Neue Medien?

Die globalisierten Kommunikationstechnologien werden zu Körpertechnologien - und ihre Zukunft birgt viele Fragen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Dieser Beitrag gibt einen Überblick über die heute mit den neuen Medien - im breiten und interdisziplinären Sinn - verbundenen Kulturtendenzen. Als "neue Medien" werden dabei nicht nur die Informations- und Kommunkationstechnologien (ICT) verstanden, sondern auch die immer stärker in den menschlichen Koerper eindringenden - und diesen zunehmend ersetzenden - prothetischen Technologien. Sie vor allem sind es, die heute den Begriff "Medium" neu definieren, indem sie das "Medium" von einem Instrument des modernen Subjekts zu dessen Teil machen. Das hat - in Verbindung mit der neuen Ideologie des "Transhumanismus", die in den westlichen offenen Gesellschaften zunehmenden Einfluss erlangt - breite kontextpolitische und sozialpsychologische Implikationen. Der Beitrag diskutiert einige sich daraus ergebende Fragen und Perspektiven. Er versteht sich als Anregung zu Auseinandersetzung und Debatte, nicht als umfassende Absteckung des in den kommenden Jahren belangvollen Gesamtgebietes.

Die soziale Gegenwart ist immer stärker durch drei große Kulturtendenzen im Überschneidungsfeld zwischen Technologie, Medien und Kulturkonsum gekennzeichnet. Diese drei Tendenzen sind:

