Schwarzsehen ist Trumpf

Eine Handvoll nicht sonderlich gewagter Voraussagen auf die Welt in 100 Jahren

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"Ob wir wohl jemals wieder so friedlich zusammen kommen, wie hier im Elfer Jahr?" lautet eine Beschriftung aus dem Jahr 1921 unter einem Foto aus dem Jahr 1911, auf dem sich ein paar Verwandte von mir tummeln, denen ich nie begegnet bin. Die Frage lässt sich, im Rückblick, glatt verneinen.

So friedlich und fröhlich bei einem Glaserl Wein trafen diese Leute nie wieder aufeinander - nicht in den Zwanzigerjahren, nicht in den Dreißigerjahren, und ganz bestimmt nicht in den Vierzigerjahren. Und danach waren sie auch schon bald nimmer auf der Welt.

Das Jahr 1911 ist, von heute aus gesehen, nur wie ein ganz fernes Gebirge in weiter Entfernung, und eigentlich nur unter bestimmten Wetterbedingungen überhaupt wahrnehmbar. Sieht man sich einmal die monatlichen Buchempfehlungen in Telepolis an, kann man davon ausgehen, dass die Zeit der Nazis in Deutschland und in der ganzen Welt, dieser schmale Zeitstreifen von 1933 bis 1945, üblicherweise fast 50 Prozent der Aufmerksamkeit beansprucht. Als läge diese Epoche unmittelbar hinter uns - nur wenige Jahre zurück. Fast so, als hätte sie das gesamte 20. Jahrhundert aufgefüllt. Auch der Erste Weltkrieg, 1914-18, der nun allmählich seinem hundertsten Gedenken entgegendämmert, wird uns vermutlich in den nächsten Jahren wieder häufiger beschäftigen. Aber vorerst kann man noch sagen, dass das Jahr 1911 im historischen Schatten liegt. Wie die Welt vor hundert Jahren aussah, davon haben wir eigentlich keine rechte Vorstellung mehr, und auch dafür, wie sich jene Epoche in Österreich und Deutschland angefühlt hat, ist uns das Gespür verloren gegangen. (Ganz anders als in England die viktorianische Ära, die unvermittelt lebendig im kollektiven Bewusstsein weiterschwärt - als wären beispielsweise Sherlock Holmes oder Jack the Ripper unmittelbare Zeitgenossen von uns heutigen Menschen.)

Majestät braucht Sonne

Ich empfand es daher als echtes Aha-Erlebnis, in Peter Schamonis Doku-Montage, Majestät brauchen Sonne diese aus dem Gedächtnis gestrichene deutsche Kaiser-Zeit in dokumentarischen Filmaufnahmen wieder auferstehen zu sehen. Es gibt Tonaufnahmen, und, ja, Kaiser Wilhelm sprach das handelsübliche Hochdeutsch wie irgendein ganz normaler Zeitgenosse - von uns. Er war keine historische Gestalt aus dem Mittelalter. Aber die Filmaufnahmen waren ohne Ton, und so bleibt einem am Amüsantestem im Gedächtnis, dass Schamoni die ständig um den Kaiser herumwuselnden Dackel ab und zu fröhlich kläffen lässt, und den Personen, die sich da die Hände schütteln, ein raunendes Gemurmel unterlegt, als handle es sich um eine satirische Nummer von Maschek Trotzdem, es ist keine Geschichts-Klitterung, keine Verarschung der damaligen Menschen. Es ist Geschichts-Rekonstruktion, eine bewusste, leicht ironische Präsentation von erhaltenem Material aus der beginnenden Moderne. Aber: Heute, 100 Jahre später, wirkt jene Welt auf uns fast nur noch bizarr, wie eine sinnlose Abfolge absurder Rituale.

Wenn wir uns vorstellen, wie unsere Welt auf jene Menschen gewirkt haben mag (hätten sie eben mal in die Zukunft katapultiert werden können): Der Schock wäre natürlich total gewesen. Die vertikale Zeitreise von 1911 nach 2011 ist eine andere als die horizontale, von Afghanistan nach Deutschland im Jahre 2011, weil eben auch in Afghanistan heute die Hochtechnologie tobt, egal wie rückständig die Gesellschaft in anderen Bereichen sein mag. Selbst in den übelsten Slums der Welt, selbst auf den Müllhalden von Bukarest, trägt die Menschheit heute Bob Marley T-Shirts und Nike-Sneakers.

