Das Twitter-Debakel von Bielefeld

Kritische Anmerkungen zum Mikrobloggen auf dem educamp 2011

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Twitter ist eine wunderbare Sache. Wenn man es sich in der persönlichen Echokammer behaglich machen möchte, muss man lediglich die Menschen (und Maschinen), denen man "folgt", sorgsam auswählen und bekommt prompt und kontinuierlich Informations-Sushi in Form nützlicher Link- und Lesetipps auf die Timeline serviert, kann sich kommod per Hashtag an die Fersen diverser Trends heften, Follower-Netzwerke pflegen, in Ägypten eine Revolution befeuern, live dabei sein, wie #ows-Anhänger aus dem Zuccotti-Park geprügelt werden, in Erlangen einen Flashmob organisieren oder per #followerpower ansonsten aporetischen Situationen entkommen.

Doch natürlich ist Twitter - wie jedes Medium - in der Hand gedankenloser User janusköpfig: So ließ sich ausgerechnet auf dem educamp 2011 erahnen, welche Folgen unreflektiert-technikverliebtes Dauertwittern haben kann.

Twitter als kollaborative Metaebene

Das Bielefelder educamp war ein gut organisiertes Real-Life-Stelldichein der "modernsten und innovativsten Pädagogengruppe" Deutschlands, sprich: der netzaffinen Twitter-und-Blogger-Lehrer. Und wenn sich die digitale Avantgarde zum Barcampen trifft, gehören natürlich ein (Un-)Konferenz-Hashtag (hier: #ecbi11) und eine hippe Twitterwall zur standesgemäßen Grundausstattung.

Dass sich Mikroblogging, Hashtag und Twitterwall prinzipiell sinnvoll nutzen lassen, um die analoge f2f-Gesprächskultur einer Tagung um bedeutungsvolle Metaebenen zu bereichern, hat Steven Johnson - wohl als einer der ersten - 2009 im Time Magazin beschrieben:

At the outset of the conference, our hosts announced that anyone who wanted to post live commentary about the event via Twitter should include the word #hackedu in his 140 characters. In the room, a large display screen showed a running feed of tweets. Then we all started talking, and as we did, a shadow conversation unfolded on the screen: summaries of someone's argument, the occasional joke, suggested links for further reading. At one point, a brief argument flared up between two participants in the room - a tense back-and-forth that transpired silently on the screen as the rest of us conversed in friendly tones.

Johnson macht weiterhin deutlich, dass die Tweets zunächst ausschließlich von den im Raum versammelten Teilnehmern stammten, dass sich die Kunde von einer interessanten #hackedu-Diskussion jedoch rasch in der Twittersphäre verbreitete, so dass nach kurzer Zeit auch die entsprechend "verhashtagten" Nachrichten Außenstehender auf der Twitterwall erschienen und in die laufenden f2f-Gespräche einbezogen werden konnten. Johnson zieht vor diesem Hintergrund ein überaus positives Fazit:

Injecting Twitter into that conversation fundamentally changed the rules of engagement. It added a second layer of discussion and brought a wider audience into what would have been a private exchange. And it gave the event an afterlife on the Web.

Kein Zweifel: Das #hackedu-Arrangement ist ein überzeugendes Beispiel dafür, wie man Twitter im Umfeld einer Tagung sinnvoll und medienkompetent nutzen kann. Auf dem #ecbi11 war hingegen - zunächst - alles anders.

Mikrobloggende Heuschrecken

Denn bevor die ungeduldigen Barcamper in die ersehnte Freiheit ihrer unstrukturierten Sessions aufbrechen durften, mussten sie zunächst im Rahmen eines Schulforums einem klassischen Eröffnungsvortrag lauschen. Geladen war Professor Klaus Jürgen Tillmann, der sich u.a. als wissenschaftlicher Leiter der Bielefelder Laborschule einen Namen gemacht hat und der zu den renommiertesten Erziehungswissenschaftlern Deutschlands zählt.

