Das bittere Ende der Urheberrechtsdebatte

Was passiert, wenn in China ein Sack Erdnüsse umfällt? Die Antwort darauf gibt uns die erbitterte Diskussion um die Zukunft des Urheberrechts

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Die aktuelle Online-Diskussion "Berthold Seliger vs Mark Chung vs das Volk" zeigt auf eine sehr plakative Weise, dass die von den Verwertern von Wissen und Kultur beschleunigte Urheberrechtsdebatte schon wenige Jahre nach ihrem für manche hoffnungsvollen Start von ihren Lenkern an die Wand gefahren wurde. Eigentlich ist die Debatte am Ende. Aus und vorbei. Und wie kam das?

Aktuell streiten sich der Berliner Konzertveranstalter Berthold Seliger (Artikel im Konkret vom November) und der Präsident des deutschen Verbands unabhängiger Musikunternehmen e.V." (VUT), Mark Chung (der war früher bei Abwärts und den Einstürzenden Neubauten, hat also kulturell durchaus Anerkennenswertes geleistet) darüber, wer eigentlich die Künstler abzockt: Die Konsumenten (weil sie angeblich nicht mehr so viel kaufen, sondern lieber filesharen), die Musikkonzerne (weil sie den Künstlern zu wenig Geld abgeben) oder die Technologiefirmen wie Google, Rapidshare und alle Internetprovider, weil die ja Geld durch die Internetnutzung und damit verbundene Werbeeinnahmen machen, ohne den Künstlern (außer in Einzelfällen, wie etwa Googles YouTube) etwas abzutreten.

Wir sind uns darüber im Klaren, dass bereits die aufgestellten Grundannahmen tendenziös sind und sehr wahrscheinlich nicht zu einem gesamtgesellschaftlichen Konsens führen. Wir sind uns außerdem darüber im Klaren, dass die Musik... nein, die Tonträgervertriebsindustrie hier nur als, wenn auch sehr plakatives, Beispiel für die aktuelle Entwicklung rund ums "Geistige Eigentum" dient.

Wenn zwei sich streiten, continued

Seliger beschimpft Chung als Lobbyisten, weil er als Chef eines nominalen Indie-Verbunds Positionen der Konzerne vertritt, und letzterer revanchiert sich dadurch, dass er den Brandbrief des Konzertveranstalters als "schlecht recherchiert", "auf Polemik beschränkt" und überhaupt "sachlich falsch" verhöhnt. Interessant ist, dass er seine Position mit einer langen "Literaturliste" untermauert, die aber nur zum Teil online verfügbar ist und bei Nachprüfung unter anderem aus den bekannten Studien besteht, die auf Schätzungen der Musikkonzerne selbst zurückgreifen, also rekursive Ergebnisse liefern.

Nach Seliger ist das Problem mit dem Urheberrecht eigentlich nur ein Problem mit den steigenden Ansprüchen der Kultur- und Wissensverwerter-Industrie, während Chung einen Grundkonflikt zwischen einerseits Medienunternehmen und Künstlern und andererseits Technologiekonzernen sieht. Letztere würden an der geistigen Leistung der Kreativen einfach so mitverdienen. So wie damals die Hersteller von Radioempfängern, Vinylplattenspielern, Wachswalzen? Für die breite Öffentlichkeit ist diese Diskussion eher unverständlich - wer nimmt sich schon die Zeit, stundenlang fremdsprachliche, mehr oder minder akademische Quellen auf ihren Sinngehalt zu prüfen?

Was bisher nicht gesagt wurde

Ich möchte auf einige wenige Punkte hinweisen, die für die Entwicklung, speziell der Musikwirtschaft, als auch der gesamten "Copyrightindustrie" eine Hauptrolle spielen, trotzdem aber von den beiden Kontrahenten nicht erwähnt wurden:

Der Strukturwandel der letzten 10 Jahre (a.k.a. Informationsrevolution) in Verbindung mit dem Turboboost des globalen Finanzkapitalismus hat die Masse der Musikkonsumenten in eine wirtschaftliche Situation gebracht, die das Haushalts-Budget für Luxusgüter wie Musik- oder Filmkonserven gegen Null schrumpfen ließ. Vor 20 Jahren gab es in Deutschland die Gesellschaftsschicht "Prekariat" noch nicht, heute wird jeder siebte Erwerbsfähige in West-, und jeder vierte in Ostdeutschland zum Heer der Chancenlosen gezählt. Wie viele CDs, DVDs, Blu-rays, Videospielscheiben kann man sich von 364 Euro monatlich leisten? Und wie viele, wenn man zwar einen Job hat, unglücklicherweise dazu aber auch Kinder?

Gleichzeitig stellt die Digitaltechnik die Verhandlungsmacht der Konsumenten wieder her: Konnten im Analog-Zeitalter Medienanbieter noch die Preise nach eigenem Ermessen festsetzen, haben heute die Verbraucher die Wahl, Medien kostenlos zu erhalten und weiterzugeben, was den Wert der Distribution als Dienstleistung weiter verringert. Es wäre also Aufgabe der Verwerter, den optimalen, markttauglichen Endverkaufspreis herauszufinden, statt für Downloads stur dasselbe zu verlangen, das man auch für einen Tonträger ausgeben müsste. Was die Verwerter als "Raubkopie" und "Internetpiraterie" kriminalisiert sehen wollen, ist aus Sicht der Konsumenten eine Abstimmung an der Ladenkasse über einseitig festgesetzte Endverkaufspreise. Gabe Newell, Chef des erfolgreichen Computerspiele-Entwicklers Valve und der noch erfolgreicheren Online-Spiele-Vertriebs-Plattform Steam sagt: "pirates are under-served customers". Übersetzt: Raubkopierer sind vernachlässigte Kunden. Die Kunst modernen Marketings sei es, so Newell, den richtigen Preis für den betreffenden Markt zu finden; im ehemaligen Kopierparadies Russland ist Steam damit ebenfalls sehr erfolgreich.

