierte Körperschema erfassen. Ich würde erkennen, ob er das kindliche Körperschema als erregend wahrnimmt oder nicht.

Uns geht es bei der Diagnose nicht um das kalendarische Alter, sondern um das Körperschema, das sich gut beschreiben lässt. Hier gibt es alle möglichen Ausformungen, vom Kleinkind-, Grundschulkind- bis hin zum jugendlichen Körperschema, das durch den Übergang vom Kind zum Mann oder zur Frau gekennzeichnet ist. Hebephil orientierte Männer etwa reagieren auf den jugendlichen Jungen- und Mädchenkörper während der Pubertät.

Wir explorieren immer drei Achsen: Erstens interessieren wir uns dafür, auf welches Geschlecht der Betreffende orientiert ist. In den allermeisten Fällen fokussiert sich der Patient auf nur ein Geschlecht. Zweitens erfassen wir konkret das präferierte kindliche oder jugendliche Körperschema. Und zuletzt nehmen wir die Sexualpraktiken auf, bei denen ein breites Spektrum existiert. So schauen sich manche Patienten nur den Körper in ihrer Fantasie an, andere nehmen direkt Kontakt zum Kind auf und fassen den Körper an oder penetrieren das Kind auf verschiedene Art und Weise. Darüber hinaus gibt es noch weitere Praktiken, die eine Rolle spielen können. Letzten Endes können wir alles sehr gut auswerten, sofern der Patient uns wahrheitsgemäß Auskunft gibt.

Der sexuelle Missbrauch an Kindern und Jugendlichen ist wohl so alt wie die Menschheit selbst. Denken wir an die literarisch verklärte Knabenliebe bei den Griechen, den sexuellen Missbrauch im Römischen Reich an minderjährigen Sklaven, an die Vorliebe Kaiser Tiberius‘ für kindliche Sklaven oder etwa an Ludwig XV., der sich mit Hilfe von Madame de Pompadour in Versailles ein privates Kinderbordell ("Hirschpark") errichten ließ, und nicht zuletzt den sexuellen Missbrauch durch kirchliche Würdenträger seit Beginn des Christentums - die Liste der historisch dokumentierten Schandtaten, in der Regel begangen von Männern, ist lang - und die geschichtliche Dunkelziffer dürfte enorm hoch sein. Ist Anno Domini 2011 der Missbrauch an Kindern immer noch eine unbezwingbare Hydra der Menschheit?

Das natürliche Spektrum sexueller Aktivitäten und Ausrichtungen geht weit über das als "normal" Angesehene hinaus

Klaus Michael Beier: Zunächst möchte ich eine weit verbreitete Annahme korrigieren: Es gibt heute noch Ethnien, in denen die pubertierenden Jungen im Sinne von Initiationsriten sexuelle Handlungen an den erwachsenen Männern vornehmen müssen, bevor sie selber in der Hierarchie zum Krieger aufsteigen. Bei den Griechen war das mutmaßlich ähnlich. Die Verhaltensäußerung darf man eben nicht mit Pädophilie gleichsetzen, weil eben auch nicht-pädophile Männer und Frauen Sex mit Kindern haben können und dies aus verschiedenen Gründen in menschlichen Gesellschaften immer vorkam.

Etwas anderes ist die Pädophilie und ein aus ihr resultierendes sexuelles Interesse an Kindern. Die gab es allerdings auch schon immer und betraf dann sicher nur einen kleinen Teil der Männer und nicht die Mehrheit. Ich bin überzeugt davon - und das sehe ich zugleich als wichtigen Lernprozess für die Gesellschaft -, dass die uns bekannte sexuelle Bandbreite mit all ihren Verästlungen und unterschiedlichen Körperschemata zur menschlichen Sexualität schlichtweg dazugehört.

