"Lob der Oberflächlichkeit"

Für eine Philosophie der Benutzeroberfläche

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Die gegenwärtige Kulturrevolution kann als ein Übertragen der Existenz auf die Fingerspitzen angesehen werden.

Vilém Flusser

"You press the button, we do the rest" lautete 1888 George Eastmans Werbeslogan für die erste Schnappschusskamera, die Kodak 1, deren Besonderheit der "implementierte" Filmentwicklungsdienst war. Mit der 1900 erhältlichen "Brownie Camera" läutete George Eastman endgültig die "Trivialisierung" des Fotografierens ein, indem er den Prozess der Bilderzeugung auf wenige Handgriffe reduzierte und für fast jedermann erschwinglich machte.

Die Kombination aus einer einfachen Bedienbarkeit, einer userfreundlichen Benutzeroberfläche, dem innovativen Service des implementierten Entwicklungsdienstes und der erschwingliche Preis führte zur massenhaften Verbreitung und Verwendung der fotografischen Technologie. Gerade einmal 60 Jahre nach ihrer Erfindung und Jean Aragos' bewegender Rede vor der französischen Akademie der Wissenschaften, in der er die Bedeutung dieser Technologie für die Trivialisierung wissenschaftlicher Verfahren pries1, ist diese Technologie selbst soweit trivialisisert worden, dass sie für jeden bedienbar und erschwinglich geworden war. Gut weitere 60 Jahre dauerte es bis, der CCD Chip entwickelt wurde und den Rollfilm und die Polaroidkameras überflüssig machen sollte.

"You press the button, we do the rest", dieser Tastendruck, dessen Anfrage in ihrer Beantwortung anfänglich noch mehrere Monate dauerte, sollte in den darauffolgenden 60 Jahren auf Sekundenschnelle reduziert werden. In jedes Mobiltelefon integriert, werden von uns per Tastendruck täglich Bilder produziert, publiziert und kommuniziert.

Die analoge Kamera, Sinnbild der Black Box, "formatierte" unsere Interaktion mit der Wirklichkeit, unsere Gestik von einer des Sehens und Hörens zu einer des Tastens und Tippens um. Ebenso veränderte die Schreibmaschine, die um den gleichen Zeitraum herum entwickelt und massenhaft verbreitet wurde, die für den Menschen kulturtechnisch bedeutende Geste, die des Schreibens, in eine des Tastendrückens.

Zwei bedeutende Gesten menschlicher Kulturtechniken wurden von kontinuierlichen Bewegungen in fragmentarisch-diskrete zerlegt. Will man unsere heutige Bereitschaft und Begeisterung zum Tasten- und Knöpfedrücken und zum Interagieren mit synthetischen Oberflächen verstehen, sollte man sich ins 19. Jahrhundert begeben, um die Umformatierung und Automatisierung von zweien unserer fundamentalen Kulturtechniken in der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit nachzuvollziehen.

Die Entwicklung der fotografischen Technologie im 19. Jahrhundert läutete nicht nur eine Automatisierung und damit Demokratisierung der Bildproduktion ein, in dem Sinne, dass die Maler und Zeichner durch einen Tastendruck auf einmal arbeitslos wurden. Die massenhafte Verbreitung der fotografischen Bilder veränderte auch die menschliche Kommunikationsstruktur und somit das menschliche Denken. Die technischen Bilder fingen an, die Schrift als vorherrschenden Kommunikationscode zu verdrängen. So bemerkte schon W. Benjamin, dass mit der fotografischen Technologie "der Prozeß bildlicher Reproduktion so ungeheuer beschleunigt [wurde], daß er mit dem Sprechen standhalten konnte."2

Von der linearen zur oberflächlichen Denkweise

Die seit mehreren Jahrtausenden vorherrschende, auf Sprache und Schrift basierende, linear-geschichtliche Denkstruktur begann sich umzuprogrammieren in eine neue, "ein-bildende", "oberflächliche" Denkweise.

