Die Großen Brüder von INDECT

Zwei neue Großprojekte der europäischen Sicherheitsforschung stellen alle früheren Vorhaben in den Schatten. Derweil wird über die Fortsetzung des Programms bis 2020 verhandelt

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Die Kritik am EU-Sicherheitsforschungsprogramm konzentriert sich auf das Projekt INDECT. Zeit, dass sich das ändert. Denn bei Großprojekten wie PERSEUS und Co. geht es nicht nur um Überwachung, sondern auch um die Mobilisierung der Forschung für die europäische Rüstungspolitik.

Wenn es hierzulande um das 1,4 Milliarden Euro schwere Sicherheitsforschungsprogram der EU geht, kommt die Sprache schnell auf INDECT Das Projekt war angetreten mit dem Versprechen, ein "intelligentes Informationssystems zur Unterstützung von Beobachtung, Suche und Erkennen für die Sicherheit der Bürger in städtischen Umgebungen" zu entwickeln. Als "Bevölkerungsscanner" geziehen beschäftigt das Projekt Netzaktivisten, Bürgerrechtler, Enthüllungsjournalisten und Parlamentarier (Bevölkerungsscanner liebäugelt mit Supercomputer).

In der Tat klingen die technokratischen Überwachungsvisionen von INDECT beklemmend, aber nicht wenige zweifeln an der Realisierbarkeit der vollmundigen Versprechen. So ist es fragwürdig, dass die koordinierende Technische Universität Krakau wirklich über die Qualitäten verfügt, ein Konsortium aus 18 Projektpartnern effektiv zu managen und das disparate Patchwork technischer Teilprojekte zu einem integrierten urbanen Überwachungssystem zu schmieden. Plausibler ist, dass einzelne Module im Verlauf des Projektes zur Praxistauglichkeit heranreifen und letztlich isoliert ihren Weg in den Alltag suchen. Doch selbst dann muss man die Frage stellen, welche Chancen für eine erfolgreiche Vermarktung bestehen. Das Konsortium - Universitäten, die polnische und nordirische Polizei sowie einige mittelständische Unternehmen - repräsentiert eher periphere Akteure des sicherheitsindustriellen Komplexes, und entsprechend behaupten Insider hinter vorgehaltener Hand, dass die Genehmigung des Projektes mehr dem europäischen Proporzdenken geschuldet war als einem überzeugendem Forschungsplan.

Doch nicht wenigen der zahlreichen Akteure der Sicherheitsforschung dürfte es sehr gelegen kommen, dass INDECT als Projektionsfläche der Ängste vor der "Forschung für den Überwachungsstaat" vom großen Ganzen ablenkt. Zwar ist INDECT mit seinem 15-Millionen-Euro-Budget das teuerste Projekt in der Förderlinie "Sicherheit der Bürger". Aber diese ist nur eine - zudem kleinere - unter insgesamt sieben Förderlinien; und INDECT ist nur eines von mehr als 130 Projekten, die seit 2007 im Rahmen des Europäischen Sicherheitsforschungsprogramms bewilligt wurden. Von A wie ADABT ("Automatic detection of abnormal behaviour and threats in crowded spaces") bis W wie WIMA2S ("Wide maritime area airborne surveillance") zielen zahlreiche dieser Projekte auf die Entwicklung und Perfektionierung von Überwachungssystemen - und einige von ihnen mit absehbar größerem Erfolg als der mutmaßliche "Bevölkerungsscanner".

170 Millionen Euro für die Festung Europa

Mehr als zehn Projekte haben Budgets, die zum Teil weit über dem von INDECT liegen, die meisten davon in der Förderlinie "Intelligente Überwachung und Grenzsicherheit". PERSEUS, TALOS, EFFISEC, I2C oder SEABILLA: Hier geht um den Ausbau und die Integration der existierenden Grenzüberwachungssysteme an Mittelmeer und Atlantik, die Sicherung der grünen Grenze im Osten der EU durch semi-autonome Patrouillenroboter und Sensornetze oder neue High-Tech-Schleusen für die Grenzkontrolle an Häfen ("Vollständige situative Kenntnis der Außengrenzen"). Bislang fördert die Europäische Kommission diesen Schwerpunkt mit 110 Millionen Euro; weitere 60 Millionen steuern die beteiligten Unternehmen als Eigenanteil dazu.

