"Arbeiiiit! Arbeiiiit!"

Zur Germanophobie in Frankreich

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Ein Gespenst geht um in Frankreich: "Die Germanophobie" wütet manchen Stimmen zufolge westlich des Rheins, während Präsident Sarkozy an diesem Montag mit Bundeskanzlerin Angela Merkel zusammentrifft. Was ist dran an der Debatte und an den Vorwürfen, Deutschland sei zur Zielscheibe einer Schmähkampagne geworden? Handelt es sich um berechtigte Kritik an einer Dominanzstrategie der stärksten Wirtschaftsmacht in Europa, um Nationalismus oder um Demagogie im begonnenen Wahlkampf? Ein Versuch einer differenzierten Einschätzung.

Verkehrte Welt? Frankreichs konservativ-wirtschaftsliberale Regierungspartei UMP übte in den vergangenen Tagen heftige Kritik an sozialdemokratischen Politikern - und warf ihnen "fremdenfeindliche Denkreflexe" vor. Der sozialdemokratische Präsidentschaftskandidat François Hollande solle seine Parteifreunde zurückpfeifen, die sich "Entgleisungen" hätten zuschulden kommen lassen, forderten Regierungspolitiker. Gesundheitsminister Roselyne Bachelot (UMP) fügte hinzu:

In Krisenperioden ist die Versuchung, Sündenböcke im Ausland zu finden, eine Leitlinie. Sie kann zum Abdriften in alles Mögliche führen.

Man möchte sich im ersten Augenblick kneifen, denn von Seiten der regierenden Rechten sind das durchaus ungewöhnliche Töne. In den vergangenen Wochen und Monaten hatte das französische Regierungslager das Publikum jedenfalls eher an ausländerfeindliche Tiraden gewöhnt. Noch nie war die verbale Annäherung an die extreme Rechte unter Marine Le Pen, laut Auffassung von Kritikerin, so stark gewesen.

Zuletzt hatte der amtierende Innenminister Claude Guéant der rechtsextremen Politikerin am 27. November dieses Jahres sogar ausdrücklich beigepflichtet. Auf eine Nachfrage nach Positionen der Chefin des Front National bezüglich der Einwanderung hatte Guéant im Radiosender Europe 1 wörtlich erklärt:

Auch ich finde, dass das (Anm.: die Zahl der legal einwandernden Ausländer, etwa ausländische Studierende und Ehegatten von Franzosen oder Französinnen) zu viel ist.

Dieses "auch ich" bezog sich dezidiert auf Marine Le Pen. Daraufhin kritisierte etwa der Grünenpolitiker Noël Mamère, der derzeitige Innenminister spreche "die Sprache Le Pens", während die rechtsextreme Parteichefin sich bei Guéant "bedankte".

"Willkommen in Fronkreisch!"

Und nun dies: Die regierende Rechte behauptet, es seien die Sozialdemokraten - oder ein Teil von ihnen -, die ausländerfeindlich seien. Des Rätsels Lösung liegt darin, dass manche sozialdemokratischen Prominenten in den Tagen zuvor in bestimmter Form Kritik an der stärksten Wirtschaftsmacht des Kontinents geäußert hatten: an Deutschland. Dies ist in den Augen führender konservativer Politiker eine Dummheit, gilt es doch, sich in Europa an ebendiese stärkste Wirtschaftsmacht zu halten und nur nicht mit den Hungerleiderländern im Süden des Kontinents in einen Topf gesteckt zu werden.

Kritik, auch heftige, daran ist in den letzten Wochen in Frankreich gang und gäbe geworden. So pries Staatspräsident Nicolas Sarkozy das deutsche wirtschaftliche Erfolgsmodell in seiner Fernsehansprache vom 27. Oktober derart in den höchsten Tönen und stellte es als Kompassnadel des Erfolgs in Europa dar, dass harsche Reaktionen nicht ausblieben. Die satirische Polit-Puppensendung des französischen Fernsehsenders Canal + zeigte in den darauf folgenden Tagen Bilder, welche einen neuen deutschen Einmarsch in Frankreich ausmalten.

Vor dem Hintergrund vergilbter Fotos von Nazisoldaten unter dem Eiffelturm sah man Sarkozy und seinen Premierminister François Fillon, wie sie an der Grenze standen und deutschen Panzern zuwinkten: "Willkommen in Fronkreisch!" Seitdem zeigt die Satiresendung an jedem zweiten oder dritten Abend eine Ansprache "des Präsidenten der Republik", welcher "den Franzosen reinen Wein einschenkt" und sie zu Arbeit und Sparen, zu Schweiß und Tränen anspornt. Auf dem Bildschirm erscheint dabei aber nicht die Puppe Nicolas Sarkozys, sondern jene Angela Merkels, die in gebrochenem Französisch die Bevölkerung des Landes anraunzt und stets mit dem unvermeidlichen Refrain (auf Deutsch) "Arbeiiiit! Arbeiiiit!" endet.

