Kaum Gangs an den Unruhen in britischen Städten beteiligt

Die britische Regierung sieht in Jugendbanden die Hauptverantwortlichen, übersieht aber geflissentlich gesellschaftliche Ursachen

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Am Dienstag hatte die britische Innenministerin Theresa May ein neues Programm zur Eindämmung von Jugendbandenkriminalität (Britische Regierung will Jugendgewalt und neue Unruhen verhindern). Für dieses Programm sollen 11 Millionen Pfund ausgegeben werden. Der Großteil des Geldes wird aber aus bereits existierenden Ressorts genommen. Letztendlich werden nur eine Millionen Pfund neues Geld für das Programm ausgegeben.

Das Programm ist Teil der Regierungsreaktion auf die Unruhen in vielen englischen Städten Anfang August diesen Jahres. Von Anfang an verorteten Politiker aller Couleur in kriminellen Jugendbanden einen Hauptverantwortlichen für die Riots. Sie sind neben angeblich unverantwortlichen Eltern ein wichtiger Bestandteil der "kranken Gesellschaft", die Premierminister Cameron während seiner Amtszeit bekämpfen möchte.

Auch während des konservativen Parteitages in Manchester Anfang Oktober wurde dieses Thema wieder aufgewärmt. Sozialminister Iain Duncan Smith erklärte, Gangs hätten während der Riots eine wichtige Rolle gespielt, ihnen müsse der Garaus gemacht werden. Weiterhin seien die Sozialschmarotzer schuld. Zu viele Menschen würden ein unproduktives Dasein führen. Das müsse aufhören.

Pikanterweise will die Regierung diese Behauptungen nicht durch offizielle Untersuchungen unterfüttern. Die Einrichtung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses wurde verweigert. Dies nutzte Ed Miliband, Parteichef der oppositionellen Labour-Partei, aus. Er erklärte, seine Partei werde einen Ausschuss einrichten, sollte die Regierung dies nicht tun. In der Vergangenheit zwangen solche Ausschüsse Regierungen zu einigen Reformen. Dies war zum Beispiel nach den Riots in Brixton 1982 der Fall, als polizeilicher Rassismus erstmals als Problem anerkannt wurde.

Es gibt jedoch eine Reihe von Untersuchungen, die sich derzeit mit den Riots im Sommer befassen. Das Büro des stellvertretenden Premierministers Nick Clegg hat eine so genannte Gemeinschafts- und Opferplattform eingerichtet. Dieses, von einigen Personen des öffentlichen Lebens geführte Gremium, soll hauptsächlich Opfergeschichten zusammentragen. Ein Zwischenbericht wird für November erwartet.

Der Guardian hat sich mit der London School of Economics (LSE) zusammengetan und arbeitet an einer eigenen Analyse der Ereignisse. Hier steht die Täterperspektive im Vordergrund, es werden quantitative Interviews mit Teilnehmern an den Riots geführt um deren Motivation ausfindig zu machen. Dies ist ein andauerndes Langzeitprojekt.

Gangs waren nicht ausschlaggebend für die Unruhen

Derweil sind in den letzten Tagen Datensammlungen von verschiedenen Behörden erschienen, die erste quantitative Betrachtungen der Unruhen ermöglichen. Es handelt sich um zwei statistische Bulletins. Ein Bericht wurde vom Justiz, Bildungs- sowie dem Arbeits- und Rentenministerium gemeinsam herausgegeben. Das andere Bulletin wurde vom Innenministerium zusammengestellt.

Insbesondere aus letzterem geht hervor, dass die Darstellung der Regierung nicht haltbar ist. Nur 13% aller im Zusammenhang mit den Riots verhafteten Personen sind als Gangmitglieder bekannt. Das Innenministerium bezeichnet die Rolle der Gangs als "nicht ausschlaggebend" für die Riots. Gangs seien eher in Einzelfällen aufgefallen, in denen es oft um besonders schwere Straftaten wie etwa Schusswaffengebrauch ging.

76% aller Verhafteten hatten jedoch bereits vor den Riots Kontakt mit der Polizei gehabt. Sie haben entweder Verwarnungen oder Vorstrafen. Hier ist unklar um welche Delikte es sich handelt. Allerdings kann man sich als Jugendlicher in Großbritannien sehr schnell eine Verwarnung einfangen. Hier reicht es schon, einen Polizisten zu beschimpfen.