Mit einem Gesamtbudget von fast 44 Millionen Euro das teuerste Projekt des Forschungsprogramms ist PERSEUS ("Protection of European seas and borders through the intelligent use of surveillance"). Anfang 2011 gestartet, zielt das Megavorhaben auf die Entwicklung eines "System of Systems" zur Überwachung von Europas Seegrenzen. Unter Leitung des spanischen Technologiekonzerns Indra versammelt es 29 Projektpartner. Unter ihnen große Systemintegratoren wie die EADS-Rüstungstochter Cassidian, die spanische EADS-CASA sowie Saab und Boeing. Mit dabei sind aber auch das französische Innenministerium, die griechische Küstenwache, die spanische Guardia Civil, das griechische Verteidigungsministerium und das NATO Undersea Research Centre in La Spezia. Zudem beteiligen sich das italienische Innenministerium und seine Küstenwache, die Polizei Irlands, die rumänische Grenzpolizei sowie eine Reihe von Hafenbehörden als externe "Endnutzer".

Bis 2015 will das Projekt Informationskanäle zwischen den verschiedenen existierenden Kontrollzentren auf- und ihre Überwachungskapazitäten ausbauen. Insbesondere soll die Sensorik zum automatisierten Erkennen, Identifizieren und Verfolgen "verdächtiger kleiner Boote und tief fliegender Flugzeuge" durch die Fusion von Radar- und Satellitendaten mit Informationen von Patrouillenbooten, Flugzeugen und einer im Aufbau befindlichen Flotte taktischer Drohnen verbessert werden. Das Ziel ist ein gemeinsames Lagebild der nationalen Grenzpolizeien und Küstenwachen, der EU-Grenzschutzagentur Frontex und der Europäischen Maritimen Sicherheitsagentur (EMSA).

Damit stellt PERSEUS den letzten Schritt beim Aufbau des europäischen Grenzüberwachungssystems EUROSUR dar, den die EU seit mehr als fünf Jahren vorbereitet. Systematisch knüpft das Vorhaben an Vorarbeiten von abgeschlossenen und laufenden Sicherheitsforschungsprojekten wie OPERAMAR, GLOBE, AMASS oder SEABILLA an, in denen strategische Blaupausen und Basistechnologien entwickelt wurden und werden. Eng verknüpft ist PERSEUS aber auch mit dem Programm Maritime Surveillance (MARSUR) der Europäischen Verteidigungsagentur (EDA). Gemeinsam sollen beide Projekte in einer zivil-militärisch integrierten Meeresüberwachung münden, wie sie im Rahmen der "integrierten Meerespolitik für die Europäische Union" spätestens seit 2009 vorangetrieben wird.

Angesichts der Tatsache, dass die EU als ihren "maritimen Bereich" nicht nur "Küstenmeere, ausschließliche Wirtschaftszonen und Festlandsockel der EU-Mitgliedstaaten", sondern auch "Such- und Rettungs- sowie alle Einsatzgebiete, die von einer zivilen oder militärischen Behörde für eine Marineoperation der EU ausgewiesen wurden", definiert, steht fest, dass PERSEUS und die anderen Grenzüberwachungsprojekte nicht nur der unmittelbaren Migrationsabwehr dient, sondern - im Sinne eines "Pre-border"-Konzeptes - auch der imperialen Machtprojektion auf Hoher See. Illustratives Beispiel hierfür ist die geplante Einbindung des Maritimen Analyse- und Operationszentrums zur Bekämpfung des Drogenhandels (MAOC-N), das seit 2006 von Lissabon aus die Arbeit von Polizei und Marine aus sieben Staaten koordiniert, um im östlichen Atlantik zwischen Kap der guten Hoffnung und Norwegischer See Jagd auf Schmuggler zu machen.