Euro-Kollaps: Ich war dabei

Das begonnene Endspiel und der Geschmack des Historischen

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"Ich war dabei", so lautete das Bekenntnisbuch von Franz Schönhuber, Mitglied der Waffen-SS und später führender Redakteur beim Bayerischen Rundfunk. Als Fallschirmjäger brachte er damals den rechten deutschen Geist nach Griechenland. Im Vorwort des Buches wünscht er den Lesern: "... mögen Ihnen große Zeiten erspart bleiben!"

Ist aber dumm gelaufen. Ich bin jetzt auch dabei, wir sind wieder dabei. Noch geht es nicht um Fallschirme, sondern um Rettungsschirme und die Jäger sind die "Finanz-Märkte", welche die Staaten als Beute vor sich hertreiben. Doch glaubt man den Kommentatoren, stehen wir kurz vor der großen Katastrophe in Europa. Dabei geht der Maya-Kalender doch erst Weihnachten kommenden Jahres zu Ende.

Wie fühlt es sich eigentlich an, das "Historische"? Es ist seltsam. Der Fall der Mauer, zum Beispiel, fühlte sich im oberbayerischen München gar nicht an. Die Erinnerung weist zwar Bilder von jubelnden Menschen auf der Leopoldstraße aus, aber das war wegen der gewonnenen Fußballweltmeisterschaft. Die DDR war damals von München-Schwabing oder München-Haidhausen so weit weg wie Dösing bei Lalling (Niederbayern) oder die Andamanen-Inseln (Indien). Gut, es gab jene Menschen, die die 100 Mark Begrüßungsgeld kassierten und in seltsamen Autos durch die Gegend fuhren. Das war aber exotisch, und nicht nah.

Es ist anzunehmen, dass historische Ereignisse von "uns", den "kleinen Leuten", ganz anders wahrgenommen werden, als das Schulbücher erzählen. Existenzphilosophisch "wohnen" wir in diesen Ereignissen, indem wir ihnen beiwohnen, und das "wohnen" meint den Geschmack, den Geruch, das Herzklopfen, das Betasten von Eisen und das Gefühl der Kleidung auf der Haut, während wir den Volksempfänger oder die Tagesschau hören.

Und wie eigenartig, die Generalstreiks in Griechenland oder Portugal, wie weit scheinen sie heute von Deutschland entfernt? Von einem Deutschland, das in Europa die Führung übernommen hat. Und es ist eigenartig, dass Ereignisse wie die faktische Abschaffung der Demokratie in einigen europäischen Ländern für uns (noch) seltsam "unbewohnt" sind, sich die Demonstrierenden in Portugal vermischen mit den Bildern derer vom Tahirplatz und mit denen von Protestierenden vor der New Yorker Börse - und wir gehen trotzdem jetzt Glühwein trinken.

Wo doch die Kommentatoren....! Marc Beise etwa, einer der großen Vorsänger der neoliberalen Ideologie auf den Wirtschaftsseiten der "Süddeutschen", gibt der Politik zur Rettung des Euro-Systems "nur noch einen Schuss". Denn: "Das Endspiel hat begonnen. Zu viel Dramatik? Wohl nicht."(SZ 26./27. November 2011 S. 25) Er ist sich einig mit der OECD: Politiker rund um den Globus müssten sich auf das Schlimmste vorbereiten, heißt es in einem am Montag veröffentlichten Wirtschaftsausblick. Sollte Europa die Lage nicht unter Kontrolle bringen, könnte sich die Störung der Wirtschaft massiv ausweiten und "in absolut katastrophalen Resultaten enden", meldete der Spiegel.

Die griechische Publizistin und Ökonomin Nadia Valavani schreibt:

Hier und heute findet in Griechenland ein gigantisches gesellschaftliches Experiment statt. Wir sind zu Versuchstieren gemacht worden, um beispiellose Maßnahmen auszuprobieren und Schlussfolgerungen zu ziehen, bevor die gleichen Maßnahmen den anderen europäischen Ländern auferlegt werden. In nur 18 Monaten ist das 20. Jahrhundert im Bereich der Arbeitsrechte ganz abgeschafft worden.

In Portugal solidarisieren sich Teile der Streitkräfte mit den Protesten gegen den "Marsch in die Verelendung" (Kraftvoller Generalstreik in Portugal). Wolfgang Lieb von den "Nachdenkseiten" kommentiert den Wahlausgang mit dem Erdrutschsieg der Konservativen in Spanien so:

Alle neuen Regierungen haben nur die Wahl die von EU-Kommission, der EZB und dem IWF vorgegebene neoliberale Agenda zu exekutieren: Drastisches Sparen, Schuldenbremse, Lohnsenkungen, Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, Einschnitte ins soziale Netz, Rente mit 67, Privatisierungen - den ganzen Kanon der herrschenden Lehre eben.

In Ungarn, dessen Währung Forint derzeit unter dem Beschuss der "Finanzmärkte" steht, wurden erst die Sozialdemokraten wegen ihres neoliberalen Kurses abgewählt und so errangen die derzeitigen Rechtsradikalpopulisten die absolute Mehrheit. Die bröckelt jetzt wieder, doch vor der Tür der Wahlkabine stehen eigentlich nur noch die Neonazis.

Es scheint, als hätten sich die Betreiber der "Finanzmärkte" zu einem globalen Karl-Marx-Fan-Club zusammengeschlossen und betreiben nun als Hauptgeschäft die konsequente Verwirklichung seiner Entwicklungsgesetze des Kapitals: (Europaweite) Verelendung der Massen (durch Sparprogramme), die Demokratie beziehungsweise der Staat als Handlanger des Kapitals, die grundsätzliche Spaltung der Gesellschaft in zwei Klassen - Arm und Reich. Damit wäre Europa dem Wirtschaftsriesen China wieder mal ein paar historische Nasenlängen voraus, das dortige "kommunistische" Regime bastelt ja gerade noch an der Einführung und Weiterentwicklung des Kapitalismus, der im Westen gerade Selbstmord begeht. Meinen jedenfalls französische Kommentatoren.

So stehen wir da und rätseln, welchem Schauspiel wir derzeit wirklich beiwohnen. Dem sogenannten europäischen Brüning-Theater, bei dem der Sparkurs die Abwärts- und Verelendungsspirale immer weiter nach unten dreht? Oder dem Sieg der Walküre, der germanischen Heldensaga von der eisernen Errettung vor dem Schuldendrachen?

So oder so, wir werden später sagen müssen, wir waren dabei. Das Historische hat uns kalt erwischt. Während wir noch an unseren iPhones herumnesteln, sind wir dabei, das Ereignis zu "bewohnen". Oder es uns. Vielleicht mit Glühweingeschmack. Oder dem von heißem Eierpunsch, wie gestern auf dem Weihnachtsmarkt.