Der große Bluff

Die Sozialdemokratisierung der CDU findet nicht statt. Die Diskussion darüber kommt ihr aber gelegen

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Wer in den letzten Tagen die Nachrichten im Vorfeld des Bundesparteitags der CDU in Leipzig verfolgt hat, der muss zu dem Schluss kommen, dass in Deutschland nur noch Arbeiterparteien existieren - mit Ausnahme der FDP, die ohnehin in den kommenden Wahlen nicht mehr relevant ist, versteht sich. Viel dran ist daran nicht. Angela Merkel kann trotzdem kein Interesse daran haben, das klarzustellen.

Bundeskanzlerin Angela Merkel während ihrer Rede auf dem CDU-Parteitag: Bild: CDU

Die Kanzlerin als "Arbeiterführerin" auf dem CDU-Parteitag - so stellt sich die Leipziger Volkszeitung die Rolle von Angela Merkel vor. Und steht damit nicht alleine.

Auch Bild, Welt und selbst die Süddeutsche Zeitung entdecken "die sozialdemokratische Seite der CDU". Selbst für den ORF ist klar: die CDU rückt nach links.

Als Beleg dafür muss die Mindestlohndebatte herhalten, die im Vorfeld des Parteitags die Aufmerksamkeit auf die CDU gelenkt hat. Eingebracht wurde der Antrag von der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft in der CDU (CDA). Von der CDU-Spitze kamen zunächst positive Signale zu der Forderung, eine gesetzliche Lohnuntergrenze einzuführen, die sich am Mindestlohn in der Zeitarbeit orientieren solle. Die Gewerkschaften wähnten sich bereits am Ziel. Der DGB-Vorsitzende Michael Sommer war derart überwältigt vom Antrag des Arbeitnehmerflügels der CDU, dass er glaubte, kurz vor dem Durchbruch zu sein.

Die Legende von der Sozialdemokratisierung der CDU erhielt einmal mehr neue Nahrung. Doch noch bevor der Parteitag eröffnet ist, ist nur noch die Legende übrig. Der eigentliche Antrag ist verwässert. Denn Angela Merkel hatte keinesfalls vor, einen Mindestlohn im Sinne von Arbeitnehmern und Gewerkschaften einzuführen. Denn lange war Merkel nicht auf "Genossen-Kurs" und für einen flächendeckenden Mindestlohn. Es dauerte vielmehr nicht lange, bis die Kanzlerin diese Position relativierte - regional und branchenspezifisch sollte der Mindestlohn ihrer Ansicht nach sein.

Auf diese Weise bleibt der in der Bevölkerung positiv besetzte Begriff in der Debatte, gleichzeitig wird ein derart zersplitterter, unkonkreter Mindestlohn den Unternehmen nicht weh tun, so offenbar Merkels Kalkül. Am Ende setzt sich die Kanzlerin durch. Niemand wolle einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn behauptet Merkel in ihrer Rede vor den Delegierten. Nach ihrem Willen sollen sich die Tarifparteien selbst Branche für Branche, Region für Region Mindestlöhne auf Basis bestehender Tarifverträge festlegen.

Dass das den von Niedriglöhnen Betroffenen nicht weiterhilft, zeigt ein Blick in das WSI-Tarifarchiv. Wenn ein Friseur in Brandenburg für 2,75 Euro in der Stunde arbeitet, dann ist auch das ein Tariflohn. Mit dem von Merkel als Kompass hochgehaltenen christlichen Menschenbild oder gar einem Linksruck allerdings hat ein derartiger Stundenlohn nichts zu tun.

Debatten um die Aufweichung des Antrags aus dem Arbeitnehmerlager gibt es auf dem Parteitag nicht. Im Gegenteil, die Diskussion wird sogar vorzeitig beendet. Es sind sich ohnehin alle einig. Auf Kritik am Parteivorstand möchten die Delegierten unbedingt verzichten. Es scheint, als hätten die Oberen an diesem Tag alles durchwinken können. Möglich ist das auch, weil der Antrag zur Lohnuntergrenze so allgemein formuliert ist, dass jede Seite einen Erfolg herauslesen kann. Für ernsthafte politische Konsequenzen sind das allerdings schlechte Voraussetzungen.