Die deutsche Exportmaschine und Niedriglöhne

Den Hintergrund für diese Form der Kritik, welche an historische Erinnerungen anknüpft und diese wachrüttelt, steht die Rolle Deutschlands als ökonomischer Führungsmacht des Kontinents. Auf wirtschaftlicher und namentlich industrieller Ebene steht das Land heute wesentlich besser dar als fast alle anderen Staaten des Kontinents. Dies hat unterschiedliche Ursachen. Zwei davon sind, dass die deutsche Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg von einem "Modernisierungsschock" durch den Wiederaufbau profitieren konnte - während das Kapital in den Westzonen, anders als in der SBZ, nicht enteignet worden war.

Und dass die westdeutsche Wirtschaft in den Jahren und Jahrzehnten darauf schnellere Produktivitätsfortschritte vollzog, da alte Kolonialmächte wie Frankreich und England sich auf ihren billigen Arbeitskräften in den Noch-Kolonien ausruhten und deswegen ihren Produktionsapparat langsamer modernisierten. Als dritter Faktor kam nach 1990 hinzu, dass die deutsche Wirtschaft aus geographischen Gründen viel stärker von der Öffnung des bislang sowjetisch dominierten Osteuropa profitieren konnte.

Die deutsche Exportindustrie funktionierte aus Sicht mancher anderer europäischer Länder wie eine Dampfwalze. Hinzu kam, dass es in Deutschland in den letzten Jahren einen extremen Niedriglohnsektor gegeben hat, welcher jedenfalls in dieser Form in anderen Nachbarländern nicht vorkommt, da es dort einen gesetzlichen Mindestlohn gibt (in Frankreich beträgt er etwa 1.050 Euro brutto monatlich für eine Vollzeitstelle.)

Diese Feststellung kommt für manche Beobachter in den Nachbarländern überraschend, da man dort Westdeutschland früher eher als "Hochlohnland" kannte. Doch hat die Existenz sehr niedriger Löhne und der ausbleibende Anstieg vieler anderer Einkommen in den letzten zehn Jahren die deutsche Exportmaschine nochmals stärker angetrieben.

"Politik wie unter Bismarck"

Der jüngste Vorschlag von Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Staatshaushalte der einzelnen Mitgliedsländer unter eine europäische Aufsicht zu stellen - um sie am Schuldenmachen zu hindern - wurde in vielen EU-Staaten als Zumutung, ja Bedrohung für ihre Souveränität erlebt. Einzelne sozialdemokratische Prominente spitzten die Kritik vor diesem Hintergrund zu.

Der smarte Anwalt und sozialdemokratische Spitzenpolitiker Arnaud Montebourg sprach etwa von einer "Politik wie unter Bismarck" - welche also auf eine sanfte, aber deutliche Hegemonie über den Kontinent abziele - und einem deutschen "nationalen Egoismus". Letzterer drohe "die Eurozone zu zerstören". Sein Parteifreund, der Pariser Abgeordnete Jean-Marie Le Guen, ging sogar einen erheblichen Schritt weiter und verglich Sarkozys Annäherung an die europapolitische Strategie Angela Merkels mit dem Münchener Abkommen.

Dieses wurde im September 1938 in der bayerischen Hauptstadt zwischen Hitler, dem Franzosen Edouard Dalladier und dem britischen Premierminister Chamberlain abgeschlossen. Es gipfelte in der Preisgabe der Tschechoslowakei gegenüber dem militärischen Expansionsstreben Nazideutschlands.

Als Antwort auf diese Aussprüche, die zumindest im letzten zitierten Fall eher unter die Rubrik Schmähkritik fallen, reagierte das konservative Regierungslager mit einer scharfen Gegenoffensive. So erfand der französische Außenminister Alain Juppé nach der bekannten Xenophobie (Fremdenfeindlichkeit) eine angebliche spezifische "Germanophobie", welcher es entgegenzutreten gelte. Aus den genannten Gründen war es sicherlich nicht humanistische oder weltbürgerliche Fremdenfreundlichkeit, die seine Gegenkritik prägte.