Die Ausdifferenzierungen der naturwissenschaftlichen Disziplinen und die durch sie immer neu gemachten Erkenntnisse und Welterklärungsmodelle hatten Welt und Wirklichkeit für den Menschen des ausgehenden 19. Jahrhunderts immer abstrakter und unbegreiflicher gemacht. Die Entdeckungen und Entwicklungen der Quantentheorie und Atomphysik hatten die bisherige Wirklichkeitsvorstellung und das Wirklichkeitsmodell seziert und in ein Punkteuniversum transferiert. Das Licht galt nicht mehr als göttliche Strahlkraft oder kontinuierliche Wellenbewegung, sondern wurde auf einmal in diskreten Lichtteilchen berechnet.

Die Idee des Individuums, des Unteilbaren, wurde aufgegeben, zu Gunsten einer Welt aus Teilchen. Welt und Wirklichkeit wurden immer weniger beschreibbar, dafür aber immer mehr berechenbar.3

Schon die Entwicklung der analogen fotografischen Technologie führte zu einer Bilderflut, der der Mensch des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts nicht mehr Herr wurde. Anstatt die Welt mit Begriffen zu beschreiben, wurde sie von nun an mit Hilfe der fotografischen Technologie expandiert, kartografiert und kalkuliert. Geografie verwandelte sich mit Hilfe von Photogrammetrie in Topografie. Die Kartierung der Welt und die Erkundung des Universums mittels Luftbild- und Satellitenaufnahmen - zweifellos Vorläufer des heutigen Werk- und Spielzeugs Google Earth - machten aus der vormals mit Hilfe von Objekten begreifbaren und mittels der Sprache beschreibbaren eine mittels Bildern kalkulierbare Welt.

Die durch die fotografische Technologie ausgelöste Bilderflut schwemmte Bilderberge4 an, die allein mit menschlicher Arbeitskraft nicht mehr auszuwerten und somit auch nicht verwertbar gewesen wären. So führte die Trivialisierung und Automatisierung der Bildproduktion mit Hilfe der fotografischen Technologie zwangsläufig auch zur Trivialisierung und Automation der Bildverarbeitung und -generierung.

In diesem Sinne sollen hier auch die Entwicklungen der fotografischen Technologie und ihre Bilder verstanden werden, nicht als "Pencil of Nature" oder als "indexikalisch" im Peirceschen Sinne, sondern als eine Technologie, welche die durch die Entwicklung der Naturwissenschaften immer abstrakter gewordene und in ein Punkte- und Teilchenuniversum zerfallene Welt und Wirklichkeit wieder zu "ein-ge-bildeten" und konkreten Oberflächen zusammenrafft. Hier wäre meines Erachtens auch der von so vielen beschworene Iconic oder Pictorial Turn zu suchen, der jedoch von vielen erst an dem Aufkommen und der Verbreitung der sogenannten "digitalen", synthetischen bzw. computergenerierten Bilder Ende des letzten Jahrhunderts festgemacht wird.

Entstofflichung der Wirklichkeit

Welt und Wirklichkeit wurden somit zur Oberfläche und aus Oberflächen berechnet. Diese Oberflächlichkeit, dieses Denken in Oberflächen hat einen grundlegenden Wertewandel und Wertverlust zur Folge: die Entstofflichung der Wirklichkeit, von manchen auch als Prozess der Immaterialisierung bezeichnet. Denn auch die heutige sogenannte Informationsgesellschaft, die - wie sich später zeigen wird - ihren Namen noch nicht verdient, ist tief verwurzelt in den Entwicklungen der fotografischen Technologien und ihrer Umformung der menschlichen Kommunikationsstrukturen seit dem 19. Jahrhundert.

Neben der Berechenbarkeit der oberflächlich gewordenen Welt mittels standardisierter und automatisierter bildgebender Aufnahme- und Auswertungsverfahren hatte die Entwicklung der fotografischen Technologien nämlich noch eine andere Auswirkung auf die Dinge, die Objekte sowie die objektive Wirklichkeit: Die Entwertung der Materie, des Materiellen und die Aufwertung der Form, der In-Formation. Die Ablösung und Speicherung der Form mittels der fotografischen Technologie sowie das massenhafte und günstige Verbreiten ihrer In-Formationen führte zu einer Entwertung des Materials und der materiellen Besitztümer.

