Wie Gewährleistungsstaat und Rechtsstaat zusammenhängen

Der ehemalige Verfassungsrichter Siegfried Broß über die Folgen der Privatisierung - Teil 1

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Der Rechts- und Verwaltungswissenschaftler Siegfried Broß ist Honorarprofessor an der Universität Freiburg und Vorsitzender des Präsidiums der Deutschen Sektion der Internationalen Juristen-Kommission. Von 1998 bis 2010 war er Richter am Bundesverfassungsgericht. Seit den Nuller Jahren kritisiert Broß die Privatisierung der öffentlichen Infrastruktur in Deutschland und warnt vor negativen Folgen.

Herr Professor Broß - Sie reisen gerade viel - unter anderem nach Indonesien, nach Marokko und nach Tunesien, wo eine neue Verfassung entsteht. Ist es möglich, dass Sie Tunesien oder Marokko auch Elemente aus dem deutschen Grundgesetz empfehlen?

Siegfried Broß: Es gibt im Grundgesetz sehr breite Passagen, Abschnitte und Strukturen, die für eine moderne rechtsstaatliche Demokratie, die den Menschenrechten verpflichtet ist, allgemeingültig sind. Für viele Staaten im Umbruch ist der deutsche Föderalismus sehr attraktiv; denn eine föderalistische Struktur liefert die besten Voraussetzungen, dass man die verschiedensten Ebenen unter ein Dach einbindet, genauso aber auch religiöse Gruppierungen. Der Föderalismus kann die Wunden, die die Linealgrenzen des Kolonialismus aufgerissen haben, teilweise heilen, indem er für mehr Subsidiarität sorgt; indem er mehr dafür sorgt, dass Entscheidungen auf einer Ebene getroffen werden, die näher beim Individuum liegt.

In Nepal wurde mir die Aufgabe gestellt, bei 18 oder 20 Millionen Menschen und noch mehr Ethnien föderalistische Strukturen zu entwickeln, die dem gerecht werden. Genauso war es bei der Beratung des Verfassungsrats des Irak. Und jetzt stellt sich das Problem in Nordafrika.

Wir müssen uns aber von der Vorstellung verabschieden, man könne irgendein westliches Rechtssystem über so ein Land stülpen - und wenn der gute Wille da ist, dann funktioniere das. Das sind ganz eklatante Fehlvorstellungen, weil wir zuerst feststellen müssen, was wir in einem Land vorfinden: die Gesellschaft, die Geschichte, die Ethnien, die Stämme und die Stammesfürsten. Oder religiöse Gegensätze. Deshalb muss man sehr diskret, sehr bescheiden und auch sehr einfühlsam vorgehen. Man kann es nicht so machen, wie die Weltbank und die WTO, dass man diesen Staaten die Vorstellungen dieser Institutionen, die der Wirtschaft und deren Interessen, überstülpt. Das kann nie funktionieren. Deshalb ist ja auch der Aufbau eines Rechtsstaats enorm schwierig.

Des weiteren wird auch oft übersehen: Der Rechtsstaat ist etwas Abstraktes. Das können die Menschen nicht fassen, nicht spüren. Was die Menschen aber direkt erfassen können, ist die soziale, die konkrete, die reale Welt. Und wenn die ihnen im Hinblick auf Arbeit, Versorgung mit Nahrungsmitteln, Infrastruktur, Bildung, medizinische Betreuung und so weiter unfreundlich begegnet, dann können Sie doch nicht erwarten, dass sich solche Menschen für den Staat begeistern. Den empfinden sie eher als Bedrohung. Deshalb dürfen wir uns nicht wundern, wenn die Entwicklung einer rechtsstaatlichen Demokratie nicht einfach ist. Man muss dafür mindestens zwei Generationen einrechnen, weil wir zuerst einmal das Bewusstsein der Menschen entwickeln müssen. Das geht nur über ein gleichmäßig zugängliches Bildungssystem für alle.

Außerdem muss man - und das geht nur zusammen mit der Wirtschaft - starke gewährleistungsstaatliche Strukturen entwickeln. Wasser, Abwasser, Elektrizität - das sind Ausprägungen des Auftrags unseres Staates, das Sozialstaatsprinzip mit Leben zu erfüllen. Die Menschen müssen auch in diesen Feldern spüren, dass sich etwas entwickelt.

In Ländern, in die ich reise, gibt es regelmäßig große Diskussionen um die Privatisierung der Frischwasserversorgung - und zwar zum Teil auch auf Druck der Weltbank, die droht, sonst keine Kredite zu vergeben. Bloß - was ist nachher mit dem Wasserpreis? Den können die Menschen dort häufig gar nicht bezahlen und müssen ihr Wasser dann 10 oder 15 Kilometer auf dem Kopf schleppen, in schweren Gefäßen. Wie soll ich die Menschen so für eine rechtsstaatliche Demokratie gewinnen?

In einer aktuellen Studie kommt die Weltbank zu dem Ergebnis, dass etwa 25 Staaten vor dem Zusammenbruch stehen, nachdem es vor zehn oder 15 Jahren nur 18 waren. Da ist es doch an der Zeit, dass man mal die eigene Politik überdenkt. Und die von IWF und WTO. Wenn ich nur die Privatisierung großer Infrastrukturbereiche in den Mittelpunkt stelle, dann ist eine vernünftige am Menschen orientierte Entwicklung als Grundlage für einen funktionstüchtigen, stabilen Staat zum Scheitern verurteilt.

