Die Geburt eines Bewusstseins

Die Occupy-Bewegung in den Vereinigten Staaten

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Unter den vielen geflügelten Worten, welche die Occupy-Bewegung in den Vereinigten Staaten hervorgebracht hat, stößt man immer wieder auf: "the process is the movement". Auf den ersten Blick erscheint dieser Slogan als nicht mehr als nur eine defensive Rechtfertigung des oft beanstandeten Mangels an klaren Forderungen. Mainstream-Medien, die mit der Berichterstattung ihre Probleme haben, interpretierten die Bewegung entsprechend.

Tatsächlich ist "the process is the movement" eine recht zutreffende Beschreibung der Eigenheit und potentiell des revolutionären Charakters dieser Bewegung in den Vereinigten Staaten. Dass deutsche Medien "Occupy" global als diffuses Event-Wutbürgertum missverstehen, ist wohl vor allem deren ethnozentrischer Beobachtungsweise geschuldet.

Um die Explosivkraft der "Bewegung als Prozess" zu erfassen, muss man die Occupy-Bewegung im Kontext der amerikanischen Gesellschaft zu verorten wissen. Im Gegensatz zur sozio-politischen Landschaft Europas kennt die amerikanische Öffentlichkeit anti-hegemonialen Diskurs nur aus der Distanz. Seit Jahrzehnten verengt sich hier das "Sich-Selbst-Erzählen" der Gesellschaft nicht einfach nur auf von rechts dominierte Themen. Diese werden durch im Grunde nationalistische and pro-kapitalistische "free-market"-Narrative erzählt. Das darauf aufgebaute Bewusstsein ist, in klassischer marxistischer Diktion, ein falsches: ein ideologischer Überbau, der sich von der immer schneller wandelnden Sozialstrukur des Landes schon lange abkoppelt hat, aber wegen seines festen Fundaments der tief in der Gesellschaft verankerten Gründungs- und Wandlungsmythen nur schwer erschüttert werden konnte.

Noch heute sprechen jeden morgen zu Schulbeginn Millionen Grundschüler den Pledge of Allegiance, einen Treueschwur auf die amerikanische Fahne und die Republik, für die sie steht (Welchen Treueschwur zum 226. Unabhängigkeitstag der USA?). Vor jedem Sportereignis, ob groß oder klein, erheben sich die Bürger, um gemeinsam die Nationalhymne zu singen. Ebenso selbstverständlich ist die Annahme, dass die Vereinigten Staaten das reichste und freieste Land der Welt seien - den widersprechenden Fakten zum Trotz.

Dass jeder, der nur hart genug arbeitet, wirtschaftlich Erfolg haben kann, wird täglich in Medien durch Tellerwäschergeschichten einerseits und Geschichten vom Scheitern andererseits wieder bestätigt. Selbstverständlich ist dabei auch, dass persönliches Glück und Unglück das Resultat individueller Entscheidungen ist; den Einfluss gesellschaftlicher Strukturen als folgenschwer für individuelle Lebensläufe bewusst zu machen, gilt in weiten Teilen der amerikanischen Öffentlichkeit als anti-amerikanisch.

Gegenentwürfe zur herrschenden amerikanischen Ideologie wurden an den Rand gedrängt

Natürlich existieren auch Gegenentwürfe, Beschreibungen amerikanischer Wirklichkeit, die sich der Unerreichbarkeit des amerikanischen Traums für weite Bevölkerungsschichten widmen und den Traum als Vision, nicht als realitätsblinde Träumerei oder Fantasievorstellung verstehen, welche in der Konsequenz soziale Ungleichheit legitimiert. Diese Gegenentwürfe waren jedoch bis zu Beginn der Occupy-Bewegung an den Rand des politischen und öffentlichen Diskurses gedrängt, und falls sie doch aufgegriffen wurden, fungierten sie eher als die Ausnahme, die die Regel bestätigt.

Was die Tea Party nämlich am deutlichsten von der Occupy-Bewegung unterscheidet, ist ihr Beharren auf der Relevanz der hyper-individualisierten Konzeption Amerikas. Die Selbstbeschreibungen marginalisierter Gruppierungen werden da als Nestbeschmutzerei und Ursache aller Probleme gesehen, die Amerika gegenwärtig plagen: getreu dem Motto, dass dann, wenn nur alle dem amerikanischen Traum folgten und Verantwortung für sich selbst übernähmen, die "unsichtbare Hand" des Marktes (oder wahlweise Gottes) schon für das rechte Auskommen sorgen würde.