In manchen deutschsprachigen Publikationen wurden Masseneinwanderung und daraus resultierende Integrationsprobleme als Ursache für die Riots angegeben. Sie wurden mancherorts als "Rassenunruhen" dargestellt.. Auch dieser These widersprechen die Statistiken. 40% aller Verhafteten bezeichnen sich als weiß, 39% als schwarz, 11% haben einen "gemischten" Hintergrund, 8% einen asiatischen. 2% bezeichneten sich als "andere".

Die ethnische Mischung der an den Riots Beteiligten ist je nach Stadt und Stadtteil unterschiedlich. So fällt bei Manchester zum Beispiel auf, dass die großen afro-karibischen Stadtteile nicht von Unruhen betroffen waren, im Gegensatz zum überwiegend weißen Salford. Entsprechend waren 89% aller in Salford verhafteten 10-24-Jährigen weiß. In London, der Stadt, in der alles nach dem Tod von Mark Duggan in den Händen der Polizei seinen Ursprung nahm, gab es am meisten Verhaftungen. 47% der Verhafteten sind schwarz, 32% weiß. Die Zahl der verhafteten Asiaten, hauptsächlich Hindus und Moslems, liegt mehrheitlich im einstelligen Prozentbereich.

Hoher Anteil verarmter Bevölkerungsschichten

64% aller wegen der Riots vor Gericht gestellten Personen kommen aus 20 der ärmsten Stadtteile Großbritanniens. 35% aller angeklagten Erwachsenen sind erwerbslos, 42% aller Minderjährigen bekommen kostenlose Schulspeisung, ein Anzeichen für verarmte Familienverhältnisse. Diese Zahlen lassen sich mit den während der Unruhen verübten Delikte vergleichen. Bei 50% aller Delikte, die mit den Riots in Verbindung gebracht werden, handelt es sich um Beschaffungsdelikte, darunter 1649 Einbruchsdelikte. Damit sind die Plünderungen gemeint.

91% aller Plünderungen betrafen Einzelhandelsketten, Supermärkte, Elektrogeschäfte und Kleidungsläden. Das deckt sich mit Berichten, dass vielerorts noch nicht mal die teuersten Produkte geplündert wurden, sondern auch Dinge des täglichen Lebens wie Windeln oder Nahrung. Beliebt waren aber auch Sportschuhe, DVDs und digitales Equipment. In Salford wurde ein Lidl Discounter geplündert. Nur 4% der geplünderten Geschäfte waren Juweliere.

Cameron und Co. schlossen in ihren Stellungnahmen nach den Riots Armut kategorisch als Ursache aus. Auch das Programm gegen Jugendgangs setzt vor allem im moralischen und repressiven Bereich an, wie Theresa May der Boulevardzeitung Sun mitteilte. Unter anderem will man Jugendliche mit "Schockmethoden" vom Beitritt in eine Gang abhalten. Außerdem werden hohe Gefängnisstrafen angedroht.

Im selben Artikel zitiert das Blatt Mike Gervise von einer Londoner Anti-Gang-Initiative. Der sagte dem Blatt:

Es geht nicht nur darum reich zu werden – es geht auch darum zu überleben. Diese Kids wollen eine warme Mahlzeit, neue Nike-Turnschuhe und ein Selbstwertgefühl haben. Wenn man jung ist und nicht viel verdient, neben einem Drogendealer wohnt, der an einem Tag das Zehnfache deines Wochenlohnes erwirtschaftet, dann ist es schwer, sich nicht daran zu beteiligen. (…) Die Jungs sehen keine Ausbildungsmöglichkeiten, es gibt keine Jobs. Die Gangs bieten eine Möglichkeit, das zu ändern, und eine Karriere.

Dem wird durch die Moralkeule nicht beizukommen sein. Interessanterweise schließt sich hier ein Kreis. In der "Gemeinschafts- und Opferplattform" arbeitet auch Darra Singh mit. Er war bis Ende September im Arbeits- und Rentenministerium für die Jobcenter zuständig. Singh äußerte sich vor einigen Tagen "geschockt" über Aussagen von Jugendlichen in einer Strafanstalt, für die Riots sei es höchste Zeit gewesen.

Dabei muss Singh über die soziale Lage der betroffenen Stadtteile einiges wissen. Teil seiner vorherigen Aufgabe war die Durchsetzung eines von der PCS Gewerkschaft als "Wahnsinn" bezeichnetes Schließungsprogramm von Jobcentern. 19 von ihnen sollen geschlossen werden, viele von ihnen in Gegenden, in denen es Riots gab. Den ärmsten Schichten der Bevölkerung wird so jedenfalls nicht geholfen.