Das ist das für mich Erschütternde: Dass man nicht bereit ist, diese Politik, die ja seit Jahrzehnten verfolgt wird, zu überdenken. Ich würde mich jetzt in meinem Ruhestand auch lieber schonen. Aber ich finde, wenn man schon solche Einblicke, Erfahrungen und Kenntnisse hat und gefragt wird, dann möchte ich - solange ich dazu die Kraft habe - versuchen, möglichst viel davon weiterzugeben.

Siegfried Broß. Foto: Bundesverfassungsgericht.

Sie wurden auf Vorschlag der Union Verfassungsrichter, haben sich dann aber in Privatisierungsfragen sehr viel kritischer geäußert als die Parteispitzen von CDU und CSU. Hat man sich aus diesen Kreisen jemals mit Beschwerden an Sie gewandt?

Siegfried Broß: Nein. Da vernünftigerweise niemand damit rechnet, wenn man jemand zum Bundesverfassungsgericht vorschlägt, dass der dann mit dem Parteibuch unter dem Arm in Beratungen des Senats des Bundesverfassungsgerichts geht. Zudem muss in den Fällen, wo das Vorschlagsrecht zwischen SPD und CDU aufgeteilt ist, von jeder Vorschlagsseite einer neutral sein. Und ich war bei meiner Ernennung der Neutrale von der Union. Dass ich nicht der Bequemste bin, das war bekannt; denn zu diesem Zeitpunkt hatte ich ja schon sieben Stationen hinter mir und große Projekte betreut: Den Rhein-Main-Donau-Kanal am Bayerischen Verwaltungsgerichtshof und in der Bayerischen Staatskanzlei große internationale Abkommen.

Meinen Sie trotzdem, manche Unionspolitiker haben nach Ihrer Ernennung den Vorschlag ihrer Partei bereut?

Siegfried Broß: Ausschließen kann man das natürlich nicht. Aber die Maßgeblichen auf jeden Fall nicht. Denn ich habe ja auch die Fraktion unmittelbar verfolgen können. Die maßgeblichen Politiker haben die Sachgerechtheit eingesehen, auch wenn das dann vielleicht nicht so offen in den Medien verbreitet wurde: Viele Entwicklungen haben ja gezeigt, dass ich nicht auf dem Holzweg war und die Sach-und Rechtslage, die tatsächliche Gegebenheit verkannt hätte, sondern - wir sehen das zuletzt an der Entwicklung in Europa - dass ich schon auch strategische Weitsicht und ein Gespür für das hatte, was rechtsstaatlich machbar ist und was man den Menschen vernünftigerweise zumuten darf.

Sie sind nicht der einzige Richter, der sehr unabhängig urteilte. Wie erklären Sie sich das "Wunder von Karlsruhe" - dass Richter trotz einer Nominierung durch die Parteien häufig gegen deren Politik entschieden? Sie haben das schon teilweise mit dieser neutralen Nominierung beantwortet, aber gibt es sonst noch Mechanismen?

Siegfried Broß: Das ist an und für sich systemimmanent, wenn man vom gesetzlichen Anforderungsprofil an die Persönlichkeiten ausgeht, die vorgeschlagen und dann auch gewählt werden sollen: Zum Beispiel Bundesrichter und Hochschullehrer. Da ist es gerade ein Zeichen, dass der Vorschlag gut war, wenn die Menschen nachher nicht am Gängelband der politischen Gruppierung marschieren, die sie nominiert hat. Zudem beruht die stabilisierende Wirkung des Bundesverfassungsgerichts und seiner Rechtsprechung sowie sein weltweit hohes Ansehen im Wesentlichen auf seiner Unabhängigkeit. Und die ist nur dann gegeben, wenn das Vorschlagsrecht von den zuständigen Gremien verantwortungsbewusst gehandhabt wird.

Sollte das Verfahren zur Wahl der Verfassungsrichter - wie etwa Wolfgang Neskovic fordert - öffentlicher werden?

Siegfried Broß: Das hat schon bei meiner Wahl 1998 eine Rolle gespielt, weil einer der Wahlmänner in dem Gremium gegen mich gestimmt hat - aber nicht, weil er gegen mich Bedenken gehabt hätte, sondern weil er gegen das Verfahren war. Und das wollte er mal betonen, da lag ihm sehr viel daran.

Wenn das Verfahren transparenter gemacht wird, verbessert das aus meiner Sicht aber überhaupt nichts. Ich halte es im Gegenteil für abträglich, weil die innere Unabhängigkeit der Kandidatinnen und Kandidaten leidet. Die sind dann versucht, nicht mehr offen ihre Meinung zu sagen und zu schreiben, sondern eine Rolle zu spielen. Andere Kandidatinnen und Kandidaten könnten durch eine Debatte beschädigt werden, obwohl sie nichts dafürkönnen, dass sie vorgeschlagen werden - da muss man nur an die Vereinigten Staaten denken und an das niedrige Niveau, das das Auswahlverfahren dort erreicht hat. Solche Prozeduren würden auch der Institution Bundesverfassungsgericht schaden.

Ich hätte Anhörungen vor Fraktionen abgelehnt. Und ich habe auch mit anderen darüber gesprochen. Das geht allen genauso. Deshalb könnte das ein Schuss in den Ofen sein, weil qualifizierte Leute absagen.

In Teil 2 des Interviews geht es um Rating-Agenturen als Gefahr für die Demokratie und ein Fondsmodell, das die Netze der Öffentlichen Hand belässt

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