Damals, 1911, und noch für eine kleine Weile länger, bis ein Jahr vor dem Weltkrieg, 1913, schien die Welt noch "in Ordnung", zumindest in Europa. Kaiser und Könige beherrschten ihre verschiedenen Imperien, und liest man Schilderungen jener Zeit (auch rückblickende Darstellungen, wie in Mechthilde Lichnowskys erstaunlich modern anmutendem Roman Delaïde aus dem Jahr 1935) so wirkt das Ganze geradezu märchenhaft idyllisch. Dass dieses Europa auf Jahrzehnte hinaus in ein unvorstellbares Blutbad, in Hunger, Armut, Unterdrückung, Massenmorden und Massensterben, getaucht würde, wäre damals wohl nur für ausgemachte Schwarzseher vorstellbar gewesen.

Blick in eine dunkle Zukunft

Der Blick von 2011 nach vorn, in die Zukunft, ist selbstverständlich informiert von dieser Erfahrung: Schwarzsehen ist Trumpf. Stehen wir nicht schon wieder unmittelbar vor einem Weltkrieg? Einem Debakel größeren Ausmaßes? Einem Flächenbrand, der sich von Afghanistan auf den Iran, auf Pakistan, auf die arabische Welt, auf Israel, auf die Türkei und schließlich auf ganz Europa ausdehnen könnte? Die Schimäre der "Freiheit im Hindukusch" wird schließlich auch in Deutschland verteidigt werden, ganz real. Ist Obama, dieser so gänzlich farblose "schwarze" PR-Agent im Präsidentenamt, nicht bloß ein blasser Abklatsch jenes bleichen Woodrow Wilson, des unfreiwilligen ersten imperialen Kriegspräsidenten? Wird sich am Ende eines Dritten Weltkriegs Zar Ras-Putin als Gewinner in Europa etablieren - noch als Siebzigjähriger im muskelbetonten T-Shirt auf einem siegreichen Tank reitend, in Berlin einfahrend? Begrüßt von einem zahnlosen Heer unterwürfiger Gaspromisten, genannt Schröder Bratstvo, die im wohlweislich einstudierten vorauseilenden Gehorsam die Begrüßung intonieren: Batuschka Putin, umrem za tebya. (Übersetzung: Ave Putin, morituri te salutant.)

Manche meiner Freunde meinen auch, dass eine große Kalamität auf Europa zukommt - aber, sagen sie, entschlossen optimistisch, erst in 15 Jahren. Ich denke, in 15 Jahren wird sie längst stattgefunden haben, wenngleich vielleicht noch nicht "zu Ende" sein. Auch der Erste Weltkrieg brach wegen einer Bagatelle los - und Englands übereilter Kriegseinstieg 1939 trug mehr zur Ausbreitung als zur Eindämmung des nächsten Kriegsgeschehens bei. Auch heute sehen Englands Konservative klar, dass sie das revolutionäre Potenzial ihres Proletariats möglichst bald wieder in ein Kriegs-Szenario umschleusen müssen, bevor ihnen selber größerer Schaden erwächst. Dass sie dabei fortschreitend das britische Imperium zuschanden geritten haben, vom einstigen Großbritannien zum heutigen Little Britain, ist ihnen natürlich schnurz. Hauptsache, sie bewahren sich ihre Pfründe. Der sinnlose Kriegseinstieg im Irak, an der Seite des Großen Bruders USA, hat das Land heute an den Rand des wirtschaftlichen Ruins gebracht - aber trotzdem gilt es, jetzt möglichst rasch wieder den nächsten Konflikt vom Zaun zu brechen.