Die Botschaft ist klar: Sparmaßnahmen statt Reformen

Auch ein Blick in den Antrag des Bundesvorstands der CDU zur Europapolitik macht deutlich: auf dem Weg zu einer sozialdemokratischen Partei ist die Union nicht. Denn in Merkels Rede ist von "Gier und Zockerei" an den Finanzmärkten, die mittels Bankenabgabe und Finanztransaktionssteuer eingedämmt werden müssten, nur am Rande die Rede. Viel wichtiger ist der Kanzlerin die Feststellung, dass die Schuldenkrise ein Anlass werden müsse, unser Leben anders zu gestalten - was eine Umschreibung für die Behauptung ist, wir hätten alle über unsere Verhältnisse gelebt.

Die harten Einschnitte, die viele Deutsche in der Vergangenheit hinnehmen mussten, sei es die Anhebung des Renteneintrittsalters, die teilweise Privatisierung von Sozialleistungen wie der Rente, aber auch sinkende Reallöhne werden da zum Gebot der Vernunft - und Deutschland zum "Stabilitätsanker in Europa". Vollbeschäftigung, das ist nach wie vor Merkels Ziel. Um gute Arbeitsbedingungen sollen sich dann die Tarifpartner kümmern.

Lob für die Reformpolitik kommt auch vom Präsidenten der Europäischen Volkspartei (EVP), Wilfried Martens. Er sieht Deutschland dank seiner wirtschaftsfreundlichen Reformen als Modell für Europa. Sparpolitik und Reformen müsse es auch in den Krisenländern geben. Selbstherrliche Züge nimmt die Lobpreisung für die Politik der vergangenen Jahre beim hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier an. Dank der Politik, die vor allem von der Union geprägt werde, würde Deutschland von der gesamten Welt bewundert, so Bouffier.

Die Hauptursache der derzeitigen Krise ist laut dem Europaantrag des Parteivorstands die übermäßige Verschuldung und die fehlende Wettbewerbsfähigkeit einzelner Länder. Nicht allein durch die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise, sondern dadurch, dass viele Länder über ihre wirtschaftlichen Verhältnisse gelebt hätten, seien die Probleme entstanden. Unzureichende Finanzmarktregulierung hätte die Entwicklung allenfalls verschärft.

Die Botschaft dieses Antrags ist klar: nicht mit Hilfe von tiefgreifenden Reformen der Finanzmärkte und einer gerechten Besteuerung soll die Krise überwunden werden, sondern mit Sparmaßnahmen der Staaten. Diese allerdings treffen vor allem diejenigen, die ohnehin schon wenig oder gar nichts haben. Die Folgen lassen sich in Griechenland studieren: die Suizidrate steigt an, die Einweisungen in Krankenhäuser steigen an. Zudem gibt es Hinweise darauf, dass das griechische Gesundheitswesen nicht mehr in der Lage ist, die Patienten ausreichend zu behandeln. Trotz dieser Missstände reißen die Warnungen aus der CDU, die Griechen müssten sparen und nicht über ihre Verhältnisse leben, nicht ab. Welche Konsequenzen eine Sparpolitik in ganz Europa haben würde, wie sie die CDU will, ist zwar nicht abzusehen - nach sozialdemokratischen Maßnahmen sieht ein solches Sparprogramm jedoch nicht aus.

Für die CDU geht es auf ihrem Parteitag weniger darum, in der Sozialpolitik tatsächlich neue Wege zu gehen. Zu unkonkret sind die Beschlüsse, als dass sich tatsächlich handfeste Politik aus ihnen ergeben würde. Vielmehr zählt die Botschaft. Bei den Wählern soll hängenbleiben, dass die CDU bereit ist, auch "was mit Mindestlohn" zu machen. So sollen die Weichen für die Bundestagswahl 2013 gestellt werden. Und da die Union dann aller Voraussicht nach nicht mit der FDP um Stimmen konkurrieren muss, versucht sie, im sozial-ökologischen Mantel im rot-grünen Lager Wähler zu fischen. Eine Strategie, die durchaus aufgehen könnte - wenn der angebliche Linksruck der CDU auch weiterhin Thema in den Medien bleibt.