"Schleichende Pathologisierung der Gesellschaft"

Interview mit Werner Seppmann über die Zunahme von Gewalt und Irrationalismus in der Gesellschaft, Teil 2

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Auch bei extremer Steigerung der Teilrationalität in den Betrieben, die sich bei den Menschen überwiegend in Gestalt von Arbeitsverdichtung, -verlängerung, wie auch in prekären Beschäftigungsverhältnissen und Arbeitslosigkeit niederschlägt, offenbart in der gegenwärtigen Krise das Wirtschaftsleben als Ganzes nur mehr die Irrationalität eines Gesellschaftssystems, welches die Bedürfnisbefriedigung der Menschen zu einer Nebenfolge des Wirtschaftswachstums degradiert. Der alltägliche Konkurrenzkampf wird von den Menschen verabsolutiert, versubjektiviert und personalisiert und als naturgegeben und alternativlos akzeptiert, wenn nicht gleich zum Reich der Freiheit deklariert. Damit üben die Menschen jene Ausschließungsmechanismen ein, die ihnen durch die Institutionen vorexerziert wurden. Telepolis sprach mit dem Sozialwissenschaftler Werner Seppmann über Phänomene der Entzivilisierung (siehe Teil 1 des Gesprächs Kultur der Barbarei).

Herr Seppmann, wie schlagen sich die objektiven gesellschaftliche Entwicklungen in der Psychostruktur nieder, wie ist deren Deformation zu erklären?

Werner Seppmann: Die Menschen werden von einem flexiblen Kapitalismus geprägt, der es ihnen nahe legt, sich an nichts zu binden und eine fragmentarisierte Identitätsstruktur auszubilden. Der Sozialpsychologe Götz Eisenberg ,der zu diesem Thema wichtige Bücher geschrieben hat, spricht davon, dass durch die so verursachten Desintegrationsprozesse Massen von Menschen Gefahr laufen, auf einfache Mechanismen der psychischen Regulation zurück geworfen zu werden.

Dadurch wird die Ausprägung pathologischer Charakterstrukturen gefördert und dieser Prozess führt schleichend zu einer Pathologisierung der Gesellschaft. Indizien dafür sind, dass Bedenkenlosigkeit und Skrupellosigkeit in viele Alltagsbereiche eingedrungen sind, sich Rücksichtslosigkeit und ein egomanischer Individualismus ausbreitet. In diesem Kontext dominiert auch, wie Eisenberg betont, ein kalter Zynismus und es prägt Gleichgültigkeit die zwischenmenschlichen Beziehungen. Wir sind auf dem Weg in eine Gesellschaft beziehungsunfähiger, beziehungsweise gestörter Menschen.

Das schlägt auch auf die nachwachsende Generation durch: In den fragmentarisierten und nicht selten erodierenden Familienstrukturen findet kaum noch eine Stabilisierung der Psychostrukturen der Kinder statt. Sie verspüren den Druck, unter dem ihre Eltern stehen, aber auch, dass diese ihm wehrlos ausgesetzt sind. Sie erleben die Ängste ihrer Eltern, leiden an den familiäre Zuständen, auch wenn diese nicht von Aggressivität und nervöser Ratlosigkeit - was aber immer häufiger der Fall ist! - geprägt sind.

Hinzu kommt, dass auch die Lebensperspektiven der Jugendlichen von vielen Unwägbarkeiten geprägt sind. Berufliche Integration - trotz vielfältiger Qualifikationen - ist keine Selbstverständlichkeit mehr. Perspektivlosigkeit steht oft schon am Beginn des Lebensweges. Verwunderlich ist es also nicht, wenn, wie aktuelle Untersuchungen dokumentieren, über 50 Prozent aller deutschen Jugendlichen psychosomatische Störungen aufweisen, unter Ängsten und Depressionen, Essstörungen oder Nervösitätssyndrome leiden.

In einer gewissen Weise kommt in den Wut- und Gewaltausbrüchen die Gesellschaft zu sich selbst

Sie beschreiben allgemeine gesellschaftliche Entwicklungstendenzen, die eine Mehrheit betreffen. Dennoch sind es immer noch die Außenseiter, die aus dem Ruder laufen und ihre Destruktionsphantasien ausleben...