  1. Die menschliche Aufmerksamkeit wird zum wichtigsten Rohstoff und zur meistgehandelten Ware des 21. Jahrhunderts. Der Aufstieg der "Aufmerksamkeitsökonomie" zum weltweit am schnellsten wachsenden Wirtschaftszweig zeigt dies. Die "Aufmerksamkeitsökonomie" ist - wie auch andere avantgardistische Gesellschaftsphänomene der Gegenwart - genau am Überschneidungspunkt zwischen Konsum, Kommerz, Ästhetik und dem Aufstieg von im engeren Sinn anthropologischen Faktoren wie Aufmerksamkeit und Bewusstsein zu wirtschaftlicher und politischer Bedeutung angesiedelt.
  2. Die Technologie wird nach-industriell. Sie erreicht damit einen neuen Grad gesellschaftlicher und anthropologischer Wirksamkeit. Sie wird von einem Faktor gesellschaftlicher Entwicklung zu einer allpräsenten kulturellen Grundlage, auf der alles aufbaut und die alles durchdringt. Sie erreicht damit die Dimension eines eigenständigen, im Prinzip nicht mehr vom gesellschaftlichen Konsens abhängigen Systemfaktors. Technologie steigt mittels interaktiver Medien wie Internet, Echtzeit-Kommunikationstechnologien wie Webcams, aber auch im Rahmen neuer, immer stärker anthropozentrischer und dabei zunehmend inversiver, d.h. in den menschlichen Körper eindringender Technologiebereiche wie den neuen Neurotechnologien, die derzeit zu einer breiten "Neuromorphose" der westlichen Kulturen führen, vom ökonomischen Nutz- zum allgemeinen Kulturfaktor von universalem Wert auf. Manche Theoretiker behaupten sogar, die Technik erreiche heute den historischen Schwellenpunkt, vom Instrument des Menschen zum "Medium" eines "neuen Menschseins" zu werden - und damit den Menschen selbst in seiner bisherigen Form mittelfristig vielleicht überflüssig zu machen (Bill Joy), da sie beginnt, sich mit dem menschlichen Körper zu vereinigen, ja diesen teilweise zu ersetzen. Die Technologie beginnt zugleich aber auch, in die Dinge und in die Natur hinein zu verschwinden (Nanotechnologien). Die sich daraus ergebende Gesamttendenz schwebt in der "tiefen" Ambivalenz zwischen "neuen Befreiungstechnologien" (Emanzipation) einerseits und Virtualisierung und Mechanisierung des Humanen (Enthumanisierung) andererseits. In jedem Fall ist Kulturkonsum heute ganz entscheidend Technikkonsum, und dabei Verschmelzung von Humanem mit Technik. Wird die Technik also heute vom Objekt des Menschen zu dessen Subjekt? Findet eine Umkehrung der Rollen von Akteur und Diener statt? Und wenn ja, wo liegen die Grenzen und Perspektiven dieser Entwicklung?
  3. Transhumanismus wird seit einigen Jahren zur global leitenden Ideologie der Verbindung von Aufmerksamkeit, das heißt des Aktivitäts-Zentrums des "Bewusstseins des Bewusstseins" oder des "Ich", das die Grundlage für alles andere darstellt, einschließlich von Wahrnehmungen und Begriffen jeder Art; Ich-Identität, das heißt des passiven Stabilitätszentrums des "Ich", das sich aus der unablässigen Tätigkeit der Aufmerksamkeit als passive Kontinuität einer "zugrundegelegten Plattform" ergibt; Technologie; und Kulturkonsum. Was genau aber ist "Transhumanismus"? Das Wort bedeutet: "Über den Menschen hinausgehend". Transhumanismus ist eine fortschrittsorientierte und dabei technophile Ideologie, die ihr Zentrum heute u.a. im bislang einzigen "Zukunft der Menschheit Institut" an der Universität Oxford hat. "Transhumanismus" propagiert einen exzessiven Gebrauch der technologischen "Medien" im Sinn einer "Entgrenzung des Menschen über den Menschen hinaus" mittels "mediatischer Extensionen". Dies soll zum Beispiel durch Gehirnimplantate, Ersetzung auch gesunder Körperteile durch künstliche Versatzstücke, Standart-Implanierung von GPS-Ortungssystemen in den menschlichen Körper, aber auch mittels der Forcierung alterungshemmender Technologien wie der sogenannten Telomeren-Technologie oder des flächendeckenden Einsatzes bewusstseinssteigernder Drogen in der Schule erfolgen, wie er derzeit von der britischen Regierung als Pilotversuch erwogen wird. Insgesamt ist "Transhumanismus" Ausdruck des wachsenden Wunsches nach Befreiung des Ich-Bewusstseins vom Körper als Avantgarde-Tendenz zeitgenössischen Kulturempfindens. Kulturkonsum wird im Rahmen dieser Tendenz vom Durchgangspunkt hin auf äußerliche Ziele auch zur Verwandlung des Zentrums des Konsums selbst, nämlich des (aktiven, nicht nur passiven) Ich-Bewusstseins des Menschen. Entscheidend ist, dass der Begriff "Medium" hier wesentlich erweitert wird: War ein "Medium" bislang eine "Erweiterung" des Menschen beziehungsweise ein "Transmitter", der außerhalb der menschlichen Körpers lag und also das Werkzeug oder "Objekt" eines menschlichen "Ich" oder "Subjekts" war (wie etwa das erste Beil des Urmenschen), so wird "Medium" nun im Sinn des Transhumanismus zu einem Teil des menschlichen Körpers selbst, dringt in diesen ein und verwischt damit die Grenzen zwischen Subjekt und Werkzeug, Ich und Objekt, Selbst und seinen Extensionen. Damit ist eine Wendung in der menschlichen Geschichte beschrieben: Das Werkzeug, das aus der menschlichen Fähigkeit, die Natur mittels Trennung von Wahrnehmung und Begriff zu einem Mittel oder "Medium" seiner Wahl umzudeuten hervorging (der Ast, der zu einem Stock oder Speer wird), kehrt nun sozusagen in den Menschen zurück, wird zum Teil von ihm und gestaltet ihn dabei um. Das, was von innen nach außen entsprang, kehrt von außen nach innen zurück. Diese Wendung des Werkzeugs oder "Mediums" von außen nach innen geschieht erstmals in der menschlichen Geschichte, und die - kulturellen, sozialen, politischen - Folgen sind unabsehbar.

Das Leben ist nicht nur ein Traum, sondern viele Träume zugleich

Die Effekte dieser dreifachen Tendenz: des Zusammenwachsens von Aufmerksamkeitsökonomie, Technologie und der rasch in das breitere gesellschaftliche Unbewusste ausstrahlenden Ideologie des "Transhumanismus" sind vielfältig. Sie sind - sowohl in jedem Einzelbereich wie im Ganzen - widersprüchlich bis paradoxal. Sie scheinen keiner linearen, sondern einer diskontinuierlichen Tendenz zu folgen. Sie vermischen dabei wirtschaftliche, politische, soziale, kulturelle und zum Teil auch zivilreligiöse Dimensionen. Soziale Netzwerke wie Facebook oder Twitter, neue Öffentlichkeitsformen wie Wikileaks sowie neue Medien wie Webcams machen sich die Offenheit, den Schwellencharakter und die wachsende wechselseitige Durchlässigkeit und Verbindung dieser Tendenzen zunutze. Sie sind deren Motoren ebenso wie ihr Ausdruck - sowohl ökonomisch wie symbolisch und kulturell.

