Ende des streikfreien Musterlandes

Die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes haben einen massenhaften Protest gegen die Rentenkürzung und den Sparkurs organisiert, auch in der Privatwirtschaft steigt die Streikbereitschaft

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Am 30. November erlebte Großbritannien den größten Streiktag der jemals von der dortigen Gewerkschaftsbewegung organisiert wurde. Rund 30 Gewerkschaften beteiligten sich, fast 3 Millionen Beschäftigte des öffentlichen Sektors folgten dem Streikaufruf. Dessen ungeachtet setzte die aus Konservativen und Liberaldemokraten bestehende Koalitionsregierung ihren Konfrontationskurs mit den Gewerkschaften fort.

Am 29. November legte der britische Finanzminister, Schatzkanzler George Osborne, seinen jährlichen Herbstreport vor. Der basierte unter anderem auf Daten des office of budget responsibility (OBR), eine von der Regierung gegründete Organisation, deren Aufgabe es ist, den eingeschlagenen Sparkurs mit Datensammlungen zu untermauern.

Osborne hatte Böses mitzuteilen (Briten müssen mit weiteren sechs schlechten Jahren rechnen). Hatte man noch letztes Jahr stolz verkündet, der wirtschaftliche Sturm werde an der Insel vorübergehen, gab es am Dienstagnachmittag ganz andere Töne. Die Wirtschaft werde stagnieren, es drohe sogar eine Rezession. Um damit umzugehen, sei eine Erweiterung des Sparkurses nötig. War das Sparprogramm der Regierung bislang auf 5 Jahre festgelegt, wird es nun auf unbestimmte Zeit verlängert (Briten starten Konjunkturprogramm).

Laut OBR-Bericht wird dies weit drastischere Stellenstreichungen im öffentlichen Sektor bedeuten als bislang behauptet. Bislang rechnete das OBR mit 300.000 Stellenverlusten, nun wird mit weit über 700.000 Stellenverlusten gerechnet. Osborne kündigte außerdem eine Verlängerung der Gehaltseinfrierung im öffentlichen Sektor an. Bislang sollte diese bis 2013 andauern, nun soll das Gehalt bis 2015 nicht steigen. Außerdem kündigte Osborne "lokale Vergleiche" der Gehälter im öffentlichen Sektor mit Privatfirmen vor Ort an. Ziel sei es, die Gehälter anzugleichen. Das bedeutet Gehaltskürzungen in einem noch nicht bekannten Ausmaß.

Der Grund für den Streik am 30. November sind Kürzungen im Rentensystem des öffentlichen Sektors. Für jeden Teilbereich gibt es einen eigenen "Topf". Feuerwehrleute, Lehrer, kommunale Angestellte, Müllleute, sie alle haben ihren eigenen Rententopf, in den sie monatlich einen Teil ihres Gehaltes einzahlen. Diesen Betrag will die Regierung erhöhen, gleichzeitig aber die am Ende eines Berufslebens zustehende Monatsrente verkleinern. Außerdem soll die Lebensarbeitszeit von 62 auf 67 Jahre steigen.

Auch am 30. November verurteilte Osborne den Streik und rief die Gewerkschaften dazu auf, wieder in Verhandlungen mit der Regierung einzusteigen. Die Sichtweise der Gewerkschaft ist, dass die Regierung keine ernsthaften Verhandlungen führt, da sie fest entschlossen ist, ihr Rentenkonzept durchzuziehen. Osbornes Rede am 29. November im britischen Unterhaus dürfte die Gewerkschaften in dieser Ansicht bestärkt haben.

Gewerkschaften sehen Generalstreik im öffentlichen Dienst als Erfolg

Die Gewerkschaften sehen den Streiktag als Erfolg. In Nordirland brach der gesamte öffentliche Personentransport zusammen. Staatliche Behörden mussten schließen. 18.000 von 20.000 Schulen blieben geschlossen. Erstmals wurde der Gesundheitsbereich landesweit bestreikt. Tausende Operationen fielen aus. Anrufe an die Polizei blieben unbeantwortet, da die zivilen Beschäftigten der Polizei streikten.

Das ist nur eine kleine Auswahl von bestreikten Bereichen. Zehntausende beteiligten sich an Demonstrationen in ganz Großbritannien, allein in Manchester über 50.000. Kopfzerbrechen hatte der Regierung im Vorfeld die Lage auf den Flughäfen bereitet, da hier die Beschäftigten der Ausländerbehörde streiken. Deshalb wurde unter anderem das Militär zur Durchführung von Passkontrollen herangezogen.

Eine Mehrheit der Bevölkerung scheint den Streik zu unterstützen. Unter anderem zeigt dies eine Umfrage, die von der BBC in Auftrag gegeben wurde. Demnach halten 61% aller Menschen den Streik für gerechtfertigt. 4 von 5 Befragten im Alter zwischen 18 und 24 Jahre halten den Streik für gerechtfertigt.

Mit dem Generalstreik im öffentlichen Sektor am 30. November ist es noch nicht vorbei. Im Gegenteil erhitzt sich das Klima auf der Insel weiter. Viele der beteiligten Gewerkschaften leiten bereits ab 1. Dezember weitere Kampfmaßnahmen ein. In staatlichen Behörden wird es zum Beispiel Dienst nach Vorschrift geben, unter anderem werden keine Überstunden mehr abgeleistet. Ähnliches machen auch die Beschäftigten an den Universitäten.

Derweil breitet sich die Streikbereitschaft auf den privaten Sektor aus. Am 29. November gab die Gewerkschaft UNITE das Ergebnis einer Urabstimmung aus der Baubranche bekannt. 81% aller direkt Angestellten Bauarbeiter beim Baukonzern Balfour Beatty stimmten für einen landesweiten Streik gegen Pläne, die Gehälter um 35% zu kürzen. Das erste mögliche Streikdatum ist der 7. Dezember. Ein Generalstreik in Großbritannien, der sowohl den öffentlichen als auch den privaten Sektor mit einschließt, kann nicht mehr ausgeschlossen werden.

Dem setzt die britische Regierung Drohgebärden entgegen. So wird an Gesetzen gearbeitet, das Entlassen von Beschäftigten zu vereinfachen. Außerdem soll das Streikrecht weiter verschärft werden. Großbritannien hat bereits jetzt die härtesten Antistreikgesetze Europas. Gewerkschaften müssen vor einem Streik ein kompliziertes Briefwahlverfahren durchführen. Die Regierung arbeitet an Neuerungen, wonach eine solche Urabstimmung erst legal ist, wenn sich über 50% der befragten Belegschaft daran beteiligen. Auch dies erzeugt Ärgernis bei den Gewerkschaften. Über die vergangenen zwei Jahrzehnte galt Großbritannien als streikfreies Musterland. Damit ist es nun wohl vorbei.