Und wie schnell man alles vergisst! Der Erste Weltkrieg verursachte (ebenso wie der Zweite) unsägliches Leid und den Tod von Abermillionen Menschen. Allein in der Schlacht an der Somme kamen rund eine Million Soldaten ums Leben, Engländer, Franzosen, Deutsche. Bereits in der ersten halben Stunde des ersten Tages waren 8.000 britische Soldaten getötet worden. Dieser erste Juli 1916 gilt als der verlustreichste Tage in der Geschichte aller britischen Kriege überhaupt. Aber die Spuren dieser Schlachten und Kriege sind vom Winde verweht, die 20 Millionen Grippe-Toten, die 1918 und danach dahin gerafft wurden, sind vergessen, die Millionen von Kriegskrüppeln sind in der Zwischenzeit längst in ihre Gräber gesunken. Dass so etwas in Europa stattfinden konnte, ist aus dem Bewusstsein getilgt. Selbst die bestialischen Schlächtereien des Jugoslawienkrieges am Ende des 20. Jahrhunderts sind bereits "aus den Augen, aus dem Sinn". Die Gefahr, dass so etwas jederzeit wieder passieren könnte, dass ganz Europa wieder in einem schwelenden Flächenbrand aufgerollt, dass Land und Leute in Schutt und Asche gelegt werden könnten, gilt als irreal, unwahrscheinlich, unvorstellbar. So unvorstellbar wie 1911 der Erste Weltkrieg.

Die Zeit der Pferde

Ein seltsamer Fakt: Der Zweite Weltkrieg wurde mit Pferden geführt, auch wenn die Kriegsmaschinerie heute gerne als maschinengetrieben dargestellt wird. Und ebenfalls seltsam: Obwohl heute in Deutschland Maschinen in allen Bereichen den Ton angeben, gibt es dennoch mehr Pferde im ganzen Land als zur Zeit des Weltkriegs. Auch der nächste Weltkrieg wird, wo er in Deutschland stattfindet, mit Pferden angetrieben werden. Grund: Statt der technologischen Aufrüstung wird es zum Technologie-Kollaps kommen. Es wird wieder eine Zeit der Pferde kommen. Stellt man sich das gesamte vorderasiatische und europäische Kriegsgeschehen auf einer Landkarte, wie in Westermanns Atlas zur Weltgeschichte vor, wird man wohl, wie ehedem, die gleichen geografischen Umrisse erkennen, die einst "Arabien", "Perserreich", "Reich der Awaren", "Reich der Westgoten" beschriftet waren. Aber nun wird man auch schwarze Flecken auf der Karte sehen, als hätte jemand mit einer glühenden Zigarette Löcher ins Papier gebrannt. Dies werden die Todeszonen sein, die Fukushimas und Tschernobyls Europas, Resultat der mit konventionellen Sprengköpfen gezündeten atomaren Massenvernichtungswaffen, die ganze Landstriche unbewohnbar machen. Der Nobelpreis wird ausgesetzt.

Meine technologisch orientierten Freunde sehen den großen Angriff auf den inneren Feind: Facebook vereint mit CIA, Handy-Überwachung mit Bewegungsmelder, Polizeitechnologie, hochgerüstet. Ich sehe eher den Kollaps des Internets, denn das Internet funktioniert mit Satelliten-Technologie, und ich vermute in einem größeren Kriegsszenario wird es keine Mittel mehr geben für Satelliten, die keinem direkt militärischen Zweck dienen. Peak Oil - der Zenit des frei verfügbaren Ölkonsums - kann überschritten werden; muss aber nicht der Auslöser sein. Schon im nächsten Jahr könnte ein europäischer Währungskollaps den Stillstand des gesamten international ausgerichteten Wirtschaftsgefüges bewirken. Wenn Europa nichts kaufen kann, kann es auch nichts verkaufen und die Wirtschaft legt eine quietschende Vollbremsung hin. Europas millionenfach überalterte Bevölkerung stirbt in einem einzigen Winter ohne Heizung, Nahrungsmittel, Medikamente. Und es wird nicht genügend Arbeitskräfte geben, um die steifen Kadaver aus den Wohnungen und in die Gräber zu zerren.