Auf der anderen Seite stehen alle diese Dimensionen ausnahmslos im konstitutiven Zwiespalt zwischen Kommerzialisierung des Privaten und zunehmenden Möglichkeiten basisdemokratischer zivilgesellschaftlicher Partizipation. Das verdeutlicht auf der zugrundliegenden Systemebene beispielhaft der Kampf zwischen der Monopolbildung im Softwarebereich durch einzelne Firmen (zum Beispiel Microsoft) und der Erneuerung einer "Kultur des Schenkens" im Internet (zum Beispiel die "open source"-Bewegungen), der in gewisser Weise das heutige Ringen innerhalb offener Gesellschaften zwischen elitären und basisdemokratischen, machtvollen und machtfreien, kommerzialisierten und nachhaltigen, neu zentrierenden und neu dezentrierenden Formen von Eigentum, Medien, Öffentlichkeit, Individualitäts- und Identitätskonzepten und Lebensstilen kennzeichnen.

Der Fragen in diesem - für die Zukunft offener Gesellschaften zweifellos mit konstitutiven - Spannungsfeld sind viele: Sind die neuen Medien als "Extensionen des Menschen" technoide Prothesen, die der Verdoppelung, ja Vervielfältigung der eigenen Lebenszeit mittels vieler Leben, dienen: also Mittel, um zumindest virtuell und imaginativ viele verschiedene Leben zugleich zu leben, und also Ausdruck der zutiefst "transhumanistischen" Sehnsucht des Zeitgenossen, über die Grenzen der "conditio humana" hinauszugehen?

Der (post-)moderne Traum, mehrere Leben zugleich zu leben, hat eigentlich erst mit den modernen Medien-Stars und unserem "Konsum" ihres Seins in der Bilderkultur des Films seit dem frühen 20. Jahrhundert begonnen. Vor der Filmkultur war das Leben nur eins, und in sich eins ohne Erwartung auf Weiteres, was man sich in unserer Zeit bereits meditative vergegenwärtigen muss. Doch ein Filmstar zu sein heißt, viele Leben gleichzeitig zu leben, und doch immer derselbe zu sein - also das, was die Mehrheit der "spätmodernen" (Jürgen Habermas, Jacques Derrida) Zeitgenossen will. Ein Star spielt viele Rollen, er ist viele Leben auf einmal, aber zugleich doch auch immer derselbe Star. Das heißt: Das Leben ist nicht nur ein Traum, sondern viele Träume zugleich - ich habe nicht nur mein eigenes, sondern alle Leben auf einmal. Genau darin besteht ein zentraler Traum des "postmodernen" Zeitgenossen.

Genau das machen sich heutige interaktive Realzeit-Netzwerktechnologien, zum Teil auch in Zusammenarbeit mit der virtuellen Spiele-Industrie, zu Nutze. Sind zum Beispiel virtuelle Zweitwelten wie "Second Life" im Internet, wo beliebige Identitätskonstrukte möglich sind, noch ein Spiel - oder bereits eine zweite Bewusstseinswelt? Wie die neueste Fernsehforschung seit 2000 gezeigt hat, können die meisten Menschen nicht zwischen Fernseherinnerung bzw. virtueller Erinnerung und realer Erinnerung unterscheiden: Was geschieht hier also aus anthropologischer Sicht wirklich? Oder wenn das Kontakte-Netzwerk Facebook im Januar 2011 auf einen Wert von 50 Mrd. US-Dollar geschätzt wird, also weit mehr als 70% der Länder der Welt an Bruttosozialprodukt produzieren: Ist das noch real und angemessen, oder ist die Wertezuschreibung hier selbst bereits virtuell?

Bei Facebook wird doch genau besehen nichts Reales produziert. Doch scheinbar besteht bei den neuen Medien auch eine neue Definition von Wertschöpfung: Wert ergibt sich daraus, wie viele Einzelaufmerksamkeiten in eine Plattform verwoben und dauerhaft an sie gebunden sind, im Fall von Facebook (nach eigenen Angaben) 760 Millionen User im Oktober 2011 weltweit. In diesem Sinn scheint die globalisierte Aufmerksamkeitsökonomie die klassische ökonomische Wertschöpfungstheorie, die aus zwei Dimensionen besteht: 1) Anwendung von Arbeit auf Natur oder von 2) Geist (Organisation, Technologie) auf Arbeit außer Kraft zu setzen. Ergibt sich daraus eine gesellschaftlich auch im Wertebezug ganz neue Rolle des Sozialen, in welcher Aufmerksamkeit, also die Zeit, die ich als aktives Ich-Bewusstsein in eine (an sich ökonomisch belanglose) Tätigkeit an einem bestimmten Ort investiere, zu einem Wert an sich wird? Und wo also die Tatsache der Beziehung selbst ökonomisch definierbar wird? Und wenn ja: Ist das sozial, gesellschaftlich, kulturell und nicht zuletzt (damit eng zusammenhängend) politisch progressiv oder regressiv?