Werner Seppmann: So sieht es tatsächlich auf den ersten Blick aus. Aber in einer gewissen Weise kommt in den Wut- und Gewaltausbrüchen die Gesellschaft zu sich selbst: Der auf einer allgemeinen Ebene existierende Druck wirkt in die Sozialisationsprozesse hinein; sie wirken in der geschilderten Weise nicht mehr festigend, sondern destruktiv. Diese sozialen Zustandsformen sind der Rahmen, in denen sich Destruktions- und Selbstzerstörungspotentiale entwickeln können. Sie können dann in solchen Handlungen zum Ausdruck kommen, wie sie sich beispielsweise kürzlich in Sachsen-Anhalt ereignet haben, wo eine 13-jährige Schülerin ihre Schule mit Benzin in Brand setzen wollte und mit einem Beil ihre Mitschüler attackiert hat.

Zum Verständnis solcher Ereignisse muss berücksichtigt werden, dass soziale und psychische Desorganisationen sich wechselseitig hochschaukeln. Meist schaffen es die Kinder, die sozialen Bedrängungen und das Chaos ihrer Familienverhältnisse zu ertragen und die daraus resultierenden psychischen Schieflagen zu kompensieren, aber wenn sie schon vorbelastet sind und unter Entwicklungsstörungen leiden, kann es zu solchen Ausbrüchen können. Denn wie gesagt: die Strukturen, die solche pathologischen Entwicklungen auffangen können, sind erodiert, und der soziale Erfahrungsraum vieler Heranwachsender ist kaum geeignet, Halt zu vermitteln und Stabilität zu fördern.

Aktuelle neurobiologische Forschungen haben übrigens gezeigt, dass soziale Bedrängungs- und Defiziterfahrungen in frühen Entwicklungsphasen zu Angstabwehrmustern führen, die, weil sie nicht ausgelebt werden können, in den neuronalen Strukturen abgespeichert werden und zu einem viel späterem Zeitpunkt zum Ausbruch gelangen können.

Manifeste Unmündigkeit

Ergeben sich die in Ihrem Buch Dialektik der Entzivilisierung. Krise, Irrationalismus und Gewalt dargelegten Formen psycho-sozialer Rückentwicklungen und den aus ihnen resultierenden Gewalttaten zwangsläufig?

Werner Seppmann: Nein. Das Abgleiten in Formen psycho-sozialer Destruktion, denen immer auch ein Moment der Selbstbeschädigung innewohnt, geschieht nicht automatisch. Jedoch existieren in bestimmten Konstellationen große Wahrscheinlichkeitswerte. Viele Krisenopfer versuchen, mit den Belastungen fertig zu werden. Jedoch verlangt das große psychische Energie. Wer sie nicht aufzubringen vermag, beispielsweise, weil er schon emotional und gesundheitlich angeschlagen ist oder der Druck zu groß wird, scheitert irgendwann an den Anforderungen der personalen Selbststabilisierung.

Normalerweise ziehen sich die Betroffenen still zurück, werden depressiv oder verfallen dem Alkohol. Aber sie können sich auch in irrationalistische Surrogate flüchten: Man schaue sich nur eine gutsortierte moderne Buchhandlung an, bei der die Regale mit Literatur über Orakel, Tarot, Anthroposophie, Spiritualität und Astrologie überquellen.

Werner Seppmann. Foto: Laika-Verlag.

Das ist dann so etwas wie die privatistische Version des psycho-sozialen Elends, eine Flucht in unpolitische Formen des Irrationalismus?

Werner Seppmann: So könnte man das nennen. Aber gerade diese Formen sind auch Ausdruck einer manifesten Unmündigkeit, wie Kant sie verstanden hat. Die Menschen kultivieren verzerrte Weltbilder, auf deren Grundlage sie bestehende Fremdbestimmung akzeptieren. Aber Unsicherheit und Orientierungslosigkeit können auch Einfallstor für rechte Orientierungen sein, die Sinnperspektiven vermitteln, wie etwa die Annahme nationalistischer und rassistischer "Identitäten" und "Erklärungen" für die unverständlich gewordene Gesellschaftsentwicklung liefern, zum Beispiel Ausländer als Sündenböcke für die sozialen Verwerfungen.

"Personalisierung diffuser Ängste"

Wie sind denn die Übergänge zum politisch-rechten Irrationalismus strukturiert?