Die deutsche Jugend, die jetzt noch geschmäcklerisch am Militärdienst mit der Waffe mäkelt, wird in marodierenden Horden durch die Landschaft streichen und einen Hauch von "Dreißigjährigem Krieg" verbreiten. Öko-Terroristen werden das komprimierte Methan des Schwarzen Meeres mit einer einzigen gezielten Unterwasser-Explosion durch ein "Wurmloch" in die Atmosphäre jagen, und halb Bulgarien und Rumänien von der Karte löschen. Die Deiche Hollands werden geflutet, und im Laufe der nächsten 100 Jahre wird auch der Pegel der Ostsee steigen und den Großteil des heutigen Ostdeutschlands dauerhaft in eine Sumpflandschaft verwandeln. Aachen wird wieder am Meer liegen. Stechmücken, bereits jetzt bis in die Weihnachtszeit in Mitteleuropa unterwegs, werden Europa das ganze Jahr über heimsuchen. Neue Krankheiten werden sich ausbreiten, gegen die man keine Mittel findet.

Stechmücke, November 2011, Österreich. Ein winterlicher Dauergast? Foto: F. Waidacher.

Eine moderne Hallstein-Kultur

Vor einigen Tagen kaufte ich in einem Laden, der hier in der Stadt, in der ich lebe, an die städtische Müllverwertung angeschlossen ist, einen "Walkman" aus den Achtzigerjahren. Es ist ein Gerät etwa von der Größe einer 50-Gramm-Tabakspackung, aber schwerer, und es funktioniert nach wie vor ausgezeichnet. Es spielt in seinem Innern Audio-Kassetten ab. Die Stromversorgung geschieht über zwei AA-Batterien. Man steckt einen Kopfhörer an (in meinem Fall ein etwas lädiertes 250-Dollar Bose-Teil) und schon ist man für circa 4 Stunden stereofon musikalisch mobil. Etwas kurios, das Ganze, aber man kann sich auf diese Weise ein echtes Achtzigerjahre-Feeling "geben", eine historische Erlebniswelt nach-stellen und nach-empfinden. Das digitale Zeitalter wird man in weiteren 30 Jahren auf ähnliche Weise nur mit Hilfe von Experten noch einmal entschlüsseln können. Unsere Zeit wird Brandgräber hinterlassen, aber keine leicht und dauerhaft lesbaren Artefakte. Bereits jetzt verständigen sich unterschiedlich alte Computersysteme untereinander nur mühsam und einen Apple Classic oder ein Windows 98 findet man schon heute nur noch mit nicht unbeträchtlichem Aufwand. Wer seine Fotos auf einer Floppy gespeichert hat, kann sie in den Wind schreiben1, und wer 600 Romane auf seinem Kindle hat, wird sie in 10 Jahren nirgends mehr lesen können.

Einer der Gründe, warum der Zweite Weltkrieg und die gesamte Nazi-Zeit in Deutschland bis heute so minutiös recherchiert und im Spiegel dauerhaft und nachhaltig immer wieder aufbereitet werden können, ist, dass man damals tatsächlich jeden Schritt irgendwo schriftlich, auf Papier, fixierte, dokumentierte oder autorisierte. Und die Kriegswirtschaft konnte fast bis zum letzten Kriegstag funktionieren, weil im Lande selbst das hergestellt wurde, was im Lande gebraucht wurde. Der Unterschied zu heute ist sofort einsichtig: Die digitale Datenmenge (gleichgültig, wie umfassend sie sein mag) kann mit einem einzigen Knopfdruck gelöscht werden. Und wenn der Produktionsprozess an irgendeiner Stelle gestoppt wird, bei dem eine "neue Motorengeneration in einem faszinierenden weltweiten Zusammenspiel" entstehen soll dann stehen die Räder eben still. Wenn deutsche Fischer in ihrer Existenz durch den Ramadan in Marokko bedroht sind oder wenn die Olive in Griechenland gepflückt, in Malaysia entkernt, und in Portugal mir dem Paprika versehen wird, dann kollabiert der ganze Prozess, sobald z. B. das Öl für den Transport fehlt oder so teuer wird, dass der Transport unökonomisch wird. Frage: Wie kommt der Kunde dann zu seiner Olive? Antwort: Gar nicht mehr.