Die französische Linke und nationalistische Untertöne

Ebenso war die Antwort von Premierminister François Fillon, welcher Präsidentschaftskandidat Hollande ultimativ dazu aufforderte, sich von "politischen Entgleisungen" seiner Parteifreunde zu distanzieren, natürlich von politischer Taktik geprägt. Die konservative Presse versuchte, die Debatte um "Germanophobie" zum neuen zentralen politischen Thema hoch zu stilisieren. François Hollande verordnete seinem politischen Lager unterdessen Ruhe in dieser Sache.

Tatsächlich mischen sich bei den Aussprüchen von halblinken Politikern wie Montebourg und Le Guen im Kern berechtigte Einwände gegen deutsche Politik - etwa gegen die Einschränkung der Souveränität von Ländern durch Budgetaufsicht - mit nationalistischen Untertönen. Solche spielten in der französischen Linken aus historischen Gründen nun einmal immer wieder eine Rolle.

Während man in Deutschland, jedenfalls auf der Linken, bei offenem Nationalismus auf die dunklen Seiten der Geschichte wie den preußischen Militarismus und das Naziregime verweist, sind die historischen Hintergründe von französischem Patriotismus und Nationalismus stärker geteilter Natur. Auch Frankreichs Nationalismus ist an extrem hässliche Seiten geknüpft, vom massenhaft verbreiteten Antisemitismus während der Dreyfus-Affäre über die Kolonialkriege bis zu einer starken extremen Rechten heute. Nationalismus oder Patriotismus verweisen jedoch daneben ebenfalls auf Stationen der Geschichte, in denen sich das Volk gegen die Mächtigen erhob - und letztere bei äußeren Schutzmächten Zuflucht suchten.

Nach der Revolution der Jahre 1789 ff. hoffte Noch-König Ludwig XVI inbrünstig auf eine militärische Niederlage der neuen Regierenden, auf dass Europas Monarchien das Königtum in Frankreich wieder in voller Blüte herstellten. Die Machthaber von 1871 suchten den Schutz preußischer Truppen gegen die Commune de Paris. Und auch in der Résistance kämpften Menschen zum Teil aus nationalistischen - neben international motivierten - Gründen gegen jene, die mit den Nazibesatzern kollaborierten. Deswegen haben auch Teile der Linken westlich des Rheins eine relativ starke nationalistische Tradition, die zwar kritikwürdig, aber historisch erklärbar ist.

Parallel dazu spielen aber auch nüchterne taktische Kalküle eine Rolle. Arnaud Montebourg, der im Oktober 2011 bei der innerparteilichen Urabstimmung unter Frankreichs Sozialdemokraten als Bewerber für die Präsidentschaftskandidatur auftrat - er erhielt dabei 17 Prozent der Stimmen -, hat sie dargelegt. In einem Interview für Libération erklärte er im selben Monat, dadurch, dass er das Eintreten für den Schutz sozialer Rechte in der Wirtschaftskrise mit Protektionismus verbinde, schaffe er eine neuartige Stimmenkombination. Durch sein Eintreten für schutzwürdige ökologische Belange könne er etwa Stimmen von den Grünen abziehen, durch seine protektionistische Schiene ziehe er jedoch auch Stimmen "von Gaullisten und aus der extremen Rechten" ab.

Wahlkampftaktisches Links-Rechts-Crossover

Ein gewisses Links-Rechts-Crossover, das ein Eindämmen des Abbaus sozialer Rechte in der Krise mit nationalistischen Tönen verquickt, ist also durchaus einprogrammiert. Und es ist Taktik. Ebenso, wie es Taktik oder Demagogie war, dass Teile der extremen Rechten daraufhin Montebourg dezidiert gegen wirtschaftsliberale Kritik in Schutz nahmen - sie wollten wiederum Stimmen von der Linken abziehen.

Wahrscheinlich hat zumindest insofern der konservative deutsche Journalist Clemens Wergin durchaus Recht, wenn er die Kritik in europäischen Nachbarländern an Deutschland mit jener in der deutschen Gesellschaft an den USA vergleicht. Wer eine dominante Stellung einnimmt, zieht nun einmal diverse Kritik auf sich - vernünftige und unbegründete, nuancierte und Schmähkritik, linke und rechte Ablehnung.

In diesem Kontext mahnte Altbundeskanzler Helmut Schmidt in diesen Tagen die politische Klasse des eigenen Landes zur Vorsicht, indem er sie dazu aufforderte, auf "deutsche Kraftmeierei in Europa" - im Stile des CDU-Politikers Volker Kauder ("In Europa wird jetzt Deutsch gesprochen") - lieber zu verzichten. Ein gut gemeinter Rat, auch wenn er sich eher auf den Stil denn auf Inhalte bezieht.