Sicher scheint bislang nur: Die neuen mediatischen Technologien wollen kulturelle Avantgarde-Symptome sein. Und sie sind dies in der Tat auch, wenn auch in sehr unterschiedlichen Arten, die in ihren verschiedenen, zum Teil gegenläufigen Aspekten zusammengeschaut werden wollen. Eine zentrale, für die Zukunft offener Gesellschaften voraussichtlich mit ausschlaggebende Frage lautet: Bewirken diese neuen Medien. Dass sich gesellschaftliche Geltungsgrenzen (Jürgen Habermas, Karl-Otto Apel) zwischen den (in Bezug auf Rudolf Steiners "Dreigliederung" für die Gegenwart offener, demokratischer Gesellschaften notwendigerweise auf eine "Sechsgliederung" hin erweiterten) grundlegenden Systemlogiken und Diskurstypologien: 1) Wirtschaft, 2) Politik, 3) Kultur, 4) Religion, 5) Technologie und 6) Demographie wechselseitig autonomisieren und in Richtung auf eine größere Variabilität, Mehrdimensionalität und Pluralismus befreien, wie es offene, demokratisch ausdifferenzierte Gesellschaften der Moderne verlangen? Oder wirken sie im Gegenteil eher "unitarisierend", homogenisierend und nivellierend zwischen diesen Sphären und Diskursformationen? Mit anderen Worten: Was ist die im engeren Sinn kulturemanzipative Essenz dieser neuen Medien und ihrer Einbettung in die Gegenwartskultur mittels neuer Arten des (Sozial-, Beziehungs- und Kultur-)Konsums: sind sie humanismusfördernd oder antihumanistisch?

Ist Facebook zum Beispiel wirklich bereits eine "utility" (das heißt ein zum Leben dazugehörender, allgemein nützlicher Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens wie Kleidung, Wohnen oder ein Auto), und nicht mehr nur ein "service" (das heißt eine "Dienstleistung" spezialisierter Art), wie seine Erfinder behaupten, weil offenbar (nach Facebook-Angaben) 60% der Nutzer täglich auf die Seite zurückkommen? Besteht sein Kernprozess also letztlich in einem eher passiven kulturellen Konsum oder, wie es selbst in der Öffentlichkeit erscheinen will, in einer neuen Möglichkeit aktiverer sozialer Interaktion? Macht es Beziehungen intensiver, oder schwächt es sie? Ist es also eine "Extension" meines Selbst in der virtuellen Welt - oder nur ein technoider Ersatz direkter, also eigentlicher sozialer Beziehung? Und: Besteht zwischen diesen beiden Dimensionen in der heutigen Welt überhaupt noch ein Unterschied? Was vor allem ist der Effekt auf das soziale Ganze: Wird dieses sozial "schneller" und produktiver mittels technologisch vermittelter, nicht-formaler und nicht-institutionalisierter Partizipation - oder nur abstrakter?

Die Antworten bleiben in der gegenwärtigen Situation - wohlgemerkt: der historisch, technologisch, zivilisatorisch und kulturell erstmaligen vollen Entfaltung dieses gesamten Problemfeldes! - mehrdeutig, zwiespältig und zweischneidig. Antworten sind bis auf weiteres weder "abschließend" möglich; noch ist ihre "Endgültigkeit" vermutlich entscheidend. Entscheidend ist meines Erachtens zunächst vielmehr die Anschauung produktiver "tiefer Ambivalenz" dieser Entwicklung, sowie das ausgewogene und bewusste Erlernen einer solchen Anschauung für uns, die wir kritische Zeitgenossen sein - und auch unter der Wirkung der "neuen Medien" - bleiben wollen.

