Brodelnde Gerüchteküche um Gottesteilchen

Peter Higgs besucht das CERN bzw. das CMS-Experiment, mit dem das Higgs-Boson aufgespürt werden soll. Bild: CERN.

Die Spekulationen mehren sich, wonach CERN am 13. Dezember verlautbaren wird, erste Spuren des Higgs-Bosons entdeckt zu haben

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In der Gerüchteküche der Teilchenphysiker, Wissenschaftler und "Higgs-Fans" brodelt es, wird wieder einmal heißer gekocht als gegessen. Was einige Blogger und Journalisten derzeit auftischen, muss gleichwohl nicht jedermanns Geschmack sein. Denn deren Ansicht nach wird CERN nächste Woche mit der Information aufwarten, erste Hinweise auf die Existenz von Higgs-Bosonen gefunden zu haben, dem Gottesteilchen schlechthin, wie Physiker das Higgs-Teilchen scherzhaft bezeichnen. Fakt ist: In Zürich (Schweiz) findet am 12. und 13. Dezember wirklich ein Meeting statt, das in einem geheimen Treffen gipfelt und in eine große Auditoriums-Diskussion münden soll, bei dem jeweils das Higgs-Boson allein im Fokus steht. Nur wenige kennen die aktuelle Datenlage, und was am 13. Dezember verkündet wird, bleibt vorerst Top secret.

Die Nervosität wächst. Die Spannung steigt. Physiker, Teilchenphysiker, Astronomen, Kosmologen, ja Forscher aus allen Disziplinen und Hobbywissenschaftler rund um den Globus warten schon seit einigen Monaten auf die erlösende Nachricht, auf die Bestätigung des wissenschaftlichen Modells aller Modelle. Im Zentrum ihres Interesses steht ein unbekanntes Teilchen, das der Schlüssel zur quantenmechanischen Weisheit sein und als gemeinhin letztes postuliertes Partikel, als einziges bislang nicht im Experiment nachgewiesenes, die Richtigkeit des bisherigen Standardmodell der Elementarteilchenphysik bestätigen soll: das Higgs-Teilchen respektive Higgs-Boson.

Higgs-Charakteristika

Benannt nach dem englischen Physiker Peter Higgs (geb. 1929), der es 1964 zusammen mit anderen Forschern fast zeitgleich vorhersagte, schreibt die Wissenschaft dem Higgs-Teilchen eine einzigartige Qualität zu. Es ist eine Qualität, die die Quantität der Partikel erklären soll.

Die Idee, die dahinter steckt, ist einfach wie genial, aber gleichwohl höchst schwer nachzuweisen. Laut Theorie erhalten die Partikel im Subkosmos ihre Masse dadurch, indem sie sich durch ein Kraftfeld, das so genannte Higgs-Feld, bewegen. In ihm sind Higgs-Bosonen die charakteristischen Vermittlerteilchen, die weder einen Spin noch eine Ladung haben.

Während das Higgs-Feld die Bewegung aller Teilchen abbremst, gewinnen Elektronen, Neutrinos, Quarks, aber auch W- und Z-Bosonen zeitgleich an Masse. Da das Feld auf bestimmte Partikelarten stärker reagiert als auf andere, kommen somit unterschiedliche Massen zustande. Auf eine einfache Formel gebracht bedeutet dies: Je intensiver ein Teilchen mit dem Higgs-Feld wechselwirkt, desto größer gerät seine Masse.

In diesem Zusammenhang drängt sich natürlich unweigerlich die Frage auf, woher das Masse generierende Higgs-Boson selbst seine Masse bezieht - und wie es dies bewerkstelligt. Auch wenn aus den Modellen der Elementarteilchenphysiker hervorgeht, dass Higgs-Bosonen de facto eine Masse haben, weiß derweil keiner genau, wie groß diese ist. Die "Nature"-Redakteurin und Buchautorin Joanne Baker bringt das Dilemma auf den Punkt.

"Experimentell wurde nur eine Untergrenze ermittelt, die durch die gegenwärtig in Beschleunigern erreichbaren Energien gegeben ist. Dass man das Higgs-Teilchen dort noch nicht beobachtet hat, bedeutet, dass man bisher nicht in die entsprechenden Energie- und damit Masseregionen vorstoßen konnte. Wir wissen also nicht mehr, als dass das Higgs-Boson ziemlich massereich sein muss."