Als Tillmann schließlich ans Rednerpult trat, sah er sich einer durchaus speziellen Klientel gegenüber: Von der Zuhörerschaft, die man im Rahmen eines Plenarvortrags gewöhnlich erwartet, unterschied sie sich vor allem durch die schiere Anzahl der ständig in Betrieb befindlichen Smartphones, Tablets und Laptops: Schätzungsweise ein Drittel der knapp 200 Pädagogen war nicht nur leibhaftig in Bielefeld, sondern gleichzeitig auch in mindestens einem sozialen Netzwerk virtuell präsent. Beständiges Tippen zeugte von erhöhter Online-Aktivität und ein naiver Beobachter mag auf ein eindeutiges Zeichen gewartet haben, das den digital Vernetzten hätte bedeuten sollen, ihre Geräte auszuschalten, auf dass man sich auf den anstehenden Vortrag einlassen könne. Schließlich verstauen selbst die (meisten) Jugendlichen im Kino ihre Smartphones in der Hosentasche, wenn der Film beginnt.

Doch wer so denkt, steckt in den Augen der digitalen Avantgarde gedanklich noch im vergangenen Jahrtausend: Einst mag es unhöflich gewesen sein, während eines Vortrags mit dem Handy herumzuspielen. Doch der Fauxpas von gestern ist im vernetzten Heute längst zu einem hippen Feature geworden, das kaum noch jemand ernsthaft und situationsbezogen hinterfragt. Wer mikrobloggende Heuschrecken zu einer Tagung einlädt, muss damit rechnen, dass sie immer und überall twittern und erst weiterziehen, wenn auch der letzte komplexe Sinnzusammenhang in höchstens 140 Zeichen zerlegt, subjektiv zerkaut und auf einem EtherPad spiegelstrichförmig wieder ausgeschieden worden ist. Schließlich gilt es, an die vernetzten Schwarm-Mitglieder zu denken, die sich möglicherweise gerade in der Straßenbahn befinden und dennoch live verfolgen wollen, was auf einer räumlich entfernten Konferenz geschieht, oder denen gar der Sinn nach virtueller Partizipation steht. Die simple These, dass Medienkompetenz auch bedeuten kann, sich reflektiert gegen die Nutzung eines technisch zur Verfügung stehenden Mediums zu entscheiden, scheint im Hive Mind des Twitter-Schwarms keine Bedeutung mehr zu besitzen.

Das #hackedu-Beispiel hat gezeigt, dass zwei minimale Bedingungen erfüllt sein müssen, wenn Twitter und Twitterwall während einer Konferenz wirklich Sinn machen sollen. So ist erstens wünschenswert, dass möglichst alle Tagungsteilnehmer, aber mindestens diejenigen, über die getwittert wird, darüber informiert sind, was um sie herum geschieht. Das gilt vor allem dann, wenn ungefragt Fotos oder Videos gemacht und sofort online gestellt werden. Das ist - auch wenn das ein weiterer blinder Fleck in der durch Post-Privacy-Theoreme getrübten Twitter-Moral sein mag - schlicht ein Gebot der Fairness. Und zweitens sollte die Twitterwall natürlich nicht als bloß dekorative Projektionsfläche für Hashtags dienen, sondern als kollaborative Inspirationsquelle genutzt werden können. Beide Minimalbedingungen waren in Bielefeld nicht erfüllt.

Phatisches Grundrauschen eines ubiquitären Mediums

Klaus Jürgen Tillmann war - das hat eine konkrete Nachfrage im Anschluss an den Vortrag gezeigt - nicht ausreichend über Twitter informiert, so dass er keine Möglichkeit hatte, aktiv auf die Twitterwall zu reagieren und Anregungen aus dem Publikum aufzunehmen. Das Konzept seines Referats war auch gar nicht auf diese innovativen Interaktionsmöglichkeiten angelegt und während seines Vortrags hatte er die fortwährend eingeblendeten Kommentare über ihn und seine Thesen nicht im Blick. Für den vortragenden Protagonisten blieb die Twitterwall daher vollkommen bedeutungslos, für die Onliner war sie komplett redundant (man hatte sie ja auf dem eigenen Screen) und für die Offliner war sie bestenfalls eine Art Fernsehersatz, der keinerlei produktive Partizipationsoptionen eröffnete. Doch da die Mikroblogger vor allem der unbedingte Wille zur und die kindliche Lust an der Twitterei einte, wurde nicht einmal in Erwägung gezogen, wenigstens während des Vortrags die eigentlich funktionslose Twitterwall zu deaktivieren. Medienkompetenz sieht anders aus.

