Quo vadis Graecia?

Papandreou wirft Europa durcheinander

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Chaos ist ein griechisches Wort. Es geht drunter und drüber in Griechenland. Aber nicht nur in Hellas brodelt es. Die gesamte Finanzwelt ist in Aufruhr wegen der letzten Entscheidungen "ihres" griechischen Premiers, Giorgos Papandreou. Nicola Sarkozy und Angela Merkel reagierten ebenso entsetzt wie Papandreous Parteigenossen. Mehrere Minister beschwerten sich bei einer eilig einberufenen Regierungskonferenz darüber, dass sie über Papandreous Schritte nicht informiert waren. Die Finanzmärkte stehen Kopf. Papandreou muss schon heute zum Rapport nach Cannes zum G20-Treffen anreisen.

Titel der französischen Zeitung Liberation

Die meisten fragen sich, was in den Kopf des griechischen Premiers gefahren ist. Nur wenige Tage nach der aus europäischer Sicht erfolgreichen, aus griechischer aber katastrophalen Umschuldung stellt Papandreou mit seinen jüngsten politischen Entscheidungen nicht nur die letzte EU-Gipfelkonferenz vom 24. Oktober, sondern auch die Grundfesten der Eurozone in Frage. Giorgos Papandreou kündigte sowohl ein Referendum über die jüngste Entwicklung der Eurokrise als auch für den kommenden Freitag eine Vertrauensabstimmung im Parlament an (Ende für das griechische Rettungspaket?).

Europa zittert vor einem noch nicht gelegten Ei

Papandreou hat jedoch noch nicht geklärt, worüber die Griechen "im Januar abstimmen" sollen. Denn auch er kann noch keine Details zum Schuldenschnitt vorlegen. Der genaue Wortlaut eines erforderlichen neuen Kreditmemorandums wurde schließlich noch nicht einmal ausgearbeitet. Vielmehr dient des Premiers jüngster Schritt nur einem Zweck, er möchte politische Zeit kaufen.

Seit dem Gang zum IWF im Mai 2010 regiert der Griechenpremier faktisch nur mit mehr oder weniger offenen politischen Erpressungen der Art, "entweder ihr stimmt für mein Konzept oder das Land ist pleite". So konnte er im vergangenen November knapp eine totale Blamage seiner Partei bei griechischen Kommunal- und Regionalwahlen vermeiden.

Mit diesem Dilemma nötigte er bisher seine Fraktion unter Verlust von sechs Abgeordneten innerhalb eines Jahres zum Zusammenhalt. Gleichzeitig verschonte er bislang die reiche Elite des Landes. Der Umschuldungsplan trifft jedoch just den Teil der griechischen Finanzelite, der sowohl in hellenische Banken als auch in Medien investiert hat. Ein beiläufig von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble im am Montag veröffentlichten Spiegel-Interview gesagter Satz über Griechenland, "man könnte auch sagen, dass es vorübergehend einen Teil seiner Souveränität abgeben wird", gab Papandreous verbliebenen Getreuen den Rest. Der Premier sitzt nun zwischen allen Stühlen.

Die Frage der nationalen Souveränität war im Zusammenhang mit den EU-Gipfelbeschlüssen so vorsichtig wie möglich formuliert worden. Die von der EU diktierte Task-Force um Horst Reichenbach sei ein Team zur "technischen Unterstützung" der Sparpläne, hieß es seitens des griechischen Regierungssprechers, Professor Mosialos. Das Dauermonitoring der IWF-EU-EZB Troika wurde als "vertrauensbildende Maßnahme" verkauft. Selbst die Tatsache, dass künftig keine griechische Regierung mehr einen Staatshaushalt ohne Troikaunterschrift verabschieden dürfte, somit den Griechen de facto die demokratische Kontrolle über ihre Finanzpolitik entzogen wurde, ging gerade noch durch.

Schäuble sprach aus, was tausende Demonstranten anlässlich des griechischen Nationalfeiertags am 28. Oktober skandierten. Schäuble vereinigte jedoch alle negativen Grundwerte der Griechen auf sich. Er ist einer der Gewinner des Europokers und ausgerechnet, wie Horst Reichenbach auch, ein Deutscher.

Skeptisch blickte schon Nationaldichter Kostis Palamas in die Zukunft. Bild: W. Aswestopoulos

Das "Nein" der Griechen

Der 28. Oktober wird in Hellas als der Tag gefeiert, an dem 1940 der damalige faschistische Diktator Ioannis Metaxas auf ein Ultimatum Mussolinis zum offenen Anschluss an die Achsenmächte mit einem kurzen aber bestimmten "Nein" antwortete.