Zeitgenössische Medien sind heute zugleich in jedem Fall gerade in ihrer Verbindung mit dem allgemeinen Kulturkonsum ein Teil eines ganz zentralen, in Europa (im Unterschied zu den USA) noch immer weitgehend unterschätzten globalen Trends: der massiven Stärkung der prä-politischen und kontextpolitischen Sphäre auf Kosten des traditionellen institutionalisierten Politischen. Und sie sind Teil des massiven Aufstiegs von Kulturpraktiken und -politiken zu "parallelen" Arten von Politik.

Was meine ich damit? Medien prägen immer stärker (globalisierte) Lebensstile und gleichen an; Medien untergraben aber auch politische und soziale Verhältnisse, man sehe zum Beispiel die wachsende Rolle von Internet-Kommunikation, Wikileaks, Twitter und Facebook bei der Auslösung und Organisation der Jugend-Volksaufstände in Nordafrika - Tunesien, Algerien, Ägypten, Bahrain, Libyen - 2011 sowie die Rolle von Handytelefonen bei der Veränderung der Rolle von Gewalt mittels "unmittelbarer" globaler Öffentlichkeit, wie zum Beispiel im Iran 2009. Außerdem ist das Internet ohne Zweifel ein kulturemanzipativer Schritt über das Fernsehen hinaus: Es ist interaktiv statt passiv, und damit ein Schritt in Richtung der Bertold Brechtschen Medientheorie absoluter Freiheit bei "direkter" prothetischer Anwesenheit bei allen globalen Schlüsselereignissen ohne Kommentar, Zusammenfassung oder Schnitt durch Dritte.

Wer kontrolliert den Schnittpunkt zwischen Aufmerksamkeit, Technologie und Transhumanismus?

Damit schließt sich heute ein Kreis. Denn Medien spielten bereits für die Entstehung der Moderne eine zentrale Rolle; doch sie erreichen heute in ihrer Kulturprägung und -bedeutung eine neue Rolle, die die Moderne zumindest in den offenen Gesellschaften des Westens bis zu einem gewissen Grad vollendet. Fotohandys verändern das Politische; der Computer und die Bildung, ihn zu benutzen sowie der "Access" spielen eine zunehmend zentrale demokratie- und gesellschaftspolitische Rolle, die sowohl bisher ungekanntes partizipatives wie neues, so noch nicht dagewesenes exklusives Potential auf globaler Ebene birgt.

Zugleich schwebt der traditionelle Journalismus mittlerweile gerade unter den Bedingungen der Internet-Echtzeit von Webcams und Smartphones sowie der globalen Interaktion, die ihn überflüssig zu machen drohen, immer stärker zwischen "Fiktionalisierung" und "Einbettung", um seine Rolle in der öffentlichen Rationalität verzweifelt zu bewahren. Das heißt er schwebt zwischen dem ehemaligen New-York-Times-Journalisten Jayson Blair, der seine Reportagen ganz einfach auf der Grundlage von sekundären Medieninformationen erfand, aber so tat, als sei er vor Ort und Primärzeuge, und dem "Fox"-Kriegsberichterstatter Oliver North, der im Irak-Krieg "eingebettet" als Soldat auf Seiten einer Kriegspartei in Realzeit und live über die Vorgänge berichtete. Beides hebt den - im eigentlichen Sinn des Wortes - "medial" technologisierten und vermittelten Journalismus einerseits immer stärker problematisch über die realen Ereignisse hinaus und von ihnen ab (Jayson Blair), oder aber zieht ihn problematisch immer direkter und distanzloser in die Ereignisse hinein und lässt ihn mit ihnen ungebührlich verschmelzen (Oliver North). Beide Tendenzen sind nicht ohne die neuen Medien denkbar.