Das Entstehen der Kulturindustrie im 20. Jahrhundert ist sicherlich eines ihrer Symptome ebenso wie der schon in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts einsetzende "Digitalisierungprozess" kultureller Güter, bei dem massenhaft Bücher auf Mikrofilm gezogen und danach vernichtet wurden.5

Die Vorstellung, der Welt und ihren kulturellen Gütern die Formen einfach abzuziehen und diese als Informationen mittels billiger, fast wertlos gewordener Materialien verbreiten zu können, führte schon damals zu einer Trivialisierung und Demokratisierung in der Informationsproduktion und im Informationsaustausch. Vorerst wurden die In-formationen noch auf Filmmaterial gespeichert und in Lichtbildanstalten, Vorgängern unserer heutigen Medienzentren, zum freien Zugang und zur öffentlichen Verwendung gelagert.

So stützte auch Vannevar Bush seinen berühmten Aufsatz "As we may think", in dem er seine Gedanken über die universelle Wissensmaschine Memex skizzierte, auf Weiterentwicklungen in den Gebieten der fotografischen Technologie. Dies jedoch nicht nur in Hinblick darauf, dass durch sie Informationen so sehr komprimiert werden könnten, dass "a library of a million volumes could be compressed into one end of a desk". Sondern gleichzeitig ersann er bereits Ansätze für einen intuitiven Umgang in der Mensch-Maschine-Interaktion ebenso wie eine Veränderung der Wissensorganisation, die sich von einer linear-hierarchischen zu einer assoziativ-netzartigen verwandeln müsse, einer Struktur, die es ermöglicht von einem Punkt zum nächsten zu springen.6

Eine oberflächliche, netzartige Organisation und Struktur ist dem bewussten Umgang mit technischen Bildern bereits inhärent. Während die lineare Schrift historische, kausale Welterklärungsmodelle evozierte, brachte das oberflächliche, vernetzte Denken immer mehr kalkulierbare, mehr oder weniger wahrscheinliche Welterklärungsmodelle hervor.

So wie das dialogische Kommunizieren, die Vernetzung und eine Feedbackfunktion dem Tastendrücken innewohnt, so schlummerte bereits das Interagieren mit den synthetischen Oberflächen in den technischen Bildern. Ebenso wie George Eastman mit seiner One-Button Kamera das Fotografieren trivialisiert hatte, sollte und musste auch die Computertechnologie für jeden benutzbar gemacht werden.7

Die Entwicklungen auf den Gebieten der GUI sowie grafischen Programmierumgebungen verschafften einer immer größer werdenden Anzahl von Menschen die Möglichkeit, mit der entwickelten Computertechnologie zu interagieren und mittels ihrer Hilfe sich zu informieren und zu kommunizieren. Und so sollten die physisch wahrnehmbaren Tasten bald selber in der Oberfläche des Touchpads verschwinden, ebenso wie GUI die Eingabe von Kommandozeilen mittels Icons zum größten Teil überflüssig werden ließ. Die Trivialisierung, die Vereinfachung der Mensch-Maschine-Interaktion mittels immer raffinierter entwickelter Benutzeroberflächen verschaffte immer mehr Menschen Zugang zur Technologie und ließ sie immer weitere Informationen produzieren, konsumieren und distribuieren.

Das Durchlässig-Werden des öffentlichen Raums durch die Massenmedien und modernen Transportmittel, der "Verfall und das Ende des öffentlichen Lebens" sowie die "Tyrannei der Intimität" wurden bereits in den 70er Jahren des vorherigen Jahrhunderts beklagt. Der Rückzug der "Couch Potatos", ihre Suche nach Zerstreuung in der Privatheit und ihre Verweigerung, am Gemeinwesen teilzunehmen, wurde unter dem Modewort "Cocooning" analysiert und kritisiert.