Dazu kommt, dass die Konkurrenz stark zugenommen hat: Wer kauft sich noch eine Musik-CD für 15 Euro, um die Songs dann erst einmal umständlich für seinen MP3-Player rippen zu müssen, wenn er ein prämiertes Computerspiel zum Ausverkaufspreis für 10 haben kann? Der größte Feind des Tonträgers ist allerdings der MP3-Player, und die Unfähigkeit der Distributionskonzerne, darauf zu reagieren.

Ich habe vor einem und vor zwei Jahren Umfragen im kleineren Rahmen (dreistellige Teilnehmerzahlen) durchgeführt, deren Ergebnisse mindestens genauso relevant sind wie andere Untersuchungen zum Thema, zumindest soweit diese auf Schätzungen beruhen. So befragte ich meine Leser im Oktober letzten Jahres: Was wäre, würde eine CD (oder ein Albumdownload), wie vom britischen Musikmanager Rob Dickins gefordert, nur einen 1,15 Euro kosten? 83% würden dann immer bezahlen, 6 % würden auch dann umsonst downloaden, und nur 1% hat nichts gegen den aktuellen, über 10mal so hohen Preis. Ist das eindeutig? Zu einer früheren Gelegenheit fragte ich nach dem akzeptierten Preis und gab die Antwortmöglichkeit "ich will keine CDs mehr": 33% wollen gar keine Scheiben, egal zu welchem Preis. Die Zahlen dürften sich bis zum heutigen Tag noch etwas verschoben haben.

Das Ende ist nah, aber das ist nicht schlimm

Das sind aber bisher nur Argumente, die weiter oben versprochene Wand, an welcher die Urheberrechtsdebatte enden solle, kommt erst jetzt. Die Musik... Tonträgervertriebsindustrie erwirtschaftet nach eigenen Angaben in Deutschland jährlich 1,67 Milliarden Euro. Die (ständig wachsende) Filmwirtschaft erlöst eben hier etwa 2,8 Mrd., die Gaming-Industrie 1,4 Milliarden. Der dritte Betrag erscheint etwas niedrig, enthält aber auch nur Verkäufe am Ladentisch, ohne Steam, World of Warcraft und Farmville. Aber gut, nehmen wir die Zahlen so wie sie sind, dann summiert sich das zu jährlichen 5,9 Milliarden Euro Umsatz in Deutschland.

Ich sage jetzt mal ein paar Namen: Südzucker, Benteler, Johnson Controls, DM-Drogeriemarkt, OMV, Freudenberg. Wer kennt die? Das sind alles Firmen, die jede für sich pro Jahr ungefähr so viel erwirtschaften wie die oben zusammengerechnete Unterhaltungsindustrie. So um die oder knapp sechs Milliarden Euro jährlich. Was wäre, rein theoretisch, wenn Südzucker einfach weg wäre? Oder Freudenberg? Ein paar Hundert Arbeitsplätze weniger? So viel entlassen, salopp gesagt, Siemens oder die Telekom pro Minute, ohne dass es jemand merkt. Diese Bierdeckelrechnung wirkt auf den ersten Blick natürlich etwas polemisch, zeigt aber sehr klar die Verhältnisse: Die gesamte "Unterhaltungsindustrie" (nur Datenträger, ohne Bühnen etc.) ist wirtschaftlich weniger bedeutend als ein regionaler Heizölhändler, ein EU-subventionierter Rübenzuckerring oder eine Drogeriemarktkette.

Fazit, zumindest von meiner Seite: Seliger hat Recht, Chung vertritt Standpunkte aus einem vergangenen Jahrhundert. Da kommt es, volkswirtschaftlich gesehen, billiger, wenn wir die Distributoren pleite gehen lassen und die Künstler auf anderem Weg bezahlen. Die bekommen nämlich, wenn's gut läuft, maximal 5% vom Endverkaufspreis (hier mal speziell im Musiksektor, bei Buchverlagen nicht viel anders, bei Film und Games ist es komplexer), also quer gerechnet 83,5 Millionen für Musiker, 120 Millionen für Schauspieler und Kameraleute und 70 Millionen für Spieleprogrammierer. Und das ist es, was wir, das Volk, vernünftigerweise tun sollten: Einen Fond von 273,5 Millionen Peanuts aufstellen und dafür das Post- und Fernmeldegeheimnis restaurieren, und eine aufblühende, angstfreie Kultur als Dreingabe bekommen.

Fazit, in kurzen Worten: Die Urheberrechtsdebatte ist ein Papiertiger. Die Unterhaltungsindustrie ist gar keine, sondern ein Sack Erdnüsse. Wenn dieser Sack umfällt, egal wo, wird es niemand merken. Das sollte sich jeder Bürger vor Augen halten (die Copyright-Verwerter übrigens auch, und ein wenig mehr Bescheidenheit üben). Mehr ist nicht.

Disclaimer: Der sehr bescheidene Verfasser dieser Zeilen ist nicht nur aktives Mitglied in der Piratenpartei Deutschland, sondern auch Urheber, und befüllt seinen Kühlschrank ausschließlich durch die Früchte seiner geistigen Leistung und deren für den Konsumenten freier Verteilung auf Webseiten wie dieser. Geht doch.