Was bedeutet das? Welche Rolle spielen zum Beispiel Computerspiele, mittlerweile eine der 10 größten Einzelindustrien der Welt, innerhalb des - und für den - globalisierten Kulturkonsum? Und warum spielen wir überhaupt in solch massiven Ausmaßen? Ist Facebook wirklich ein "neues Land" in der Zukunft der Menschheit, d.h. ein transnationaler, sprachübergreifender, globaler, nicht grenz- oder ethniengebundener neuer Kontinent sui generis? Sind neue Medien wie Webcams oder Simulationswelten wie "Second life" tatsächlich Agenten "politischer Subjektivierung", d.h. der Veränderung des Ganzen anhand tausenden von an sich zwar privaten, aber nunmehr mittels Kommunikationstechnologie öffentlichen und vernetzbaren Einzelfällen (die nun die Möglichkeit zu synchroner und diachroner Gemeinsamkeit erhalten, ja im Prinzip jeden biographischen und politischen Einzelfall gesellschaftlich werden zu lassen)? Oder sind sie das Gegenteil, nämlich Teil des globalen Disziplinierungs- und Nivellierungsmechanismus des "tittytainment" (Zbginiew Brzezinski), d.h. der Kombination von Unterhaltung und minimalem Sozialstaat, der die Massen ruhig hält - und zwar nun nicht mehr nur in Schwellenländern, sondern immer stärker auch in den modernen Demokratien des Westens (das Italien Silvio Berlusconis, die USA der "Fox-News-Demokratie" und ihrer vor allem medial gegen Barack Obama zivilgesellschaftlich mobilmachenden "Tea Party", bis zu einem gewissen Grad neuerdings aber auch der Piratenpartei Deutschlands, deren unerwarteter Erfolg seit Herbst 2011 im wesentlichen nicht auf Personen oder Programmen, sondern auf der Nutzung von und der Identifikation mit dem Internet beruht)?

Wenn man sieht, wie riesig die virtuellen Welt(en) bereits sind, und welch großen Anteil der menschlichen Aufmerksamkeit sie bereits quantitativ und qualitativ an sich binden, dann ergibt sich als die Summe der vielen Einzel-Fragen heute eine zentrale Gesamt-Frage: Wenn die Erfahrungswelt des Individuums immer virtueller wird, gilt dann die Tatsache eines "hermeneutischen Zirkels" für die Gegenwart auch hier, wo das Ganze (der Frage) sich nur aus dem Einzelnen (der Fragen) verstehen lässt, sich zugleich aber das Einzelne nur aus dem Ganzen erklären lässt.

Wichtig wird angesichts von Zeitphänomenen wie Facebook, Simulationswelten, Webcam-Kultur, Aufmerksamkeitsökonomie, Journalismus zwischen "Fiktionalisierung" und "Einbettung" u.a. in Zukunft nicht mehr primär nur die Frage sein: Wer kontrolliert die Medien eines Landes, einer Gesellschaftsform, einer Zivilisation, eines menschlichen Selbstverständnisses - obwohl das zweifellos weiterhin von herausragender politischer und sozialer Bedeutung für die Zukunft der globalisierten Demokratien sein wird. Noch wichtiger aber wird mutmaßlich die Frage werden: Wer kontrolliert den Schnittpunkt zwischen Aufmerksamkeit, Technologie und Transhumanismus? Also: Den Mechanismus der Veränderung und kulturellen und mediatischen "Evolution" an der Speerspitze der technologischen Avantgarde, wo über Einzelnes das Ganze mittels der Schaffung neuer Öffentlichkeiten verändert wird? Sind die neuen Medien hier Agenten "politischer Subjektivierung"? Oder sind sie (möglicherweise nolens volens) in Wirklichkeit vielmehr deren Unterwanderer? Wohin geht die Kultur als Ganze unter diesen Bedingungen? Verschwindet in der Kultur universaler Mediatisierung, die zugleich in ihrem Zentrum eine Kultur der unreflektierten Formen ist, das traditionelle ästhetische Wahrnehmungs- und Empfindungsvermögen, das über Jahrhunderte von Kulturleistung geschaffen wurde - oder wird dieses vielmehr (wenn auch in paradoxalen Formen) geschärft? Und wo ist die soziale und politische Valenz der Entwicklung?

Kulturkonsum oder Kulturgebrauch?

Zusammenfassend gilt meines Erachtens: Unter den - hier in der gebotenen Kürze nur stichwortartig skizzierten - Bedingungen fast durchgängiger Doppel- und Mehrfachbedeutung der überwiegenden Mehrheit der Phänomene im Spannungsfeld zwischen zeitgenössischem Medien- und Kulturkonsum sollten wir im Hinblick auf eine künftig integrations- und zukunftsfähige medienpädagogische und medienwissenschaftliche Forschung begrifflich, definitorisch und in heuristischer Absicht davon ausgehen, dass

