Gorleben: Atommüll wird durchgeboxt

Nach massiven Protesten hat der Castor-Transport am Montagmorgen fünf Tage nach Abfahrt in Frankreich Dannenberg erreicht

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Der diesjährige Atommülltransport ins niedersächsische Wendland nähert sich seinem Ende, und auch in diesem Jahr konnte er nur mit einem gewaltigen Polizeiaufgebot durchgesetzt werden. Nur schrittweise ging es am Wochenende auf der Bahn zwischen Lüneburg und der Verladestation in Dannenberg an der Elbe voran. Immer wieder mussten Sitzblockaden geräumt, Teilstrecken repariert und Angekettete entfernt werden.

Wer geglaubt hat, dass der fast vierzigjährige Atomkonflikt nach dem Merkelschen Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg befriedet sei, der muss sich getäuscht sehen. 25.000 Menschen beteiligten sich am Samstag an der Kundgebung gegen den Transport und an diversen Aktionen entlang der Strecke. Unter anderem waren 415 Traktoren im Protestzug. Zahlreiche Traktoren waren übers Wochenende auch an jenen merkwürdigen "Maschinenverwehungen" beteiligt, die sich auf Landstraßen vorzugsweise an wichtigen Punkten bildeten und die Bewegungsfreiheit der Polizeieinheiten nicht wenig einschränkten. Auch die bäuerliche Bevölkerung, deren vermeintliche Treue zur CDU Ende der 1970er Jahre einst den Ausschlag für die Standortwahl gab, will den Strahlenmüll nicht vor der Haustür haben.

Luca Köppen, Pressesprecher der Schotter-Kampagne, brachte die Motive dieses hartnäckigen Widerstands auf den Punkt: "Die Menschen haben verstanden, dass der Ausstieg eine Chimäre ist. Es wird in Deutschland weiter Atommüll produziert: In den AKW, die weiterlaufen und in Anlagen wie Gronau oder Lingen. Es wird zudem weiter massiv in die Förderung der Atomtechnologie investiert. Zur Endlagersuche sagen zwei Zahlen mehr als tausend Worte: Es werden im nächsten Jahr nur drei Millionen Euro in die Suche eines neuen Standortes investiert, 73 Millionen gehen jedoch in den Schwarzbau Gorleben."

Das scheint sich ziemlich weit rum gesprochen zu haben, denn in diesem Jahr waren die Proteste so groß wie im Vorjahr und die waren seinerzeit die seit langem stärksten gewesen. Und wie im Vorjahr waren die Aktionen nicht aufs Wendland, Niedersachsens nordöstlichen Zipfel an den Grenzen zu Mecklenburg und Brandenburg, beschränkt. Selbst in Frankreich wurde in diesem Jahr demonstriert, und zwar mehr als je zuvor in der Geschichte der Castor-Transporte nach Gorleben.

Auch diesseits der Grenze gab es entlang der Transportstrecke diverse Demonstrationen, Kundgebungen und Mahnwachen, und zwar unter anderem in Speyer, Buchholz (Nordheide), Lüneburg, Göttingen, Eschede, Darmstadt und Grube Messel bei Darmstadt. Hier und da kam es dabei auch zur kurzzeitigen Besetzung der Gleise. Die Teilnehmerzahlen reichten von einigen Dutzend über wenige Hundert bis zu 1.200 in Lüneburg

In der Nacht von Samstag auf Sonntag entwickelte sich bei Harlingen in der Nähe des Elbstädtchens Hitzacker eine Sitzblockade auf den Schienen, die auf rund 4.000 Teilnehmer anschwoll, wie es im Castorticker hieß. Auch acht japanische Atomkraftgegner, die tagsüber auf der Großkundgebung Dannenberg gesprochen hatten, sollen sich beteiligt haben. Anders als am Sonntag berichtet wurde diese Blockade noch in der Nacht aufgelöst.

Über Tausend der Teilnehmer wurden aber anschließend unter freiem Himmel festgesetzt. Die Kampagne WiderSetzen weist auf die Rechtswidrigkeit dieses Vorgehens hin. Die Polizei habe in den zwölf Stunden von 3:30 Uhr bis 15:30 Uhr vor der Freilassung nur bei einem Bruchteil der zunächst 1.300 Festgehaltenen überhaupt versucht, einen richterlichen Beschluss über die Zulässigkeit der Ingewahrsamnahme zu erwirken. Das Widerspreche dem Grundsatz, wonach ein Freiheitsentzug unverzüglich von einem Richter bestätigt werden muss.