Dagegen entstammten alternative Gesellschaftsbeschreibungen solchen Diskursen, die in speziellen, relativ isolierten Lebenswirklichkeiten begründet waren. In einem Land so groß und kulturell, ethnisch, ökonomisch, regional und religiös vielfältig wie den Vereinigten Staaten existieren zahllose relativ isolierte soziale Netzwerke, die jeweils ihre eigenen Gegen-Beschreibungen amerikanischer Wirklichkeit generieren. Sozial und kommunikativ sind diese Subkulturen jedoch an den Rand der Mainstream-Gesellschaft verbannt. Kommunikativ passen ihre Sprache und ihre Geschichten nicht zum massenmedial täglich erneuerten Mythos Amerikas; sozial sind diese Gruppen oft isoliert und ausgegrenzt.

Als Faustregel kann gelten, dass Gruppen, deren Existenz, Lebenswirklichkeit oder politische Anschauung nicht dem Mythos der USA als "Land der Mutigen und Freien" entsprechen, sich im öffentlichen Raum fast schon beschämt zurückhalten. Kaum ein "Liberaler" (was hier der Sammelbegriff für Nicht-Konservative ist) steht offen zu diesem fremddefinierten Label, zu sehr ist der Begriff negativ besetzt.

Zersplitterung und Sprachlosigkeit der Opposition

Die wichtigste Konsequenz hegemonialen Wissens ist die Marginalisierung und Zersplitterung alles anderen Wissens. Über Jahrzehnte hinweg hat davon die amerikanische Rechte profitiert - politisch wie finanziell. Amerikas "Linke" jedoch gibt es als organisierte Kraft nicht. Traditionell "linke" Anliegen sind voneinander relativ isoliert, sowohl sozial als auch kommunikativ.

Ob Klimawandel, Armut, Arbeitslosigkeit, Naturschutz, exzessive Polizeigewalt, Einwanderung, Frieden - diese Probleme werden im Politikbetrieb nur als voneinander isolierte "issues" wahrgenommen und behandelt, wiewohl damit implizit natürlich die Relevanz und Legitimation des hegemonialen Bewusstseins bestätigt wird.

Die Advokaten der marginalisierten Anliegen hatten deshalb immer mit der strategischen Frage zu kämpfen, ob man versucht, innerhalb des Systems kleine Fortschritte zu machen oder einen umfassenden Gegenentwurf zu erstellen, der zum Beispiel die Privatisierung von Staatsfunktionen mit der wachsenden Gefängnisindustrie, der nunmehr ökonomisch untermauerten Rassensegregation, der Einkerkerung schwarzer Männer, der Bildungsindustrie und der sich schon anbahnenden ökologischen Katastrophe der massiven Zersiedlung verbindet. In passiver Legitimation des herrschenden Diskurses trafen die meisten Aktivisten und Interessengruppen die taktische Entscheidung, sich davor zu hüten, mit anderen, wenn auch im Grunde verwandten Gruppen zusammenzuarbeiten, auch und gerade weil eine solche Zusammenarbeit oft mit der Angst vor Vereinnahmung und deshalb Verlust an Glaubwürdigkeit innerhalb des hegemonialen Diskurses verbunden war.

Als vor nunmehr drei Jahren Barack Obama die Präsidentschaftswahl gewann, war der Freudentaumel unter den bis dato marginalisierten Interessengruppen groß. In der von innerstädtischer Armut besonders betroffenen Stadt Cincinnati, im kritischen Swing-State Ohio gelegen und ausschlaggebend für den Wahlerfolg Obamas, zogen Gruppen von Schwarzen mit Megaphonen durch die Innenstadt und schafften ihrem Glück in wunderbarstem Herbstwetter Gehör: "Yes we did!" Was vielen jedoch nicht klar war, und was die verwirrte Diskussion um die Reform des Gesundheitswesens im nächsten Jahr überdeutlich machte, war, dass der politische Prozess ohne weiteres Eingreifen immer noch in den hegemonialen Narrativen verhaftet bleiben würde.

Es fehlten schlicht und einfach die Worte, Konzepte und Narrative, mit denen der erhoffte Wandel hätte erfasst, beschrieben, ausgemalt und verwirklicht werden können. Die allgemein verfübare Sprache war zu intim mit bestandswahrender Ideologie verwoben, um Wandel zu ermöglichen und die vielfältigen Gegenentwürfe nicht genug semantisch vernetzt, um Breitenresonanz zu erlauben.

