Machtkampf um den Euro 2.0

Kanzlerin Merkel will den EU-Vertrag ändern, um strikte Budgetdisziplin in der Eurozone zu erzwingen. Doch ausgerechnet EU-Ratspräsident Van Rompuy hält dagegen, Englands Premier Cameron will sogar wie eine Bulldogge kämpfen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Als Pandora ihre Büchse öffnete, kam das Böse in die Welt, aber auch die Hoffnung. So ähnlich könnte es mit der Öffnung des EU-Vertrags gehen, die Bundeskanzlerin Angela Merkel beim EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag erzwingen will. Merkel verbindet damit die Hoffnung, den Euro-Stabilitätspakt rechtsverbindlich in allen 17 Euro-Staaten zu verankern und so das Vertrauen der Bürger und der Märkte wiederherzustellen. So jedenfalls die offizielle Darstellung.

Die Rolle des Bösewichts soll in Merkels Drehbuch der britische Premier David Cameron spielen, der bereits Widerstand gegen eine Vertragsänderung angekündigt hat. Cameron soll als Blockierer und Erpresser bloßgestellt werden. Wenn er trotzdem nicht spurt, will Merkel, unterstützt von ihrem Juniorpartner Nicolas Sarkozy, eine Vertragsänderung für die Eurozone herbeiführen - zur Not über den zwischenstaatlichen (also nicht EU-weiten) Vertrag über den neuen Euro-Rettungsschirm ESM.

Allerdings laufen die Vorbereitungen zum Euro 2.0, in dem Budgetdisziplin Verfassungsrang erhalten soll, Solidarität indes klein geschrieben wird, nicht nach Plan. Ganz im Gegenteil: Seit Merkels Durchmarsch beim Treffen mit Sarkozy in Paris läuft fast alles schief. Erst zerstörte die Ratingagentur Standard & Poor's die Hoffnung, die Märkte und ihre Sprecher würden den "Merkozy"-Deal in Paris ungeprüft schlucken. S&P drohte, noch während Merkel und Sarkozy im Pariser Elysée-Palast beim Mittagessen zusammensaßen, mit einem Downgrading der gesamten Eurozone, Deutschland eingeschlossen.

Dieses Störmanöver, das offenbar bewusst zum Treffen des deutsch-französischen Direktoriums gestartet wurde, konnte Merkel zwar noch für ihre Zwecke nutzen. Seht her, die bösen Amerikaner machen Druck, ihr müsst meinen Plan sofort und bedingungslos beschließen, war ihre - geschickt über die Medien gesteuerte - Botschaft. Doch dann kam ihr ausgerechnet Herman Van Rompuy in die Quere - der EU-Ratspräsident, der beim letzten, auch damals schon "finalen" Euro-Rettungsgipfel beauftragt worden war, Vorschläge für eine neue Euro-Reform auszuarbeiten.

Eine Vertragsänderung sei gar nicht nötig, man könne auch das Protokoll Nr. 12 des Lissabon-Vertrags modifizieren und so die mühselige Ratifizierung eines neuen Vertrages umgehen, heißt es in seinem Vorschlag, der von der Financial Times geleakt wurde. Vermutlich dachte Van Rompuy, seiner Chefin Merkel damit einen Gefallen zu tun. Schließlich waren seine Vorschläge mit allerlei Folterinstrumenten für "Schuldensünder" gespickt - bis hin zum Verlust der Stimmrechte im Ministerrat, wie sie bisher nur FDP und CSU gefordert hatten.

Doch Merkel fand Van Rompuys Ideen gar nicht lustig; schließlich versucht sie seit Beginn der Schuldenkrise, ihren Kurs als alternativlos darzustellen. Der EU-Vertrag müsse auf jeden Fall geändert werden, ließ sie ihre Berater am Mittwoch verkünden, einen "Griff in die Brüsseler Trickkiste" werde es mit Deutschland nicht geben.

Ob Van Rompuy damit erledigt ist, oder ob er doch im Namen aller 27 EU-Staaten spricht (so seine offizielle Aufgabe), wird sich wohl erst beim Gipfel zeigen, der am Donnerstagabend beginnt. Widerstand gegen Merkels "Diktat" gibt es unter anderem aus dem Europaparlament, aus Tschechien und aus Schweden. Im EU-Parlament versucht Liberalenchef Guy Verhofstadt, eine "föderalistische" Abwehrfront aus den Benelux-Staaten, Italien und Polen zu organisieren. In Tschechien und Schweden sorgt man sich vor allem wegen möglicher Referenden, die bei einer Vertragsänderung nötig werden könnten - also vor dem eigenen Volk.