Dieses "Nein", das einigen Historikern zu Folge mehr die Stimmung des Volkes als die ideologische Grundeinstellung des Deutschlandbegeisterten Ioannis Metaxas widerspiegelte, bedeutete Griechenlands Eintritt in den Zweiten Weltkrieg. Mussolinis Angriff auf das seinerzeit militärisch schwache Land geriet zum Fiasko und endete mit einer katastrophalen Niederlage Italiens. Deutschland musste eingreifen, um den angeschlagenen Duce zu retten. Hitlers Truppen verloren dadurch wertvolle Zeit zur blitzkriegartigen Durchführung des Schlags gegen die Sowjetunion.

Die diesjährigen Feiern zum Nationalfeiertag gerieten, vier Tage nach der schmählichen Umschuldung, für die gesamte Politwelt Griechenlands zum Fiasko. Traditionelle Umzüge und Paraden von Schülern oder Militärs fielen entweder aufgrund wütender Demonstrationen aus oder fanden in geändertem Rahmen statt. In Thessaloniki musste Staatspräsident Karolos Papoulias, selbst Weltkriegsteilnehmer Griechenlands, vor der "Verräter" skandierenden Menge unter Polizeischutz in Sicherheit gebracht werden. In Larissa demonstrierte ein Musterschüler mit einer in Griechenland seit byzantinischen Zeiten verwandten abfälligen Geste seinen Unmut gegen die versammelte Polit- und Militärpräsenz.

Papoulias reagierte konsterniert. "Ich, der Resistance-Teilnehmer, ein Verräter?", fragte er sich, um Worte ringend, vor laufender Kamera. Der Staatspräsident kam noch glimpflich davon, denn andernorts wurden Politiker schlicht verprügelt. Unter den Tätern waren nicht nur Oppositionelle, sondern auch Anhänger, Mitglieder und sogar Wahlkandidaten der regierenden PASOK.

Griechenland sagte erneut "Nein". Diesmal zum zu spät und aus Volkes Sicht zu negativ formulierten Umschuldungsplan. Selbst Wirtschaftsexperten bemängeln, dass die "endgültige europäische Lösung" auch diesmal keinen Spielraum für einen Wirtschaftsaufbau lässt. Papandreou selbst hatte bis zuletzt eine Umschuldung als unter allen Umständen abzuwendenden Supergau bezeichnet. Jeder Journalist oder Wirtschaftsexperte, der das Wort "Umschuldung" ansprach, wurde seitens des Regierungssprechers als Volksverräter beschimpft. Es ist durchaus schwierig, nun eben diesen bisher verteufelten Schritt als sinnvoll zu verkaufen. Denn jetzt gilt nach Papandreous Ansicht und streng kafkaesk jeder Widerstand gegen die Umschuldung als Verrat.

Die einst rein politisch beschlossene und mit falschen Daten erfolgte Euroeinführung, zu der es im Übrigen keine Volksabstimmung gab, hat das Land seinerzeit in eine preistreibende Inflationspolitik getrieben. Von den statistischen Tricksereien erfuhren die meisten Hellenen ebenso wie ihre europäischen Mitbürger erst, als die Eurokrise ausbrach. Bis dahin vertrauten zu viele Griechen leichtgläubig ihrer politischen Führung und den europäischen Kontrollmechanismen. Die damalige offizielle Devise lautete, dass Konsum und Leben auf Pump den wirtschaftlichen Aufschwung des Landes garantieren sollte. Den inflationstreibenden (T)Euro nahmen die Griechen erst in Kauf, als ihnen im Gegenzug preiswerte Privatkredite gewährt wurden.

Diesen wirtschaftlichen Fehler nun mit einer Abwertung der privaten inländischen Löhne, Preise und Honorare um mehr als fünfzig Prozent bei gleichzeitiger Beibehaltung der Preise für Importgüter und Dienstleistungen und paralleler Erhöhung sämtlicher Steuerabgaben zu kompensieren, erscheint in der Tat mehr als utopisch. Dies gilt vor allem, wenn man wie Papandreou keinen Rückhalt mehr im Volk hat. Angesichts der vielen Lügen aller Parteien glaubt kein Grieche mehr seiner politischen Führung. Ohne Vertrauen ist jedoch jede Wirtschaftsmaßnahme zum Scheitern verurteilt.

Mehr als zwei Drittel der Griechen lehnen den aktuellen Sparkurs ab, Papandreous PASOK, die noch im Oktober 2009 knapp sechsundvierzig Prozent der Wählerstimmen erhielt, dümpelt in aktuellen Umfragen zwischen fünfzehn und zwanzig Prozent. Verständlich, dass Europas Politiker angesichts eines wie auch immer gearteten Referendums nun um ihren Bündnispartner zittern. Denn, wenn Papandreou fällt, dann herrschen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit radikale Euroskeptiker in Hellas.

Fällt die Regierung vorher, dann gibt es keinen Volksentscheid

Die aufgescheuchten Finanzmärkte reagierten weltweit mit sinkenden Kursen. In Griechenland brach die bereits arg gebeutelte Börse total ein. Es ist sicher, dass die griechische Wirtschaft das lange Warten auf einen Volksentscheid im Januar nicht überstehen kann. Unsicher ist jedoch, ob Papandreou selbst am Wochenende noch Premier ist.