Das chaotische Innenleben eines Protons: Alle darin befindlichen Quarks und Antiquarks, die von Gluonen (Leimteilchen) zusammengehalten werden, folgen einem eigenen Drehimpuls (Spin). Bild: DESY.

Teilchen- und Spurensuche

Ausgehend von der Existenz massereicher Higgs-Bosonen, richten sich die Hoffnungen der Teilchenphysiker seit geraumer Zeit auf die Experimente im Large Hadron Collider (LHC) am CERN in Genf.

Der Nachweis leibhaftiger Higgs-Teilchen ist kompliziert, die Suche nach Spuren von ihnen nicht minder schwer, weil diese sich im Detektor nur für ultrakurze Zeit offenbaren und zusammen mit einem Konglomerat anderer Teilchen wieder flugs das Weite suchen. Wer aus diesem Milliardenmeer von Teilchenspuren just jene verräterischen, von Higgs-Bosonen stammende, herausdestillieren will, braucht nicht nur hochempfindliche Anlagen wie im CERN, sondern enorm viel Zeit, Geld und Glück, also fast ausnahmslos Dinge, über die Forscher in der Regel (sieht man vielleicht einmal vom Letzteren ab) selten im Überfluss verfügen.

Denn obwohl jede Sekunde 600 Millionen Mal Protonen mit anderen Partikeln aufeinanderprallen, erwarten die Physiker nur einmal pro Minute ein Higgs-Teilchen. "Eine Nadel im Heuhaufen ist dagegen leichter zu finden", konstatiert Joachim Mnich vom Deutschen Elektronen-Synchrotrons (DESY) nüchtern.

Simulation von der Entdeckung eines Higgs-Bosons, so wie sie im CMS-Experiment des LHC aussehen könnte. Bild: CERN.

Geheimnisvolle Session

Dies jedoch könnte nach Ansicht des US-Magazin Wired (online) bereits geschehen sein. Wie Wired auf seiner Website berichtet, sieht es danach aus, als hätten sich Physiker vom LHC zu Weihnachten selbst mit einem außergewöhnlichen Präsent beschert.

Denn aktuell kursierenden Gerüchten zufolge sollen Physiker mit den LHC-Detektoren ATLAS und CMS Signal-Daten erfasst haben, die mit Higgs-Partikel korrespondieren könnten. Hierbei handelt es sich, so Wired, um Teilchen mit einer Masse von 125 Giga-Elektronenvolt (GeV/c²). Zum Vergleich: Die Ruheenergie eines Protons beträgt etwa 0,94 GeV/c²).

Wenn Wired und einige Blogger darauf hinweisen, dass das CERN Council anlässlich der neuen Datenlage am 12. und 13. Dezember ein Treffen auf höchster wissenschaftlicher Ebene einberufen hat, korrespondiert diese Information tatsächlich mit der Agenda des CERN. Danach ist eine zweitägige Konferenz in Zürich vorgesehen, bei der die miteinander kombinierten Daten des ATLAS- und CMS-Experiments zur Disposition stehen und eine Veröffentlichung der Messungen in Aussicht gestellt wird.

Wie aus der Agenda hervorgeht, findet am Rande der CERN-Konferenz am 13. Dezember eine zusätzliche geheime Session ("Restricted Session") in "Room Georges Charpak /Room F" statt, bei der die Verantwortlichen der ATLAS- und CMS-Experimente hinter verschlossenen Türen nochmals zu Wort kommen sollen.

Simulation von der Entdeckung eines Higgs-Teilchens im ATLAS-Experiment des LHC. Bild: CERN.

Zum abschließenden Meeting der CERN Councils hat offensichtlich kein Geringerer als der Partikelphysiker und Generaldirektor des CERN, Rolf-Dieter Heuer, in persona geladen. Aus der vor wenigen Tagen von dem Blogger und theoretischen US-Physiker Lubos Motl veröffentlichten Rundmail Heuers geht hervor, dass zum Abschluss des Meetings um 14.00 Uhr ein zweistündiges Seminar im Hauptauditorium des CERN abgehalten wird. Schwerpunktmäßig werden die Forscher auch während dieser Veranstaltung den Status Quo der ATLAS- und CMS-Experimente diskutieren - mit besonderem Fokus auf die Suche nach dem Higgs-Boson.