Wurden in früheren Zeiten die Informationen im privaten Raum produziert und prozessiert und im öffentlichen Raum publiziert und diskutiert, hatten die großen Massenmedien, die Stützpfeiler der Kulturindustrie, den Gang in den öffentlichen Raum überflüssig gemacht, die Trennung zwischen "Idiota" und "Zoon Politikon" löste sich auf im "anything goes" der Postmoderne. So wurde vielerorts über Zerfall der westlichen Kultur und ihres Wertesystems lamentiert und ihr Abrutschen in die Trivialität attestiert.

Utopie der zukünftigen telematischen Gesellschaft

Lyotard beschrieb in seinem berühmten Report von 1979 "La Condition postmoderne : rapport sur le savoir" für die kanadische Regierung in Quebec den Einfluss und die Auswirkungen der Technologien auf die Wissensproduktion der Naturwissenschaften und löste damit in den folgenden Jahren - man könnte schon fast sagen - einen Kulturkampf aus. Ein weiterer Bericht, diesmal für die französische Regierung verfasst, beschäftigte sich mit einem ähnlichen Thema: der Veränderung der menschlichen Gesellschaft und ihrer Kommunikationsstruktur durch die Verschmelzung von Computertechnologie und Telekommunikation. In ihrem Bericht "L'informatisation de la Societe" von 1978 konstatieren Simon Nora und Alain Minc, dass sich der Aufbau der Gesellschaft durch die neuen Möglichkeiten der Kommunikation radikal verändern werde. Anstatt hierarchisch organisiert und durch Klassen strukturiert werde die Gesellschaft der Zukunft horizontal und flächig arrangiert und durch spontan zusammengefundene Interessensgruppen realisiert. Unter dem Begriff der "Telematik", eines Neologismus aus Informatik und Telekommunikation, wurden von nun an die Veränderung durch diese Technologie imaginiert.8

Während sich die Entwürfe von Simon Nora und Allain Minc sowie von James Martin noch sehr an den technologischen Neuerungen orientieren und die zu erwartenden Konsequenzen nur vage skizzieren, entwarf Vilém Flusser in seinem Buch "Ins Universum der technischen Bilder", welches heute als eine der ersten Internetphilosophien gilt, eine philosophische Utopie der zukünftigen telematischen Gesellschaft.

Dieser Essay, den Flusser im Jahre 1985 nicht als eine Futurisierung des Fantastischen schrieb, sondern als eine Kritik der Gegenwart, erweist sich noch heute als erschreckend aktuell. In der zukünftigen Gesellschaft soll nicht mehr das Herstellen, Verarbeiten und Verteilen von Informationen an zentraler Stelle stehen, sondern die telematische Gesellschaft sollte eine Daseinsform sein, in der sich das existentielle Interesse auf den Informationsaustausch konzentriert.9

In der telematischen Gesellschaft stellt sich nicht mehr die Frage, ob die Gesellschaft für den Menschen da sei oder der Mensch für die Gesellschaft. Denn die Gesellschaft existiert nicht ohne den Menschen und der Mensch nicht ohne Gesellschaft, somit ist nicht der Mensch oder die Gesellschaft das Konkrete, sondern das Beziehungsfeld, das Netz der intersubjektiven Relationen. In ihnen sollte sich die telematische Gesellschaft realisieren und ihren Kampf gegen die Entropie antreten.

Die zukünftigen Praktiken der telematischen Gesellschaft, die Flusser in seinem Buch beschrieb, haben sich in Ansätzen heute bereits konkretisiert und werden unter Begriffen wie Social Media, Crowd Sourcing, Cloud Computing oder "Hacker-Rhizomen" diskutiert. Denn wenn erst der Mythos des Autors abgeschafft wird, wird angemaßte Autorität verschwinden und tatsächlich diszipliniertes theoriegestütztes Arbeiten möglich sein. Informationen werden im Austausch mit anderen im Dialog erzeugt.

Flusser warnte jedoch auch mit seiner bewusst als positive Utopie entworfenen dialogisch konzipierten, vernetzten Gesellschaft vor Tendenzen der Verbündelung, Vermassung, die auch unsere heutige "freie Informations- bzw. Wissensgesellschaft" bedrohen. Hierunter fasste er die Tendenz, dass einzelne Sender, im Sinne von beispielsweise Konzernen oder Regierungen, die Kommunikationsplattformen und Kanäle bestimmen und ein dialogisches Kommunizieren unmöglich machen.