Und dann ist da natürlich noch Cameron, Merkels Lieblingsgegner. Er hat bereits angekündigt, mit dem Kampfgeist einer Bulldogge auf den Gipfel steigen zu wollen. Angefeuert von der Londoner "Times", die Europa im "Krieg" mit Deutschland wähnt, und von den EU-skeptischen Abgeordneten in den eigenen Reihen, will er Merkels Vertragsänderung nutzen, um neue Privilegien für UK herauszuschlagen. Zwar rückte er noch nicht mit Deals heraus; vermutlich will er aber erreichen, dass sein Land ein Vetorecht bei neuen Finanzmarktgesetzen der EU erhält. Im Klartext: Cameron möchte die Londoner City schützen - zum Beispiel gegen eine neue Finanzmarktumsatzsteuer, wie sie Merkel plant.

Dies wiederum ruft Luxemburg auf den Plan, das auch ganz gut von der Finanzbranche lebt und keine Extrawurst für London dulden möchte. Regierungschef Jean-Claude Juncker, der zugleich auch die Eurogruppe leitet, sagte:

Ob zu 27 oder zu 17: Wir sollten keine Felder aufmachen, auf denen sich Großbritannien losgelöst von der Gesamtdisziplin in Europa bewegen sollte. Zum Beispiel ist es nicht denkbar, dass wir innerhalb der Eurozone Regelungen zu Finanzdienstleistungen finden und dass London in Sachen Finanzdienstleistungen machen könnte, was im Interesse der City wäre und was sich nachteilig für andere Finanzzentren in Europa, darunter auch Luxemburg, auswirken würde.

Was soll und kann die EZB machen?

Womit wir wieder bei der Büchse der Pandora wären. Merkel hat mit ihrem Vorstoß für eine Vertragsänderung viel böses Blut geschaffen, so dass der EU-Gipfel doch noch scheitern könnte. Bisher ist nicht einmal sicher, ob die 17 Euroländer mitziehen - was Merkel zur nicht verhandelbaren Bedingung gemacht hat. Sicher ist hingegen, dass kaum jemand die Hoffnung der Kanzlerin teilt, mit strengen, in Stein gemeißelten Budgetregeln allein werde sich die Eurokrise lösen lassen. Ohne eine massive Intervention der EZB am Anleihenmarkt, davon sind die meisten Experten überzeugt, werde sich die Krise im Gegenteil weiter verschlimmern.

EZB-Chef Mario Draghi hat zwar schon angedeutet, dass er sich ein offensiveres Vorgehen vorstellen könne. Wenn die EU auf ihrem Gipfel einen "financial compact" beschließe und auch umsetze, so Draghi letzte Woche im Europaparlament, werde sich auch sein Haus bewegen. Doch dem widersprach sofort der frühere Europa-Berater Merkels und heutige Bundesbank-Chef Jens Weidmann. Massive Anleihekäufe aus Krisenstaaten wie Italien dürfe es nicht geben, so der deutsche EZB-Hardliner. In Brüssel zweifelt kaum jemand daran, dass Merkel genauso denkt.

Draghi kann also wenig tun, wenn er keinen Streit mit Deutschland riskieren will. Bestenfalls könnte er heute den Leitzins senken, um seinen guten Willen zu signalisieren. Massive Stützungskäufe zugunsten Italiens oder Spaniens, wie sie unter anderem Frankreich, Großbritannien und die USA wünschen, sind jedoch vorerst tabu. Die EZB ist, wegen des deutschen Widerstands, zu Untätigkeit verdammt.

Ändern könnte sich dies erst, so hoffen die Brüsseler EU-Watcher, wenn Merkels neuer EU-Vertrag in Kraft tritt und der Euro 2.0 Gestalt annimmt. Dann könnte die EZB endlich offensiver gegen die Eurokrise vorgehen - mit stillschweigender Zustimmung der Kanzlerin. Allerdings dürfte dies frühestens im März 2012 der Fall sein - falls sich Merkel beim EU-Gipfel durchsetzt. Möglicherweise ist es dann aber auch schon zu spät - denn die Eurokrise kann jederzeit außer Kontrolle geraten. Der Crash der belgischen Bank Dexia im Oktober und die konzertierte Intervention der großen Zentralbanken auf dem Geldmarkt im November haben gezeigt, wie ernst die Lage ist.

Offenbar glaubt selbst Merkel nicht mehr recht daran, dass ihr Vertragsänderungsplan für Ruhe sorgt: Schon in der kommenden Woche soll der Bankenrettungsfonds Soffin reaktiviert werden. Eigentlich war er nach der Finanzkrise 2008 ad acta gelegt worden. Jetzt soll er wiederauferstehen - in derselben Größenordnung wie 2008. Was den Schluss nahelegt, dass man in Berlin damit rechnet, die Eurokrise könne genauso schlimm werden wie die Finanzkrise vor drei Jahren.

Die Büchse der Pandora wurde der Legende nach übrigens zu kurz geöffnet. Das Böse konnte zwar schnell entweichen, doch die Hoffnung kam erst später raus, beim zweiten Versuch. Da war es schon zu spät - die Welt war schlecht geworden.