Occupy-Bewegung schafft eine andere Öffentlichkeit

In diesem Kontext stellt die fast schon ermüdend langsam erscheinende Entwicklung der Occupy-Proteste potentiell einen Quantensprung dar. Die rudimentärste Errungenschaft dieser Bewegung ist schon heute, dass Themen öffentlich debattiert werden, die vor kurzem in den Mainstream-Medien entweder tabu waren oder durch Einbettung in den zutiefst negativ besetzten Rahmen des Klassenkampfes als abseitig persifliert wurden.

Noch vor wenigen Monaten waren Daten zur Einkommensverteilung in den Vereinigten Staaten das Spielfeld von spezialisierten (und kaum wahrgenommenen) Sozialwissenschaftlern, die hier sowieso immer dem Generalverdacht des "Liberalismus" ausgesetzt waren. In den letzten Wochen jedoch überboten sich etablierte Medien geradezu mit Grafiken und Statistiken, die die immense Ungleichverteilung von Reichtum und Einkommen diskutierten.

Dies ist jedoch wirklich nur die oberflächlichste der Wirkungen dieser Bewegung. Noch grundlegender als der Einfluss auf "agenda setting" ist die Bewegung als Prozess in doppelter Hinsicht. Die einzelnen Occupation-Camps mit ihren Konsensprozessen stellen einen realen Raum dar, in denen verschiedenste Gruppen und marginalisierte Interessen sich kennenlernen und sich gegenseitig ihre Geschichten erzählen: zum ersten Mal seit langem ungefiltert vom hegemonialen Diskurs.

Die Begeisterung, mit der Akademiker, Obdachlose, Alt-Hippies und all die anderen "Besetzer" und ihre lokalen Unterstützer jeden Abend voneinander hören, Solidaritätsbekundungen vernehmen und aufsetzen und Delegationen aus anderen Städten, Stadtteilen und Milieus aufnehmen, spiegelt dies wider. Jürgen Habermas hätte an den Generalversammlungen seine Freude. Der "herrschaftsfreie Diskurs" ist aber lange nicht mehr auf die Generalversammlungen beschränkt. In Arbeitsgruppen und - nicht ohne ein gewisses Maß an Selbstbegeisterung in Anlehnung an den "arabischen Frühling" - in Internetforen, Wikis und via Twitter, Facebook und Youtube formiert sich ein lebhafter Austausch von Ideen und Erfahrung vor und mit der Occupy-Bewegung auch im Internet.

Dieser Prozess, die Auseinandersetzungen miteinander und mit der staatlichen und ökonomischen Obrigkeit, erlaubt dieser Bewegung aber auch, ein eigenes Narrativ zu generieren, selbst Geschichte zu schreiben. Dieser Aspekt ist angesichts der bisherigen Zersplitterung der Mehrheit der amerikanischen Gesellschaft kaum zu überschätzen. Dass diese Bewegung dabei nicht auf die Forderungen nach ausgefeilter Public Relations und kalkulierter Öffentlichkeitsarbeit hereinfällt, scheint - den Unkenrufen der Medien zum Trotz - gerade die Quelle der größten Hoffnung für den langfristigen Erfolg der Bewegung zu sein.

Van Jones, Vorkämpfer der grünen Bewegung, Princeton Professor und selbst Opfer des rechtslastigen politischen "common sense", erklärte kürzlich bei einer Ansprache im Occupy-Camp in Boston seinen Enthusiasmus für die Bewegung unter anderem damit, dass die Reaktion der New Yorker Occupation friedlich und diszipliniert war, nachdem ein Polizist gewaltlos demonstrierenden Frauen öffentlichkeitswirksam Pfefferspray in's Gesicht sprühte.

When these two women were pepper-sprayed in New York City, [the police officer] didn't know that he was responsible for watering a movement. People then could have thrown rocks and bombs, and that's perhaps what the police was waiting for, but what they did was to stay nonviolent, they kept the discipline, and came back and said that they were not fighting the cops - they are part of the 99% too.

Noch bedeutender für die Bewegung war jedoch die Verletzung des Marineinfanteristen Scott Olsen, der im kalifornischen Oakland von einer Tränengaspatrone am Kopf verletzt wurde und nun in einem Krankenhaus behandelt wird, das sich explizit der Sorge um benachteiligte Bevölkerungsgruppen verschrieben hat. Dass Demonstranten, die Olson zu Hilfe eilten, vorsätzlich mit einer weiteren Tränengaspatrone beworfen wurden, rundete diese - für viele in der Bewegung definierende - Begebenheit ab. Es ist kaum zu überschätzen, wie viel Resonanz Olsons Geschichte in Bevölkerungskreisen erzeugt hat, die sonst der Polizeigewalt grundsätzlich unterstützend gegenüberstehen und keine eigene Erfahrung mit Polizeibrutalität haben.