Mit einem fröhlichen "Gut, dass es Twitter gibt. #ecbi11 Jetzt Vortrag von Tillmann" begannen die gespannten Onliner dann, sich langsam auf die Keynote einzustimmen, nicht ohne diejenigen virtuell im Auge zu behalten, die sich noch auf dem Weg nach Bielefeld befanden. Denn die aus der ganzen Republik anreisenden Twitterer dokumentierten natürlich brav und minutiös jede Phase ihrer Annäherung an den Tagungsort. Vom Start ("Verlasse Hamburg [...]. Auf dem Weg in die Stadt die es nicht gibt.") über entscheidende Momente der Bahnfahrt ("aha, der ice wartet in hannover auf mich. guddi."), die letzten Meter zum Oberstufenkolleg ("[...] bin schon auf der rolltreppe"), bis zur Ankunft an der Bielefelder Uni ("hier isses ja immer noch so hässlich!") wusste man stets, welcher Twitterer gerade wo herumtollte- und tippte.

Nicht-Twitterer mögen angesichts solcher kindisch, albern und überflüssig wirkenden Nachrichten den Kopf schütteln. Doch diese Tweets sind letztlich nichts weiter als typische Ausprägungen des - häufig bloß phatischen - Grundrauschens eines ubiquitär verfügbaren Mediums, d.h. Inhalte, die der medialen Form "Twitter" durchaus angemessen sind. An dieser Stelle sollen daher keinesfalls die banalen Tweets an sich kritisiert werden, sondern vielmehr ihre unreflektierte Kontextualisierung: Denn als Parallel-Projektion auf der Twitterwall bewirkten sie nur, dass selbst die Aufmerksamkeit der Offliner von den zeitgleich sichtbaren Power-Point-Folien Klaus Jürgen-Tillmanns abgezogen wurde. Und mit "Aufmerksamkeit" ist das Stichwort genannt, das zum zweiten Kritikpunkt führt.

Aufmerksamkeit in den Zeiten der Twitteria

Mikroblogger behaupten gerne von sich, dass sie gleichzeitig einem Vortrag konzentriert folgen und dabei fleißig twittern können. Das sei, so lautet eine häufig vorgebrachte Erklärung, wie das Mitschreiben während einer Vorlesung. Das klingt zunächst plausibel, ist aber bei näherem Hinsehen schlicht falsch.

Denn die Schrift ist unter Twitter-Bedingungen nicht mehr das monologische Gespräch mit einem weißen Blatt Papier, das den Schreibenden isoliert (sensu Wygotski), sondern vielmehr ein dialogisches Medium, das asynchrone und quasi-synchrone Kommunikation erlaubt und das stets in dynamische Interaktionsprozesse eingebunden ist. Die klassische Mitschrift "spielt" man allein, die impliziten Twitter-Regeln verlangen jedoch, dass jeder Spieler seine Aufmerksamkeit auch in hohem Maße auf die anderen Teilnehmer zu richten hat. So zeigt bereits eine flüchtige Analyse der #ecbi11-Tweets sehr deutlich, wie breit die Aufmerksamkeit der sozial Schreibenden und Lesenden während des Vortrags tatsächlich gestreut war. Innerhalb kürzester Zeit gelang es beispielsweise einem Heidelberger User, dessen Twitter-Verhalten keineswegs untypisch ist,

  1. ein Zitat von Tillmann halbwegs wörtlich wiederzugeben ("Eine pädagogische Bewegung braucht andere Begriffe als die akademische Erziehungswissenschaft. #ecbi11 #tillmann"),
  2. zu erfragen, wo sich eine verspätet eintreffende Bekannte gerade befindet ("- - > Auf welcher Rolltreppe? #ecbi11"),
  3. eine Kollegin zu erheitern ("Da! Da! … Da war ein Eichhörnchen! #ecbi11"),
  4. die Reaktion eines anderen Twitterers auf diese Nachricht zu retweeten ("Ein transsexuelles?"),
  5. inhaltliche Kritik am Vortrag zu üben ("Was mir bei dem Vortrag bislang fehlt: Beispiele #ecbi11")
  6. den Vorschlag eines Journalisten weiterzuleiten, der sich zeitgleich auf einer anderen Konferenz befand und von dort ebenfalls twitterte ("zwei konferenzen via twitter verknüpfen, kollab(or)ieren lassen: #ecbi11 und #exfo11 [...]")