  1. der Begriff "Medium" sowohl materielle wie immaterielle Medien umfasst. Darunter sind heute zunehmend der Körper als Primärmedium totaler Veränderbarkeit (Schönheitsindustrie, Schönheitschirurgie), aber auch ontologische Grundfähigkeiten des Menschen wie Aufmerksamkeit und aktives Ich-Bewusstsein, die zunehmend ökonomisiert und mediatisiert werden. Medien - im Sinne von "Extensionen des Menschen", oder "kongenialen Prothesen" - wirken hier als Mediatoren und Motoren des Übergangs von einer bislang humanistischen in eine künftig möglicherweise post- oder gar transhumanistische Kultur. Was wird dieser Übergang mit sich bringen? Wirken die Medien heute also, wenn auch möglicherweise ungewollt, als Propagatoren einer Ideologie der totalen Entgrenzung "über den Menschen hinaus"? Und sind sie gerade hierin, diesseits all ihrer (zunehmend beliebig werdenden) Inhalte, bereits die "message", die sie transportieren (McLuhan), also in ihrem bloßen Vorhandensein bereits der Beweis der Möglichkeit universaler Entgrenzung?
  2. Ist "Kultur" unter diesen Bedingungen heute wirklich noch (wie in der klassischen neueren Definition der kritischen integrativen Kulturtheorie) das "Tradierbare am Sozialen" (Johannes Heinrichs, Michael Opielka)? Traditionell kommt Kultur von "coltivare", das heißt "für etwas sorgen", "etwas nachhaltig anbauen" und sich dann mit fortgesetzter Bemühung darum kümmern, dass es wächst und gedeiht. Gilt das auch noch für die Kulturprodukte in der transitorischen Zivilisation technoiden "Kulturkonsums"? Wenn die Medien künftig zum Beispiel in Gestalt von Webcams immer mehr eine universale Prothese direkter Partizipation ohne Kommentar und Schnitt werden sollten, ein Livemedium weltweiten Dabeiseins - ist das dann noch "Konsum", oder setzt es einen aktiven, selbstbewussten und autonomen "Gebrauch" von "Kultur", einschließlich mediatischen Ressourcen und Wahrnehmungen, als erlernte Grundhaltung bereits voraus? Müssen wir dann nicht vielmehr statt "Konsum" den Begriff des "Gebrauchs" ins Zentrum stellen, eine Mentalität des "Gebrauchs" (nicht mehr des Konsums) von Ressourcen, Aufmerksamkeit und Medien, der in allen Tätigkeiten, Entscheidungen und Handlungen enthalten sein musst? Steht die Gegenwart denn nicht gerade in Gestalt der technologischen Mediatisierung genau zwischen passivem, "nachhaltigem" und "kreativem" Konsum? Noch genauer auf den Punkt gebracht: Kommen wir in ihr der ich-, autonomie- und aktivitätszentrierten Medientheorie von Brecht heute mit den neuen Medien wie zum Beispiel Webcams näher oder entfernen wir uns eher davon?
  3. Aber wenn es künftig tatsächlich nicht mehr vorrangig um Kultur-"Konsum", sondern um "Kultur-Gebrauch" ginge - was genau würde das bedeuten? Wo liegen die Einzelveränderungen, die sich daraus ergeben? Und wie sollen wir dann neue Formen der mediatischen Stilisierung wie etwa "Ego-Branding" einordnen? Ein Beispiel dafür ist David Bowie, der seinen Namen seit den 1990er Jahren als Internetadresse verkauft. Kaufe ich mir damit die Identität der Person David Bowie, die projektionsbereite, nicht-existente Kunstfigur "David Bowie" als Abstraktum eines personifizierten Ideals oder überhaupt nur eine reine Illusion ohne jedweden Inhalt, die mehr mit mir selbst und meiner Selbstidealisierung als mit Bowie zu tun hat? Und, je nach Entscheidung dieser Fragen: Was, wenn alles zugleich, nur mit wechselnden Schwerpunkten, in der postmodern mediatisierten Kultur der Fall wäre? Was sagte das über den Status und den Entwicklungsstand des Subjekts in der spätkapitalistischen Gesellschaft aus - vor allem aber über die Kultur, die dieses Subjekt mitgestaltet?

Zeitgemässe integrative Sozial- und Medienwissenschaften müssen in den kommenden Jahren versuchen, mittels einer ausdrücklich phänomenologischen, also die Vorgänge möglichst direkt und unvermittelt anschauenden und - darauf aufbauend - so sorgfältig wie möglich "erzählend" nachzeichnenden Methode der "dichten Beschreibung" (Clifford Geertz), theoretische Grundlagen für ein zeitgemäßes, d.h. heute vor allem: komplexitätsadäquates und "tief" ambivalenzfähiges Verständnis zu gewinnen.

