Eier für Hans-Christian Ströbele?

Nachbemerkungen zu einem Vorfall bei den Bonner Protesten gegen den Afghanistan-Krieg

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Eine kleine Gruppe von Teilnehmenden der Bonner Demonstration gegen den Afghanistan-Krieg am vergangenen Samstag wollte einen Redebeitrag des grünen Parlamentariers Hans-Christian Ströbele durchaus nicht dulden. Die Tagesschau gab den Vorfall so wieder:

Bei der Abschlusskundgebung wurde der Grünen-Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele mit Eiern beworfen. Eine Gruppe der Demonstranten schleuderte Ströbele in Bonn die Worte entgegen, er habe "Blut an den Händen". Seit Beginn der Afghanistan-Debatte hatte Ströbele immer gegen den Bundeswehreinsatz gestimmt. Sein Vorredner, Linksfraktionschef Gregor Gysi, war mit Applaus empfangen worden.

Dieser Passus bestreitet mehr als ein Drittel der knappen Berichtszeilen über die Demonstration. Von den Ausführungen zur erschreckenden Wirklichkeit des Afghanistan-Krieges, wie sie neben Sprecherinnen und Sprechern des Demonstrationsbündnisses, Gästen aus Afghanistan oder den USA auch Hans-Christian Ströbele und Gregor Gysi in Bonn vorgetragen haben, ist - wie üblich - nichts zu lesen. Den Beiträgen aus der friedensbewegten Gegenkonferenz zu "Petersberg II" wird es mit ziemlicher Sicherheit ähnlich ergehen.

"Angela Merkel" am 3.12.2011 in Bonn. Foto: P. Bürger

Das Verhältnis der militärischen und vermeintlich "humanitären" Geldinvestitionen auf dem Rohstoffrelevanten Schauplatz Afghanistan spricht Bände. Für "Mädchenschulen" sind so oder so, wie Gysi richtig sagt, weder sowjetische noch US-amerikanische Bomben zu rechtfertigen. Den Kindern des Landes geht es allerdings heute viel schlechter als vor diesem Krieg, und in allen Lebensbereichen fällt eine von Gysi zitierte aktuelle UN-Analyse denkbar traurig aus. Gewalt und Opiumanbau sind in "Vietnam-Afghanistan" explodiert. Ohne einen tatsächlichen Abzug der westlichen Besatzer wird es absehbar kein Ende geben. Wenn bezogen auf die vorgeblichen Kriegsgründe bzw. Kriegsziele das Wort "Evaluation" noch irgendeinen Sinn haben soll, kann man ohne Einschränkung nur die Note "Sechs" ausstellen. Trotz regelmäßiger Krokodilstränen von öffentlichen Meinungsmachern kommen die wirklichen Erfahrungen von deutschen Soldaten in Afghanistan im Medienkonzert nicht vor.

Als Demonstrationsteilnehmer und Augenzeuge möchte ich den oben zitierten Tagesschau-Bericht hier gerne ergänzen: Nach den Eierwürfen ließen die Moderatoren alle Teilnehmenden der Abschlusskundgebung über das Rederecht von Hans-Christian Ströbele abstimmen, wobei eine überwältigende Mehrheit den Parlamentarier hören wollte. Ströbele konnte seine kritischen Erkenntnisse zu deutschen Soldaten-Kampfeinsätzen, erlangt auf einer kürzlichen Afghanistan-Reise, danach ohne lärmstörende Gegenparolen vortragen. Nicht zuletzt ging es hier auch um eine Frage des Miteinanders im Protestbündnis, denn die nonkonforme grüne Friedensinitiative hatte zur Demo ebenfalls mit aufgerufen. Ich nehme den Zwischenfall vom Samstag sehr persönlich. 1982-1984 habe ich als Student in Bonn gelebt. Mitten im Fußgängergeschehen sang damals Joseph Beuys das berühmte Lied "Sonne statt Reagan", und bei dieser Darbietung gab es ringsum nur heitere Gesichter (in meinem Bauch jubilierte ebenfalls eine kleine Sonne). Zur Demonstration im Oktober 1983 reisten meine Geschwister an. Im Gepäck hatten sie einen Kuchen, den meine Mutter zur Verpflegung besteuern wollte - mit dem Kommentar: "'Nie wieder Krieg!', das haben sie doch 1945 gesagt!"

Man glaubt es heute kaum, aber in der Bonner Innenstadt konnte man wirklich mit Willy Brand auf der Straße sprechen. Den Brunnen am Kaiserplatz hatten gutgelaunte Punks in Beschlag genommen, in bester Nachbarschaft zu den vielen "Ökos" … Die ganze kritische Masse der Republik war in Hofgarten und Innenstadt zusammengekommen, und es gab damals auch eine noch junge Parteigründung, die wir als "unsere Partei" betrachteten.

Seitdem sind drei Jahrzehnte vergangen. Mit einem sauberen Knopfdruck am Drohnen-Computer in Reagans Heimat erfolgt heute tägliches Kriegsmorden. Auf Bundeswehrorder hin getötete afghanische Zivilisten sind für die deutsche Rechtsprechung irrelevant. Die Zerstörung völkerrechtlicher Minimalstandards - flankiert von einer verlogenen "Menschenrechtsschutz"-Propaganda - ist weit gediehen. Alle "regierungsfähigen" Parteien in unserer Republik haben sich der Nato-Parole "Werte und Interessen" und damit der modernen Wirtschaftskriegsdoktrin unterworfen. Viele aus meiner Generation haben am käuflichen Werdegang der Grünen und der beispiellosen Hässlichkeit ihrer Parteigeschichte gelernt, nie wieder an eine Systemimmunität bezahlter Politiker zu glauben. Den grünen Status quo hat auf der Bonner Demonstration vom Samstag die Schlussrednerin der Interventionistischen Linken rundherum zutreffend beschrieben.

Denjenigen jungen Antimilitaristen vom Samstag, die mutig Eier im Gepäck mitführten, möchte ich jedoch einen größeren Blick auf die jüngere Geschichte empfehlen (freilich unter der Voraussetzung, dass die "Eier" nicht von kriegsinteressierter Seite organisiert waren). Hans-Christian Ströbele steht für ein Stück "lebendige Zeitgeschichte", denn er ist die letzte Persönlichkeit, die anschaulich vermittelt, was die "Grünen" einmal für viele von uns waren. Dieser Mann ist eine der schlechtesten Zieladressen bei dem notwendigen Unterfangen, das Blut an den Händen von Kriegsparteigängern sichtbar zu machen. Er ist kein Heiliger, aber ein Politiker, der außerhalb "seiner" Partei bei besorgten Bürgerrechtlern und Kriegsgegnern auf viele warmherzige Sympathien zählen kann (man schlage z.B. einmal im Archiv zu "Heiligendamm 2007" nach).

Auch bei Parteimitgliedschaften kann es gute biographische und politische Gründe geben, nicht einem hochmoralischen - manchmal auch narzisstischen - Reinheitsideal zu folgen. Wir brauchen nüchterne und kompetente Whistleblower wie Hans-Christian Ströbele im Parlament. Dass man ihn zum Märtyrer macht, hat er allerdings nicht verdient.