Das Zicklein mit der Bombe

Was den Rest der Welt betrifft: Ich habe ja immer gedacht, das Israel-Problem sei ganz einfach zu lösen: Israel wird, wie Puerto Rico, ein Staat der USA. Die Amerikaner stellen ihre Waffen auf, alle Bewohner Israels werden Bürger der USA. Ob Juden, Araber, oder Gojim, sie ziehen nach Denver oder San Antonio, wie es ihnen Spaß macht. Sie vermieten ihre Hütte in Tel Aviv an amerikanische Touristen aus dem kalten Montreal oder Fairbanks, Alaska. Ansonsten wird sich das Ganze aus dem Bible Belt finanzieren, fromme Pilger aus dem Süden der USA besuchen die heiligen Stätten, und auch Touristen aus anderen (moslemischen!) Ländern dürfen Jerusalem besuchen, wenn sie es schaffen können, an den strengen amerikanischen Body Scans vorbeizukommen. Mittlerweile halte ich dieses Szenario für überholt. Es hätte eine Chance gehabt, als Amerika noch eine wirtschaftliche und militärische Weltmacht war. Heute ist Israel (wie Kuba nach dem Rückzug der Russen) ein angepflocktes Zicklein im Land der Bären und Wölfe. Nur eben - wehe dem Bären, der sich da herantraut. Auch die Wölfe werden ihre Zähne im weiten Umkreis verstreut finden.

Die Gelbe Gefahr

Der Ausdruck, "die Gelbe Gefahr" stammt angeblich von Kaiser Wilhelm. Er befürchtete, die Japaner oder Chinesen würden irgendwann einmal die Weltherrschaft antreten - wollen. Jetzt, 100 Jahre später, erinnert in Tsingtao nur noch das Bier an die damaligen deutschen Weltherrschaftspläne. Es ist klar, dass das oberste Parteigremium Chinas sich Gedanken macht, wie es weitergehen soll mit dem Land, wenn demnächst die Weltwirtschaft einknickt und ganz China nur noch Mist für die internationalen 2-Dollar-Shops herstellt? Was wird China mit seinem Überschuss von 250 Millionen jungen Männern anfangen, für die es keine Frauen im Lande gibt? Das Beste wäre, aus ihnen eine Landbrücke nach Taiwan bauen zu lassen, eine Brücke über das Meer, gebaut aus menschlichen Körpern. Genau so gut wäre es, einfach den Australiern ihr Land abzukaufen und die derzeitigen Australier alle nach Tasmanien umzuladen. Australien ist flach, perfekt für den Reisanbau. Wenn man nur irgendwo das Wasser dafür auftreiben könnte.

Genau so gut könnten die jungen Chinesen auch nach Afrika gehen, wo sich China bereits sehr aktiv tummelt. Eine chinesisch-afrikanische Mischbevölkerung - unvorstellbar in China selbst - könnte sich in mehrfacher Millionenhöhe in 100 Jahren in Afrika etabliert haben. Ihre Macht wird auf ihrem ökonomischen und technologischen Vorsprung beruhen, und auf der Verbindung zur chinesischen Heimat. In diese zurückzukehren wird den meisten dieser Menschen verwehrt freilich bleiben.

Schon jetzt stellen die in China selbst wenig begehrten und daher in großer Zahl zur Adoption nach den USA freigegebenen chinesischen Mädchen einen substanziellen Bevölkerungsblock in Amerika dar, der auf die zukünftige Bevölkerungspolitik einen wichtigen Einfluss ausüben wird. Da die Mädchen meistens in wohlhabenden weißen Familien aufwachsen, machen sie sich die Ansichten ihrer Klasse zu eigen, suchen sich aber zum Heiraten und Kinderkriegen nicht selten die vielversprechendsten Partner aus einem ethnischen Milieu, das der eigenen Genom-Komposition näher liegt. Die amerikanisch-asiatische Mischbevölkerung wird zweifellos im Laufe der nächsten 100 Jahre den Zuwachs der hispanischen (aus Lateinamerika und Mexiko heraufziehenden) Bevölkerung überrunden. Auch der Genom-Faschismus, bei dem jeder seine Karte kriegt, kommt in den USA bestimmt. Die Leute werden mit ihrer genetischen Karte daherkommen - du hast die Blaue, ich die Rote, und die Zahlenkombinationen passen auch. Aber manche Leute haben die Gelbe - oops, Pech gehabt. Ein spannendes Szenario.