Nach Heuers Ansicht sind einerseits genügend Daten vorhanden, um den signifikanten Fortschritt bei der Suche nach dem Higgs-Boson vor Augen zu führen, andererseits aber nicht genug, um ein endgültiges Urteil über die Existenz oder Nicht-Existenz von Higgs-Teilchen zu fällen, so Heuer in der E-Mail über das Thema des Seminars, dessen Terminierung inzwischen auch offiziell bestätigt ist.

Sehnsucht nach der Sensation

Dass sich angesichts des zeitlichen Aufwands und der offenkundigen Geheimniskrämerei so manch Blogger und Fachjournalist zu Spekulationen hinreißen lässt, vermag daher nicht zu verwundern, zumal die Gerüchteküche mit Blick auf die Entdeckung des Higgs-Bosons in der jüngsten Vergangenheit schon mehrfach gebrodelt hat. Das letzte Mal im April dieses Jahres, als vier Physiker behaupteten, im Rahmen des ATLAS-Experiments ein schwaches Higgs-Partikel gefunden zu haben. Den wissenschaftlichen Beweis hierfür blieben diese bisher schuldig.

Simulation eines Schwarzen Miniloches nach der Kollision zweier Protonen im ATLAS-Experiment des LHC. Zu derartigen Phänomen wird es im LHC wohl nicht kommen. Eher gelingt der Nachweis des ersten Higgs-Bosons. Bild: CERN.

Dieses Mal jedoch sehen Blogger wie Motl weitaus mehr Grund zum Optimismus. Denn nach Monaten der Frustration könnte den LHC-Forschern der Coup gelungen sein, endlich ein Higgs-Teilchen dingfest gemacht zu haben: "Die Chancen sind hoch (liegen aber nicht unbedingt bei 100 Prozent), dass nach den Gesprächen entweder die Entdeckung oder einige weitreichende Erkenntnisse verlautbart werden, die wirklich qualitativ gut und unerwartet sind."

Dass die Diskussion derweil weite Kreise zieht, verrät ein kurzer Blick in den viXra log, einem Blog des viXra org e-print-Ablegers. Auch eine kleine Twitter-Recherche offenbart die Sehnsucht nach der Sensation.

Wie massereich ist ein Higgs?

Bei der Debatte geht es auch um die Frage, wie groß die Masse des Higgs-Boson per se ist, und ob das derzeitige Leistungsniveau der LHC-Detektoren hoch genug ist, um potenziell vorhandene Higgs-Bosonen überhaupt nachzuweisen. Aufgrund der bisherigen mit ATLAS und CMS vorgenommenen Messungen gehen die Teilchenphysiker am CERN inzwischen davon aus, dass die Masse eines Higgs-Bosons mit 95-prozentiger Sicherheit geringer ist, als die ursprünglich angedachten 476 GeV/c². So konzentrieren sich die Physiker bei der Jagd nach dem Higgs-Boson derweil auf ein Fenster, das nur noch 114 bis 141 GeV/c² groß ist.

Dank der Datenlage sind die Erfolgschancen so schlecht nicht, behauptet der Pressechef am CERN, James Gillies, gegenüber BBC News. "Wenn sie auf die Daten schauen, haben wir jetzt fünfmal mehr davon, als wir bei der Sommerkonferenz präsentieren konnten."

Schematische Darstellung der Experimente am CERN. Bild: CERN.

Voller Zuversicht zeigt sich auch der beflissene Blogger Philip Gibbs in seinem aktuellen Web-Log. Seiner Beobachtung nach verdichten sich die Hinweise darauf, dass CERN in der nächsten Woche die Entdeckung eines starken Signals bei 125 GeV/c² mit einer Signifikanz von zwei bis drei Sigma verkünden wird. Dabei werde CERN aber auch einschränkend darauf hinweisen, dass die Datenlage für den Nachweis von Higgs-Bosonen nicht aussagekräftig genug sei, vermutet Gibbs.