Die Entwicklung der sexuellen Orientierung ist abhängig von bestimmten Faktoren. Es ist ein höchst komplexer Vorgang. Ich glaube, dass sich die Menschen zu wenig darüber im Klaren sind, dass das natürliche Spektrum sexueller Aktivitäten und Ausrichtungen weitaus breiter ist, als das, was gesellschaftlich als "normal" angesehen wird. Hierzu gehören alle Erscheinungsformen - auch die seltenen. Und ferner sind neben biologischen Mechanismen der Gehirnentwicklung auch kulturelle Faktoren zu berücksichtigen. Einen Gummifetischismus kann ein Betroffener nur ausbilden, wenn Gummi in seiner Umgebung verfügbar ist, das heißt kulturell hervorgebracht worden ist.

Der Mensch entwickelt sich in seiner Jugend unter dem Einfluss biologischer und kultureller Faktoren. Das gilt eben auch für die sexuelle Ausrichtung, die dann ab dem Ende der Jugend festgelegt ist, was auch deshalb Sinn macht, weil diese beim häufigsten Fall, also bei der Orientierung auf das erwachsene Körperschema des Gegengeschlechts, für die Familiengründung elementar ist. Dauerhafte Bindungen lassen sich schlecht etablieren, wenn sich die sexuellen Präferenzen jeden Tag grundsätzlich ändern würden. Der vor diesem Hintergrund ziemlich sinnvolle Mechanismus einer Fixierung der sexuellen Präferenzstruktur nach Herausbildung im Jugendalter gilt eben auch für die selteneren sexuellen Erscheinungsformen, wozu die Pädophilie zählt.

Warum kristallisiert sich Ihrer Definition nach die Neigung Pädophilie ausgerechnet zu einem Zeitpunkt heraus, an dem die Betroffenen selbst noch jugendlich sind. Ist dies nicht eine bittere Ironie des Schicksals?

Klaus Michael Beier: Noch mal: Es ist ein allgemeiner Mechanismus, den wir hier bei der Entwicklung des sexuellen Erlebens von Menschen annehmen müssen. Am Ende der Jugendphase wird die individuelle sexuelle Programmierung gewissermaßen arretiert. Bei sehr vielen Menschen endet das in der Ausrichtung auf das Gegengeschlecht sowie das erwachsene Körperschema. Nur bei einer kleineren Gruppe wird dieser Prozess mit der Fixierung auf das kindliche Körperschema abgeschlossen.

Darum ist es auch wichtig, dass man den betreffenden Menschen ihre Neigung nicht zum Vorwurf machen darf. Eine Ironie des Schicksals ist also eher, dass man von der Gesellschaft für etwas ausgegrenzt wird, für das man nichts kann. Das wäre so, als ob man jemanden nicht respektieren würde, weil er Linkshänder ist. Das Einzige, was man dem Linkshänder vorwerfen dürfte, wäre, wenn er anderen Schaden zufügt. Also kann es nur um Verhaltenskontrolle gehen.

Der Landauer Sexualwissenschaftler Norbert Kluge verwies bereits 2006 in einer Studie darauf, dass Kinder in Deutschland immer früher ihre Pubertät durchleben. Während das Durchschnittsalter eines Mädchens im Jahr 1860 bei ihrer ersten Periode noch bei 16,6 Jahren lag, bekommen Mädchen heute im Durchschnitt bereits mit elf Jahren erstmals ihre Periode. Hat diese Entwicklung, die von anderen Studien gestützt wird, einen Einfluss auf das diffizile Problemfeld Pädophilie?

Klaus Michael Beier: Nicht bezüglich der Pädophilie, aber bezüglich der Hebephilie. Das Durchschnittsalter bei Kindern, die in unserem Kulturkreis in die Pubertät kommen, liegt im Übrigen bei etwa zwölf Jahren, die Geschlechter unterscheiden sich hinsichtlich des Eintrittalters nur unwesentlich. Das heißt aber auch, dass sie ab zwölf Jahren das präpubertäre Körperschema verlassen und die körperliche Sexualentwicklung jetzt genau jene Übergangsstufe des jugendlichen Körperschemas formt, worauf Männer mit hebephiler Neigung dann ansprechen. Es handelt sich bis zum Alter von 14 Jahren aber um Minderjährige, deren Entwicklung zu Recht besonders geschützt werden muss.