Gestern verabschiedeten sich erneut Parlamentarier aus der Regierungsfraktion. Milena Apostolaki, bis vor wenigen Monaten noch in ministeriellen Würden, erklärte aufgrund einer Gewissensentscheidung ihren Austritt aus der Fraktion. Eva Kaili beschied den Premier per Brief über ihre Entscheidung eines Austritts, sollte Papandreou auf dem Referendum bestehen. Kurz nach Mitternacht drang am Mittwoch aus einer immer noch kontrovers geführten Regierungskonferenz durch, dass Papandreou "auf dem von mir festgelegtem Fahrplan aus Referendum und Vertrauensvotum" beharrt.

Somit hat GAP, wie Giorgos Andrea Papandreou kurz genannt wird, am Freitag nur noch 152 von 300 Abgeordneten in seinen Reihen. Ob er diese Zahl dann wirklich noch kontrolliert, steht mehr im Zweifel als je zuvor. Die PASOK-Grande Dame Vasso Papandreou verlangte offen nach einem Rücktritt des glücklosen Euroretters. Sie und mindestens fünf weitere Parlamentarier der Regierungsfraktion wünschen eine Regierung der nationalen Einheit unter einem anderen Ministerpräsidenten.

Zur Dissidentenschar gesellen sich mit Bildungsministerin Anna Diamantopoulou, Gesundheitsminister Andreas Loverdos und Infrastrukturminister Iannis Ragoussis gleich drei bisherige Papandreouvertraute als Kritiker der Entscheidung zum Referendum. Vizepremier und Finanzminister Evangelos Venizelos wählte eine "diplomatische" Krankheit, um nicht zur Rede gestellt zu werden. Der beleibte Papandreourivale ließ sich mit einer Magenverstimmung in eine teure Privatklinik einweisen. Dass Papandreou noch nicht gefallen ist, liegt nicht zuletzt an der Tatsache, dass sich zu viele potentielle Nachfolger um die Pfründe streiten.

Putschgerüchte und politisch schlechtes Timing

Derweil reagierte Verteidigungsminister Panos Beglitis auf in der ausländischen Presse gestreute Putschgerüchte ausgerechnet zum Höhepunkt der Krise mit einer Ablösung der gesamten militärischen Führungsspitze. Eben dieses schlechte Timing hat Kreise der Militärs in Alarmbereitschaft versetzt.

Statt eines Putsches wie 1967 haben die Militärs anderes im Sinn. Sie gründen selbst eine Partei. Grund zur Sorge haben Griechenlands Uniformträger in der Tat. Denn als erste Sozialkasse stellte die Versicherungsanstalt des Militärs ihre Rentenzahlungen ein. Die nicht allein umlagenfinanzierte Pensionskasse ist durch den fünfzigprozentigen Kapitalverlust der griechischen Staatsanleihen insolvent. Zahlen kann die Anstalt, die neben Militärs auch die pensionierten Polizisten versorgt, erst, wenn die sechste Kredittranche des ersten Troikakredits ausgezahlt wird. Eben diese Zahlung steht nun aufgrund Papandreous Kapriolen erneut in Frage. Beim IWF reagierte man "not amused" über Papandreous plötzlichen Schwenk.

Bleibt es dabei, dann ist ganz Hellas pleite, bevor die nächste programmierte Gelegenheit für eine Demonstration des Volkszorns ansteht. Am 17. November feiern die Griechen den Tag der Technischen Universität als Gedenktag. Damit wird an die blutige Niederschlagung eines Studentenaufstands gegen die Militärdiktatur am 17. November 1973 erinnert. Bürgerschutzminister Christos Papoutsis äußerte bereits die Befürchtung, dass eine erneute Gewaltorgie anstünde .

Am Ende wird es wahrscheinlich statt eines Referendums, das 110 Millionen Euro kosten würde, doch über kurz oder lang gleichteure vorgezogene Wahlen geben. Was in der Zwischenzeit aus dem Euro und den Finanzmärkten wird, ist leider weniger sicher. Ohne Referendum oder ohne eine Zweidrittelmehrheit des Parlaments sind jedoch sämtliche Kreditmemoranden juristisch gegenstandslos. Denn diese Mehrheiten sind aufgrund der griechischen Verfassung für eine Ratifizierung der Verträge unabdinglich. Jede zukünftige griechische Regierung könnte diese Verträge und die daraus resultierenden Verpflichtungen in Frage stellen.

Vielleicht hat die Panik an den Finanzmärkten auch damit zu tun. Denn früher oder später wird man realisieren, dass durch die bisher erfolgten Spar- und Hilfskreditmaßnahmen die hellenischen Schulden zu Gunsten amerikanischer Gläubiger lediglich auf Europa konzentriert wurden. Die Rückzahlung der Kredite jedoch steht ebenso wie GAPs Zukunft in den Sternen.