Im Endeffekt, denke ich, wird sich in circa 100 Jahren die gesamte Bevölkerungszusammensetzung der USA verändert haben: eine Milliarde Menschen - die Hälfte davon Asiaten, ein Viertel Hispanics und das restliche Viertel Weiße und Schwarze, jeweils zur Hälfte. Die heute euphemistisch als "eingeborene Amerikaner" bezeichneten Indianer werden unter einem neuen Namen ("frühe Asiaten in Amerika", mit einem entsprechenden chinesischen Kürzel) zu verehrten Altvordern aufrücken, mögen sie auch noch so gering an der Zahl sein. Die asiatischen Sprachen - Koreanisch, Japanisch, Vietnamesisch, Chinesisch - werden in Amerika die amerikanische Sprache beeinflussen, aber das solcherart veränderte Englisch wird immer noch die Lingua Franca aller Amerikaner sein. Das einsprachige Amerika unserer Tage wird jedoch der Vergangenheit angehören, weil Einsprachigkeit eine gesellschaftliche Gettoisierung mit sich bringen wird. Auf den riesigen Reisfeldern der USA werden Import-Sklaven arbeiten. Aber sie werden in den USA ohne persönliche Rechte bleiben. Trotzdem werden sie sich auch ohne Genomkarten vermehren und eine stets wachsende Bevölkerungsgruppe darstellen.

China selbst, das "Herzland", wird vermutlich von ähnlichen Brandlöchern übersäht sein wie Europa und die weiten Fluren Russlands. Von Erdbeben zerstörte Stauanlagen, die riesige Landflächen verwüstet haben, industriell verseuchte "Bitterfelder", gigantische Stadtruinenfelder, in denen niemand wohnen kann, die aber dennoch von Abertausenden verlotterter Slumbewohner besiedelt werden. Methanwüsten, in denen man keinen Atemzug mehr tätigen kann, unbewohnbare Mondlandschaften. Radioaktiv verseuchte Stätten ehemaliger AKWs und aus der Erde hervorgedrungener Plutoniumbäche.

Wird noch jemand Auto fahren?

Damals, 1911, rannten die Kinder auf der Straße zusammen, wenn mal ein Auto vorbeikam oder in ihrer Straße hielt. Das wird in 100 Jahren nicht anders sein. Man wird noch hin und wieder ein Benzin-Fahrzeug fahren, aber sonst wird Benzin in Parfümfläschchen zu abenteuerlichen Preisen gehandelt werden. Autos werden von Millionären für die Hochzeit ihrer Töchter bestellt. Die Fahrt zur Kirche und zum Veranstaltungsort des Hochzeitsmahles wird so viel kosten wie ein gehobener Mittelklassewagen heute. Man wird Fahrrad fahren. Man wird mit Pferdekutschen fahren. Man wird Eisenbahnen haben. Es wird alles ein wenig aussehen wie die dystopischen Fantasien einiger Filmemacher aus dem 20. Jahrhundert - eine Rückkehr in den Wilden Westen um 1880.

Immerhin, ich vermute Neufundland wird wieder seinen Kabeljau haben, aber er wird verstrahlt sein, ungenießbar. Doch das wird den Eisbären und Braunbären, die sich dort tummeln werden, egal sein. Einige Länder wie Brasilien werden vielleicht einen Lebensstandard haben wie heute - zwei Milliarden Slum-Bewohner und einige Gated Communities in denen Schöngeister das literarische Genie eines José Saramago abfeiern werden. Die Amazonas-Wüste wird gelegentlich von grauenvollen Sturmfluten heimgesucht werden - in Erinnerung daran, dass hier einst ein Regen-Wald stand. Doch zum größten Teil wird auch dieses Land an Trinkwassermangel leiden. Ebenso, wie es in Europa und der übrigen Welt keine Gletscher mehr geben wird. Selbst das Himalajagebirge wird ohne Schneekuppen sein. Coca Cola wird zu ähnlichen Preisen gehandelt werden wie Benzin. Und es wird, letzten Endes, nicht sehr viel anders schmecken.

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