Dichte Beschreibung" besteht als Methode u.a. in der Klärung folgender Fragen bei der Betrachtung der beschriebenen Zeitphänomene: Was sehe ich? Was sehe ich nicht? Und was ist bereits meine Interpretation, basierend auf unbewusst gewordenen paradigmatischen Vorurteilen und inhärierten Begriffsmustern, vorgenommen mittels des Mechanismus von "Differenz und Wiederholung" (Gilles Deleuze)? Was schließlich sehen wir, wenn wir uns miteinander zu ein und derselben Wahrnehmung konfrontieren, die sich aus vielen komplexen, in sich zum Teil abgründigen Einzel-Wahrnehmungs- und Begriffsbildungsprozessen zusammensetzt?

Das alles führt uns unweigerlich dazu, im Rahmen heutigen Medien- und Kulturkonsums (und der dazugehörigen Medienpädagogiken) die Frage zu stellen, was "Demokratie" (und Zukunft der Demokratie) unter den Bedingungen globalisierter und universalisierter Medialität bedeutet. Bedeutet Demokratie den (asymmetrischen, aber reduktionistischen) "Schnittpunkt aller Wahrnehmungen", einschließlich deren inhärenter Interpretationsgewohnheiten? Oder aber die (symmetrische, aber partizipative) "Wahrheit" des zugrundeliegenden, verbleibenden kleinsten gemeinsamen Nenners oder Rest"? Aus einem solchen Frage-Prozess kann ein breiteres - und damit wenn nicht adäquates, so doch mutmaßlich adäquateres, weil normative und ontologische Dimensionen, vor allem: formale und ontologische Logiken tendenziell gleichermaßen einbeziehendes - Bewusstsein dessen entstehen, was "wirklich" vorliegt (soweit von "Wirklichkeit" als Gewirktsein des Erscheinenden mittels Bewusstseins- und Wahrnehmungsprozessen sowie deren spezifischen Voraussetzungen in den Medien-Kontexten der Zeit überhaupt noch sinnvoll gesprochen werden kann).

Die sozial- und medienwissenschaftliche Forschung muss ein experimentelles und offenes Unternehmen sein

Es wird jedenfalls Zeit, diese Fragen mit mehr Nachdruck und Anstrengung als bisher im öffentlichen Raum zu stellen. Wir sollten diese Fragen meines Erachtens so stellen, dass eine für eine möglichst breite Zahl von Interessierten zur Mitgestaltung offene Debatte entsteht. An ihren Elementen und Ergebnissen sollten möglichst alle, die es wollen, aktiv mitarbeiten können. Nicht um die bloße Wiederholung oder Anwendung eines bereits zur Verfügung stehenden Wissens geht es dabei, sondern um die Gewinnung von ambivalenz- und prozessfähigen, vor allem: von offen bleibenden Begriffen und Verständnisweisen, die von den Beteiligten dann in ihrem eigenen Umfeld je eigenständig weitergebildet und angewandt werden können. Da sich die "neuen Medien" ständig weiterentwickeln und vervielfältigen, sollte die Debatte ebenso entwicklungsfähig bleiben. Sie kann nicht abgeschlossen werden und sollte nicht auf "letzte Wahrheiten" hinzielen, sondern die ständige Entwicklung der neuen Medien ebenso hartnäckig wie dauerhaft begleiten.

Der Natur des Themas entsprechend muss eine zukunftsfähige sozial- und medienwissenschaftliche Forschung im Sinne eines integrativen, inklusiven und nachhaltigen Sozialimpulses also meines Erachtens in den kommenden Jahren ein experimentelles und offenes Unternehmen sein. Nicht um die bloße didaktische Aufbereitung des ständig von der Zivilgesellschaft, kollektiven und individuellen Forschungen und der Industrie zur Verfügung gestellten Anschauungsmaterials geht es, sondern um die Gewinnung einer personalen Anschauungsfähigkeit und von kritisch-mehrdimensionalen Verhaltensoptionen. Das bezieht die direkte, erst im Dialog interpretatorisch gemeinsam zu erschließende Anschauung symptomatisch wichtiger historischer Phänomenologien mittels des bewussten Gebrauchs der neuen Technologien mit ein.

Literatur des Autors zum Thema

Empfehlenswerte Texte anderer Autoren

Roland Benedikter arbeitet als Europäischer Stiftungsprofessor für Soziologie und Kulturanalyse am Europa Zentrum der Stanford Universität im Zentrum von Silikon Valley und am Orfalea Zentrum für globale und internationale Studien der Universität von Kalifornien in Santa Barbara. rben@stanford.edu.