Außer Kontrolle

Ägypten: Der Machtkampf im Land spitzt sich zu, der Militärrat hat die Lage nicht mehr in der Hand

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Gewalt, nicht nur in Kairo, sondern auch in Ismailija und in Alexandria, wo es ebenfalls Tote gab, hat die letzten Tage geprägt und zu einer Situation geführt, die nach allen Seiten kippen kann, "Unsicherheit" ist das Wort, das am häufigsten fällt, wenn es um eine Beschreibung der Lage im Land geht.

38 Tote und Hunderte von Verletzte lautet die offizielle Bilanz der Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften in den letzten Tagen. Die Angaben stammen vom ägyptischen Gesundheitsministerium; al-Jazeera setzt die Zahl der Verletzten auf über 3.000 an. Doch ist die Aussagekraft von Zahlen beschränkt, sie geben nicht wieder, worum es geht, wie die Wirklichkeit dahinter empfunden wird. So schreibt die Bloggerin Zeinobia von einem Massaker. Die Schlüsselfrage dazu lautet, wer die Eskalation der Gewalt zu verantworten hat und wie ihr Einhalt zu gebieten wäre. Aber wer verfügt über die Macht und den Willen dazu?

Der Militärrat entschuldigt sich heute morgen via Facebook. Man bedauere und bitte um Verzeihung wegen der toten Märtyrer auf dem Tahrirplatz. Welchen politische Wirkung diese Entschuldigung hat, bleibt offen. Das Vertrauen in den Hohen Rat der Streitkräfte (SCAF) lässt laut Umfragen auch in der Bevölkerung nach.

Wer stoppt die gewaltbereiten Polizisten?

Wie es aussieht, ist der Facebook-Eintrag zugleich eine Erklärung der Machtlosigkeit. Der Militärrat verfügt offensichtlich über keine wirksamen Mittel, um die Anti-Riot-Polizisten an der Ausübung brutaler Gewalt zu hindern. Auch von Militärpolizisten, die überaus hart gegen Demonstranten vorgehen, ist die Rede. Und es geht nicht nur um den Einsatz eines anscheinend besonders bösartigen Tränengases, an dessen Folgen auch Ärzte gestorben sein sollen, sondern um den Einsatz von Schusswaffen.

Ist es ein vor der Öffentlichkeit hinter anderslautender Solidaritäserklärungen mit der revolutionären Jugend wohl versteckter politischer Wille, der den Militärrat daran hindert, die Vorgehensweise der Sicherheitskräfte im Einsatz zu ändern? Oder ist es Machtlosigkeit? Tatsächlich wird von Militärs berichtet, die sich zwischen Demonstranten und Anti-Riotkräften stellten, um letztere vor den CSF-Polizeieinheiten zu schützen. Andrerseits müssten den herrschenden Militärs doch auch andere Mittel zu Verfügung stehen, um die Gewalt von Seiten der Sicherheitskräfte zu stoppen.

Wie schwer es ist, die gewaltbereiten Polizisten am Schiessen und Prügeln zu hindern, zeigte sich gestern, als Scheich Ahmed al-Tajib, immerhin, Großimam der in der muslimischen Welt hoch geachteten El-Azhar-Universität, zum Waffenstillstand aufrief und dies mit mehreren Geistlichen vor Ort auch durchgesetzt werden sollte. Nach Zeugenaussagen scherten sich die Polizisten nach einer tatsächlich gewährten Feuerpause plötzlich nicht mehr darum. Die Demonstranten wurden während ihrer Gebete erneut angegriffen:

The truce started today’s afternoon and the security forces stopped its attack. The protesters walked freely at Mohamed Mahmoud street and even started to clean it !! The public prosecution teams came to investigate and we had some sort of weak hope. Then suddenly hell opened its doors and unfortunately we all saw it live on TV when the security forces broke the truce and opened its fire on the protesters while some of them were praying according to eye witnesses.

Zeinobia

Das Innenministerium und die weitergeführte Kultur des alten Regimes

Wer also kann die Polizisten stoppen? Das Innenministerium ist nach dem Rücktritt ohne Minister, die Macht halten andere, den Schaltfiguren im Innenministerium. Ihnen, meist Vertreter des alten Regimes, gilt die Wut der Demonstranten, die sich den Weg dorthin bahnen wollen. Das Ministerium ist das Ziel wütender Demonstranten, denen manche Beobachter einen im Vergleich zu früheren Protestkundgebungen auffallend ausgeprägteren Hang zum Heldentum bescheinigen, der geradezu die Auseinnadersetzung mit den bewaffneten Polizisten suche. Die schlimmsten Auseinandersetzungen in Kairo finden nach Berichten nicht auf dem Tahrirplatz statt (auch wenn es dort angesichts dichter Tränengaswolken auch nicht gerade angenehm sein dürfte), sondern auf der Straße Mohamed Mahmoud, die dorthin führt.

Interior ministry forces are out of control ... they're not being professional and they're not being controlled by the military council

Rebab el-Mahdy, Professor für Politik an der Amerikanischen Universität in Kairo

Die Polizei, so bekräftigen ehemalige Polizisten, hätten die Notwenigkeit der Reformen in ihren Kreisen noch nicht begriffen. Man handelt noch ganz im Geist der Zeit Mubaraks, als brutale Verfechter der alten Ordnung, mit alten Vorgaben, wie mit Demonstranten umzugehen ist. Die Eskalation der letzten Tage gehe eindeutig auf ihr Konto.

That’s no surprise, says Youssef, given that the police force—used as a brute enforcer by the Mubarak regime—has not accepted the need for reform or changed any of its methods in the nine months since the dictator’s fall. "Mismanagement, mistraining," says Youssef. "That’s why they are dealing with people with bullets."

Corrupt and Brutal, Egypt’s Police Fight for Their Survival

Das die Polizisten ihre obrigkeitsstaatlichen, demokratie- und menschenverachtenden Anschauungen ungeachtet der neuen Entwicklungen weiter pflegen konnten, liegt natürlich in der Verantwortung der Führung - und dazu gehört im weiterene Sinne nicht nur das Innenministerium, sondern auch der Miliärrat, der nicht dazu imstande war, den Bekräftigungen, dass man doch Seite an Seite mit der Bevölkerung das Neue umsetzen wolle un den Geist der Revolution erhalten, eine entsprechende politische Kultur folgen zu lassen. Ob aus Unfähigkeit oder mangelndem politischen Willen.

Juristische Wege und Demonstrationen

Am vergangenen Dienstag haben sich Menschenrechtsgruppen, die sich in Ägypten traditionellerweise auf juristische Wege verstehen, dazu entschlossen General Ruweini, gegen den drittmächtigsten Mann des Militärrats und Chefs der Militärpolizei eine Klage anzustrengen:

Five human rights organizations said today that the past three days' brutal attacks on demonstrators, carried out by the Interior Ministry's security forces and military police forces under the Supreme Council of the Armed Forces in Cairo, Alexandria, Suez, Ismailiya, Assyut, and other cities, constitute criminal offences. These offences are without a statute of limitations and the perpetrators and instigators must be brought before criminal trials.

Für heute haben Zivilorganisationen eine Demonstration angekündigt, die weiterhin den Rücktritt des Militärrats fordert (Stepping down Protest). Auch die Jugend der Muslimbrüderschaft ist am Tahrirplatz dabei, in diesem Punkt hat man sich von Vorgaben der MB-Führung, die es sich mit den Mächtigen nicht verderben will, gelöst.