Angesichts dieser thematischen Bandbreite verwundert es nicht, dass ein Dilemma sichtbar wird: Denn aus dem vielstimmigen Gewirr der #ecbi11-Tweets geht zwar (s.o.) einiges hervor - die Thesen, die Klaus Jürgen Tillmann vertreten hat, findet man jedoch nur in Ansätzen. Und man erkennt diese Ansätze auch nur dann, wenn man vor Ort war und konzentriert zugehört hat. Doch wenn man vor Ort konzentriert zugehört hat, braucht man keine Tweets, um zu wissen, welche Thesen Klaus Jürgen Tillmann vertreten hat. Das Unterfangen, sich per Twitter über die Inhalte eines zeitgleich stattfindenden komplexen Vortrags produktiv auszutauschen, ist augenscheinlich ähnlich sinnvoll wie der Versuch, mit Rauchzeichen über Kants "Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" zu philosophieren.

The Twitteria strikes back

Die Situation in Bielefeld grenzte an absurdes Theater: Da stand ein Redner alter Schule und sprach über neue Lernkulturen, während die vernetzten Zuhörer schweigend in ein Gespräch vertieft waren, von dem der Vortragende ausgeschlossen war. Und da die Onliner ihre Aufmerksamkeitsressourcen nur häppchenweise auf den Inhalt des Vortrags verteilen konnten, konzentrierten sie sich von Anfang an auf andere Aspekte.

In der elitären Echokammer der Twittersphäre herrschte unter den Online-Oligarchen nämlich Einigkeit darüber, dass man den "digital Obdachlosen" - wie sie in einem Tweet genannt wurden - und ihrer obsoleten Lernkultur der Totholz-Gutenberg-Galaxis mindestens um einige Petabytes voraus sei. Und mit Klaus Jürgen Tillmann stand nun offensichtlich ein Vertreter dieses ungeliebten Paradigmas direkt vor ihnen.

Via Twitter wurde er daher schon im Vorfeld der Tagung mit Skepsis bedacht: "Klaus Jürgen Tillmann für die keynote im schulforum? hm. diese graue eminenz liest vorträge immer ab. ob das so anturnt? … #ecbi11", fragte beispielsweise eine Hamburger Lehrerbildnerin, die offensichtlich nur durch freie Vorträge intellektuell erregbar ist und für die - gerade in Bielefeld eingetroffen - schon die defizitäre technische Infrastruktur im Oberstufen Kolleg (OSK) Anlass zur Sorge, aber auch zu (groß)mütterlich-generöser Aufmunterung gab: "#ecbi11 hier hats gar keine steckdosen zum geräteaufladen. vorschlag für weiterentw OSK: 1:1 ins digit zeitalter! #könnt ihr #schaffen". Tiefe Skepsis im Hinblick auf die Form des zu erwartenden Vortrags und große Sorge um die Akkulaufzeit der Smartphones prägten daher die Atmosphäre, als Klaus Jürgen Tillmann das Wort ergriff.

Zunächst schien er sich jedoch nicht eindeutig dem analogen Feindbild zuordnen zu lassen. Zwar las er seinen Vortrag wie befürchtet ab, jedoch: Er benutzte ein Präsentationsprogramm. Prompt flimmerte folgende Nachricht über die Twitterwall: "#ecbi11 typisch gutwilliges Übergangsgesellschafts-verhalten: vortrag vorlesen - aber IMMERHIN mit folien! bunt!" Und damit hatte man das verdächtige Gran digitaler Affinität, das man in Tillmanns Vortrag zu entdecken glaubte, rasch zu einem typischen Übergangsphänomen erklärt und konnte weiterhin milde über die bunten Folien lächeln.