"Die meisten Fälle, welche die Polizei überhaupt dem Amtsgericht Dannenberg vorlegte", so WiderSetzen-Sprecher Hauke Nissen, "reichte sie dort nach Auskunft des Gerichts erst am Nachmittag ein, also über zehn Stunden nach Beginn der Ingewahrsamnahme. Die Polizei lügt, wenn sie behauptet, sie habe die GleisbesetzerInnen 'nach und nach' einem Richter vorgeführt." Die richterliche Überprüfung sei unterlassen worden, um die Atomkraftgegner "widerrechtlich stundenlang in der Kälte festzuhalten." Nissen: "Atomkraft verletzt unsere Grundrechte - das hat der Harlinger Kessel wieder einmal eindrücklich bewiesen. Gegen den entschlossenen Widerstand Tausender kann der Castor nur durchgeboxt werden, wenn Grundrechte massiv verletzt und außer Kraft gesetzt werden."

Waren die Demonstranten dieses Mal besonders aggressiv?

Bereits am Freitag hatte die Polizei mit Berichten von zwei durch Demonstranten in Brand gesteckte Einsatzfahrzeugen Stimmung gemacht. Die Bürgerinitiative (BI) Lüchow-Dannenberg zweifelt diese Meldung allerdings in einer Pressemitteilung an. Eigene Recherchen hätten ergeben, dass es sich um bengalisches Feuer gehandelt habe. Pressefotos hier, hier und hier scheinen diese Version zu bestätigen.

Auch die Bilder auf der Internetseite des NDR von den Auseinandersetzungen im Dörfchen Metzingen am Donnerstag passen nicht so recht zu den offensichtlich von der Polizei übernommenen Version, die Demonstranten seien besonders aggressiv gewesen und hätten die Beamten mit Steinen angegriffen. Auf den Bildern ist viel Rauch um den vermutlich gleichen Wagen herum sowie Feuer auf dem Boden zu sehen, das an den Reifen, aber genauso gut einen Meter davor sein könnte. Ansonsten zeigen die Aufnahmen verschiedene Szenen, in denen massiv ausgerüstete Beamte auf unbewaffnete und friedliche Demonstranten einschlagen und ihnen Pfefferspray in die Gesichter sprühen.

Und auch dieses Bild des NDR sieht weniger nach aggressiven Demonstranten aus, als nach mehreren Polizisten, die ziemlich grundlos nach einer davonlaufenden einzelnen Person schlagen, wobei ein Polizeibeamter mit seinem Tonfa offenbar nach dem Schienbein zielt. Ein Treffer wäre mit Sicherheit äußerst schmerzhaft.

Der NDR berichtet auf seiner Seite des Weiteren von mehreren Angriffen von Polizisten auf Journalisten. Einige seien gezwungen worden, Bilder zu löschen. Als "Aber" schiebt der öffentlichen Sender nach, dass es andernorts auch Vermummte gegeben hat, die mit Zwillen und Feuertechnik auf Polizisten schossen, doch wieso das den Angriff von Beamten auf friedliche Demonstranten relativieren soll, bleibt das Geheimnis des Autors.

Auch die BI Lüchow-Dannenberg, die schon seit über 30 Jahren Proteste gegen Endlager und andere Atomanlagen im Landkreis organisiert, spricht von Polizeigewalt und zahlreichen Rechtsbrüchen. In Göttingen sei eine Journalistin von Graswurzel-TV so schwer von einem Polizeihund gebissen worden, dass sie von einem Arzt behandelt werden musste.

Im Wendland selbst habe es ebenfalls zahlreiche Verletzte Demonstranten gegeben. In der Nacht von Freitag auf Samstag habe die Polizei in der Ortschaft Metzingen auf eine friedliche Blockade der Landstraße mit Wasserwerfer- und Schlagstockeinsatz reagiert. Ein Landwirt sei dabei auf seinem eigenen Grundstück ohne Grund von den Beamten mit Pfefferspray angegriffen worden. Einem CASTOR-Gegner seien bei diesem Einsatz von der Polizei Vorderzähne ausgeschlagen worden, und die Sanitäterinnen haben zahlreiche Verletzte behandeln müssen. Von den gefährlichen Reitereinsätzen hatte Telepolis bereits am Sonntag berichtet.

Des Weiteren schreibt die BI davon, dass auch Sanitäter, Ärzte und Anwälte behindert und teilweise gar angegriffen und bedrängt wurden. Einige hätten Platzverweise erhalten und Sanitätsfahrzeuge seien angehalten und durchsucht worden. "Das schikanöse Vorgehen der Polizisten vor Ort ist Teil einer erkennbaren Eskalationsstrategie der Polizeiführung, meint Rechtsanwalt Felix Isensee vom Legal Team. "Grundlegendste rechtsstaatliche Standards werden mit Füßen getreten und Verstöße gegen das Übermaßverbot müssen beklagt werden."