Hervorgerufen wird dies durch eine Dialektik, die in den trivialen Benutzeroberflächen zu liegen scheint. Die technischen Entwicklungen mussten soweit vereinfacht und standardisiert werden, da zum einen jeder "DAU" sie bedienen können sollte und zum anderen die einzelnen Anwendungen und Plattformen untereinander kompatibel sein müssen. Die anfängliche Diversität der unterschiedlichen Plattformen und Formate entwickelte sich zu einer Monokultur, in der sich nur noch wenige Unternehmen den Markt für spezielle Plattformen und Anwendungen aufteilen.

Standardisierung führt auch schnell zur Monopolisierung und diese zur Verbündelung und zur Vermassung. Statt frei in den Austausch mit anderen zu treten und Informatives, Unwahrscheinliches zu produzieren, verhindern umfassende Personalisierung und geschlossene Systeme dialogisieren. Dem gläsernen Menschen scheinen wir heute näher, als dem mündigen. Viele scheinen neben automatisierbaren Praktiken auch ihre Urteilskraft an die Maschinen abzugeben.

Die Trivialisierung der Benutzeroberflächen und die damit einhergehenden automatisierten Verfahren in vielen unserer Lebensbereiche haben eine Sorglosigkeit und Verantwortungslosigkeit gegenüber den eigenen Daten, den persönlichen Informationen und unserem Umgang mit ihnen hervorgebracht. Bereitwillig geben wir für ein paar Punkte oder Gadgets Dinge von uns preis, die wir früher nicht unseren engsten Freunden erzählt hätten. Doch daraus gleich zu folgern, dass Privatheit an sich überflüssig geworden sei, wie es die "post -privacy-spackeria" prognostiziert, hat entscheidende Regeln der telematischen Gesellschaft nicht verstanden.

Die Ideologie des "idealen Diskurses", dass eine transparentere Gesellschaft, in der alles kommuniziert wird, auch zu einer besseren wird, führt direkt in die Vermassung, in die Verbündelung, in eine totalitäre Gesellschaft. Aber auch Datenschutz und Urheberrecht werden noch umformatiert, da das Individum nicht mehr kontempliert, sondern sich als Dividuum projiziert und partizipiert.

Das tertium datur muss hier gedacht werden. Informationen wollen und müssen geteilt werden, damit sich eine telematische Gesellschaft realisiert. Anstatt in den Programmen der Apparate zu funktionieren, müssen wir Freiheit und Würde des Menschen neu definieren. Nur weil die telematische Gesellschaft der Zukunft autorenlos, kollektiv produziert, heißt dies nicht, dass der einzelne sich im Kollektiv verliert.

Das Bildliche, die Oberfläche ist nicht mehr nur der Bastard einer Textkultur oder Parasit der Erkenntnis. Die Oberfläche, das Oberflächige ist zum Promotor für die Informationsvermittlung und Wissenserzeugung geworden. Sie ist zur Schnittstelle der Mensch-Maschine Interaktion geworden, in die wir nun mittels unserer Fingerspitzen eintauchen. So muss das Bildliche der Kunstgeschichte ebenso entzogen werden wie der Massenmedialität, um in einer neuen Weise unterscheidungsfähig, also kritikfähig beschrieben werden zu können.

Gesellschaftskritik ist nicht mehr nur Maschinenkritik, sondern muss als Kritik der Bilder und der intelligenten Strategien der Visualisierung neu gefasst werden. Man darf hier die anthropologische Dimension der Benutzeroberflächen und der Technik im allgemeinen nicht unterschätzen und so müssen sich die Programmierer ihrer gesellschaftlichen Verantwortung wieder bewusst werden und beginnen Informatiker zu sein.

Claudia Becker lehrt Medientheorie im Medienhaus der UdK Berlin und ist Forschungsangestellte am Vilém Flusser Archiv.

Den Essay von Claudia Becker veröffentlicht Telepolis als Hommage an Vilém Flusser, der bei einem tragischen Autounfall am 27.11. 1991 ums Leben kam.