Nicht umsonst ist Oakland derzeit wohl die dynamischste der amerikanischen Besetzungen. In der auf den heftigen Polizeieinsatz folgenden Nacht kamen Tausende zusammen, um den Platz wieder einzunehmen. Während der dann stattfindenden Generalversammlung wurde gleich (nach stundenlanger Diskussion und einer Abstimmung) ein Generalstreik für den 2. November ausgerufen, dem sich mehrere Gewerkschaften angeschlossen haben.

Mit jeder weiteren Stadt, in der die Polizei mit Gewalt gegen Besetzer vorgeht, ebenso wie mit Geschichten aus Städten, in denen sich die Polizei und andere Gruppen mit den Protesten solidarisieren, verdichtet sich das Material für ein Narrativ der Bewegung, die sich in Solidarität gegen Widrigkeiten behauptet und dabei ihren Idealen treu bleibt.

Lösungen für Obdachlosigkeit und Drogenmissbrauch

Damit allein ist natürlich ein Erfolg, wie auch immer der aussehen mag, nicht garantiert. Im Gegenteil. Der einbrechende Winter im Nordosten, der einen großen Teil der Besetzungen nun betrifft, stellt eine große Herausforderung dar. Nicht ohne Grund halten sich Gerüchte, dass New Yorks Bürgermeister und Multi-Milliardär Bloomberg kalkuliert, die Generatoren des New Yorker Camps unter Sicherheitsbedenken beschlagnahmen zu lassen. Auch kommen Indizien ans Tageslicht, die darauf hindeuten, dass die New Yorker Polizei bewusst Obdachlose, Drogenabhängige und frisch entlassene Häftlinge in Parks der Stadt auf das Camp im Liberty Square als rechtsfreie Zone aufmerksam macht und zum Umzug ermuntert, was Konflikte und Reibungsverluste im Camp erhöht und in Medien gern wiederholten Vorwürfen, die Camps seien unsicher und unhygienisch, zuarbeitet.

Ob diese Strategie aufgeht und die räumlichen Zentren der Bewegung zermürbt, bleibt abzuwarten. Ebenso möglich ist, dass diese Herausforderungen zum weiteren Reifen der Bewegung führen. In Boston, wo die Stadtverwaltung kürzlich Obdachlosenheime geschlossen hat und die Offenheit des Camps mit seiner Küche, dem Sanitätszelt, gespendeter Kleidung, und der (gewollten) Abwesenheit der Polizei auch Obdachlose anzieht, wurde das Problem nun häufiger auf Generalversammlungen thematisiert.

Zwar schien dies noch etwas unbeholfen, doch ist so Obdachlosigkeit und Drogenmissbrauch nun auf der Agenda, Teil der Bewegung, und Teil des entstehenden Bewusstseins. Arbeitsgruppen suchen nun nach solidarischen und praktischen Lösungen, die das Problem thematisieren und die Stadtverwaltung gerade nicht aus ihrer Verantwortung entlassen. So werden zum Beispiel Kooperationen mit Gewerkschaften, Kirchen, Moscheen und Synagogen aufgebaut, die, so die Hoffnung, einerseits im Winter als Rückzugsräume und Ressourcen für Besetzer dienen, und andererseits der Bewegung erlauben, sich stärker in verschiedenen 'communities' zu verankern.

Anstatt Zwietracht zu säen und die Camps von innen heraus aufzulösen, könnte sich also auch diese Strategie als Bärendienst an der Bewegung erweisen. Ihr Erfolg hängt längst nicht mehr vom Schicksal einzelner Besetzungen oder gar geschickt formulierten und in Szene gesetzten Forderungen der Gesamtbewegung ab. Schon jetzt sind sowohl die einzelnen Themen und Anliegen der verschiedenen Protestgruppen ins Rampenlicht gerückt. Zum ersten Mal seit einem halben Jahrhundert spricht man über Einkommensverteilung und die Moralität des Kapitalismus und identifiziert so eine "andere Welt". Van Jones formulierte diese Ansicht etwa so:

Demands haven't been in short supply, but they haven't been heard. The movement we are building is not powerless enough to have demands. People with power don't have demands, they have goals. This movement doesn't have demands, because it has goals, dreams, and aspirations.

Zum ersten Mal seit den 1970er Jahren ist damit eine Bewegung unterwegs, die die Chance und das Ziel hat, ein gemeinsames Bewusstsein zu entwickeln, bestehend aus einer gemeinsamen Geschichte, und gemeinsamen Zielen. Ob dies gelingt, wird sich zeigen; die ersten Pflastersteine hat die Bewegung jedenfalls schon gelegt.