Werner Seppmann: Auf einer ersten Stufe bietet das Versinken in die rechtsextreme Gedanken- und Phantasiewelt das Gefühl, der als bedrohlich erlebten Welt nicht mehr ganz hilflos ausgeliefert zu sein. Alleine schon die Bedrängungserfahrungen benennen zu können - auch wenn es in einer verzerrten und hilflosen Weise geschieht - entlastet die defundierten Subjekte: Sie können ihre Existenzängste auf vermeintliche Ursachen (in historischer Abfolge die "Fremden" und "Juden", die "Ausländer" und "Islamisten") projizieren. Unaufgearbeitete soziale Bedrohungserfahrungen werden auf innere und äußere Feinde projiziert, latente Zukunftsängste, die auch durch einen demonstrativen Optimismus nicht mehr verdrängt werden können, durch ein System von Hass und Selbsthass kompensiert.

Durch die Personalisierung diffuser Ängste bietet sich die vermeintliche Chance, wieder Ordnung in eine unverstandene und als Bedrohung erlebte Welt zu bringen. Das psychisch beschädigte Subjekt gewinnt durch die Identifikation mit einem weltanschaulichen Trend einen sozialen Schutzraum. Identifizierung kompensiert seine Isolation, die Übereinstimmung mit äußeren Mächten vermittelt ein Gefühl von Stärke und sozialem Eingebundensein.

Wie entwickelt sich aber aus dem weltanschaulichen Irrationalismus die Bereitschaft zur Aggressionshandlung?

Werner Seppmann: Zu einem wesentlichen Teil daraus, dass die entlastende Wirkung nur von kurzer Dauer ist. Das ideologische Surrogat verbraucht sich schnell, provoziert das Verlangen nach einem Ersatz. Diesen Ersatz kann ab einer bestimmten Stufe nur eine "aktives Weltverhältnis" bieten. Es kann in der Form einer öffentlichen Demonstration der politischen Gesinnung bestehen, aber auch in einem Prozess fortschreitender Radikalisierung, der seinen Endpunkt erst im terroristischen Aktivismus findet.

Kann man also sagen, dass die Flucht in den Irrationalismus und die Entwicklung von Gewaltbereitschaft als psychisches Selbststabilisierungsmittel fungieren?

Werner Seppmann: Ja, um die völlige Zerstörung ihrer Persönlichkeitsstruktur zu verhindern und das Absinken in die Lethargie zu vermeiden, können sozial bedrängte Menschen bereit sein, in den Konflikt zu flüchten, um zumindest über solche entfremdeten Formen wieder einen Realitätsbezug herzustellen und das beschädigte Selbstbewusstsein zu stärken. Das provokative und aggressive Auftreten fällt umso leichter, als der soziale Verunsicherungs-, Dequalifizierungs- und Ausgrenzungsprozess von Beginn an - wenn auch zunächst unterschwellig - von Hass- und Wutgefühlen begleitet ist.

Wie würden Sie in diesem Kontext die Taten des Massenmörders Anders Breivik einordnen?

Werner Seppmann: Der Oslo-Attentäter hat fast eine mustergültige Karriere durchlaufen: Er war ein labiles Kind und als Schüler sozial isoliert. Zunehmend flüchtete er sich in technische Beschäftigungsformen und die Kunstwelten des Computers, fand im Netz eine Ersatzwelt. Die Gesellschaft erlebte er zunehmend als bedrohlich, weil seine wirtschaftlichen Aktivitäten als junger Mann von wenig Erfolg gekrönt waren. Bei der Suche nach Erklärungen für seine Lebenssituation fand er Antworten in rechtspopulistischen Weltsichten und konnte sich mit diesem "Trend" identifizieren, der in fast allen europäischen Ländern existiert. Erst nachdem die Kompensationswirkungen der rechts-populistischen Ideologie sich abschwächten, entwickelte und verstärkte sich bei Breivik das Bedürfnis nach einem "aktivistischen Weltverhältnis", das in einem unkontrollierten Zerstörungsdrang mündete.

Es lässt sich jedoch nicht prognostizieren, bei welchem psycho-sozial defundierten Individuum alle Dämme brechen, vor allem wann sie auf Grundlage ihrer pervertierten Phantasie grauenvollste Taten folgen lassen. Dazu bedarf es besonderer alltagspraktischer Konstellationen und ideologischer Anlässe, die unendlich variieren können.

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