Doch die Twitterer hatten die Rechnung ohne Klaus Jürgen Tillmann gemacht. Gab er sich zunächst als Mann des Übergangs, so zeigte er wenige Minuten später, dass er doch aus der Gutenberg-Galaxie angereist war. Denn er besaß die analoge Chuzpe, ein ausgedrucktes (!) Handout (!) an das twitternde Publikum zu verteilen, dessen ideologischer Speichelfluss fortan nicht mehr zu stoppen war. Eine junge Dame, die sich selbst als "Bildungsbloggerin" bezeichnet, brachte es mit entwaffnender Naivität auf den Punkt:

#ecbi11 es gibt ein ausgedrucktes handout #oldschool vs #neu #offen #digital

Welchen Inhalts das Handout war und ob es nicht vielleicht didaktisch sogar sinnvoll war, es zu verteilen, gehört offensichtlich nicht zu den Kriterien, die man als Mitglied der digital-innovativen Vorhut noch zu prüfen hat: Die schiere Existenz eines Stapels Papier genügt als Indiz für die Zugehörigkeit zum falschen, alten, geschlossenen, nicht vernetzten und daher zu überwindenden Welt- und Menschenbild.

Derart provoziert ließ die aufgewühlte Twitteria sofort die digitalen Muskeln spielen: Noch bevor das von Tillmann verteilte Handout die letzte Reihe des Publikums erreicht hatte, war es bereits per iPhone fotografiert, in ein PDF-Dokument verwandelt und via Dropbox online verfügbar gemacht worden ("Handout gibt's hier: db.tt/vY4riXCA :-) #ecbi11").

Und erst nachdem Klaus Jürgen Tillmann symbolisch digitalisiert worden war, konnten sich die Twitterer wieder beruhigt zurücklehnen. Schließlich gab es Wichtigeres, als dem Vortrag zuzuhören. Eine Lehrerin aus dem Publikum, die schon mal unter dem Motto "Authentizität statt Fassade" öffentlich bei Twitter über Sex auf der Zugtoilette nachdenkt, gewährte dann - dankenswerterweise auch den digital Obdachlosen via Twitterwall - einen authentischen Blick hinter die dünne Fassade der Multitasking-Mikroblogger. Sie schrieb:

Ich habe während des Vortrags: getwittert, SMS gelesen, Mails gelesen, einen Keks gegessen, getrunken, 1 Zug bei Carcassonne gem. #ecbi11

Ein in vielerlei Hinsicht erhellendes Fazit.

Filtersouveränität und Twitterverbot

Selbstverständlich werden die hier - zum Teil bewusst provokativ - vorgetragenen Thesen in der Twitter-Echokammer keine Zustimmung finden. Denn Kritik von außen wird in der Regel fast schon reflexartig mit dem Hinweis auf die Filtersouveränität abgeblockt, deren Twitter-Variante folgendermaßen lautet: "Was regst du dich über meine Tweets auf, du musst mir doch nicht folgen!".

Die These von der Filtersouveränität wird inzwischen als prophylaktische Allzweck-Apologie für nahezu alle Verhaltensweisen im Web 2.0 missbraucht. Unter den paradiesischen Bedingungen des Pull-Mediums wird der Produzent - bis auf wenige Ausnahmen - von der Verantwortung für die Inhalte entbunden und fortan ist der Rezipient der Dumme, wenn er auf Facebook ein peinliches Partybild entdeckt oder bei Twitter über einen tumben Tweet stolpert. Wer sich darüber aufregt, hat das Medium nicht verstanden und sollte schleunigst seine Filter neu justieren. Neu ist diese Argumentation nicht. Sie steht intellektuell ungefähr auf einer Stufe mit dem aus der frühen Schulzeit bekannten Satz "Wer das hier liest, ist doof!" und kann leicht ad absurdum geführt werden.

Doch das Bielefelder Twitter-Debakel hat mit Filtersouveränität nichts zu tun. Es geht vielmehr um die Frage, wie es die Twitteria mit ihrem Lieblingsspielzeug hält und ob sich die Einsicht durchsetzt, dass man ein Medium nicht nur deshalb immer und überall nutzen muss, weil das technisch möglich ist. Sollte das nicht geschehen, werden ausgerechnet diejenigen, die ansonsten mit überzeugenden Argumenten und guten Konzepten für den Einsatz der social media (z.B. in der Schule) eintreten, durch unreflektierten Gebrauch eben dieser social media dazu beitragen, dass in Bälde Twitterverbote (z.B. während eines Vortrags) genauso vehement gefordert werden wie einst Rauch- oder Handyverbote. Man sollte sich vielleicht schon mal das Copyright an einem entsprechenden "Twittern verboten"-Logo sichern.