Sollte sich dennoch in acht Tagen das Gerücht bewahrheiten, dass Higgs-Teilchen auf einem Masse-Niveau von nur 125 GeV/c² aufgespürt wurden, wird dies nach Ansicht des Wissenschaftsjournalisten Adam Mann aus Oakland neue Fragen aufwerfen.

"Ein 125 GeV/c²-Higgs-Teilchen wäre leichter als es die einfachsten Modelle vorhersagen und würde komplexere Theorien erfordern, solche wie die Supersymmetrie, welche die Existenz eines schweren Partners für alle bekannten Partikel postuliert."

Blick ins Innere von CERN auf das Äußere des Beschleunigerrings. Bild: CERN.

Keine voreiligen Schlüsse

Obwohl die CERN-Physiker während ihrer Suchläufe im Bereich von 130 bis 150 GeV/c² bis dato weitaus mehr Ereignisse als erwartet verzeichnen konnten, die überdies auf das Vorhandensein von Higgs-Bosonen hindeuten, halten sie sich dennoch mit voreiligen Schlüssen und Interpretationen vorerst zurück.

Nur die vermeintlich konservativ-seriöse BBC geht mutig voran. Vor wenigen Tagen berichtete sie, dass die CERN-Wissenschaftler mit "angehaltenem Atem" auf das Dezember-Seminar in Genf warten, das den "Beginn vom Ende der Jagd nach dem Higgs-Teilchen markieren" werde.

Alles andere als pessimistisch gestimmt ist auch Guido Tonelli. Der Teilchenphysiker und Wortführer der CMS-Kollaboration erklärte unlängst der BBC, dass die Sensibilität der Detektoren ausreichend sei, um das Higgs-Boson aufzuspüren. Sofern es wirklich existiere, werde man sein Auftauchen oder seine Spuren registrieren. Aber wenn dort nichts sei, werde man auch keine Daten erhalten. "Es läuft erstmals auf ein ja oder nein hinaus", so Tonelli. Da die Messungen derzeit noch nicht ausreichen, um ein endgültiges Urteil zu fällen, müsse man in Zukunft die Daten von ATLAS und CMS auch weiterhin kombinieren und immer wieder überprüfen. Schließlich gehe das Experiment nunmehr in eine Phase über, die "höchst interessant" sei.

Auswirkungen für die Astrophysik

Noch vermag sich keiner auszumalen, was wohl geschähe, wenn die Higgs-Bosonen als Säule des Standardmodells der Teilchenphysik am LHC niemals gefunden würden und völlig unklar bliebe, woher die anderen Elementarteilchen ihre Masse beziehen.

Dagegen würde der Nachweis eines einzigen Gottesteilchens die Existenz des Higgs-Feldes beweisen. Denn je nachdem, wie intensiv die uns bekannten Elementarteilchen mit diesem Feld in Wechselwirkung treten, werden sie schwerer oder leichter, werden sie elektrisch geladen oder nicht. Kurzum, alle Eigenschaften der Teilchen lassen sich vor dem Hintergrund, dass das gesamte Universum komplett und kontinuierlich von diesem Feld durchsetzt ist, plausibel erklären.

Unendliche Weiten in einem unendlich endlichen Kosmos, in dem Higgs-Felder existieren sollten Bild: NASA, ESA, J. Blakeslee and H. Ford (Johns Hopkins University).

Ließen sich beim LHC-Experiment Higgs-Teilchen nachweisen, bekämen vor allem die Astrophysiker wertvolle Informationen über die Urphase des Kosmos. Bestätigt sich das Higgs-Feld-Modell, dann ist offensichtlich, dass die fundamentalen Eigenschaften der allerkleinsten Teilchen mit der Entwicklung des expandierenden Universums aufs Allerengste verbunden sind. Schließlich spielt das Higgs-Feld eine ganz besonders wichtige Rolle zu der Zeit, in der das Universum immer noch viel, viel kleiner ist als ein Atomkern - nur welche Rolle genau, bleibt gegenwärtig ein Geheimnis.

YouTube-Video: Das Higgs-Teilchen - Der LHC und die Suche nach dem Ursprung der Masse::http://www.youtube.com/watch?v=-9254gyonu4

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