Telekommunikationsüberwachung wird grenzenlos

Polizeien und Geheimdienste aller EU-Mitgliedstaaten wollen künftig grenzüberschreitend Überwachungsmaßnahmen durchführen. Auch der gegenseitige Zugriff auf Vorratsdaten wird geregelt

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Von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet verhandeln die 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union über die zukünftige Aushilfe bei Ermittlungsverfahren. Zur Debatte steht eine Richtlinie über die Europäische Ermittlungsanordnung (EEA), die eine Zusammenarbeit über EU-Grenzen hinweg erleichtern soll. Das Abkommen geht auf eine Initiative der Regierungen Belgiens, Bulgariens, Estland, Spaniens, Österreich, Sloweniens und Schwedens zurück. Ein entsprechender Entwurf wurde bereits letztes Jahr im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht. Seit Montag liegt eine überarbeitete Fassung vor.

Die Europäische Ermittlungsanordnung soll festlegen, unter welchen Bedingungen die Verfolgungsbehörden eines Mitgliedstaats Zwangsmaßnahmen in einem anderen Staat anordnen können. Ebenso wird geregelt, aus welchen Gründen die Maßnahme vom "Vollstreckungsstaat" zurückgewiesen werden darf. Bei der EEA geht es etwa um Hausdurchsuchungen, Beschlagnahme, die Überstellung von Personen oder um das Ausspähen von Bankkonten. Auch der Einsatz verdeckter Ermittler oder sogenannte "kontrollierte Lieferungen", darunter polizeilich observierte oder vorgetäuschte Drogendeals, werden erfasst.

Im neuen Abkommen soll der als typisches Kennzeichen der Europäischen Union geltende "Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung" auch in in Zivil- und Strafsachen umgesetzt werden. Hierzu gehören der Ausbau direkter Kontakte zwischen den Justizbehörden, die Verwendung einheitlicher Formblätter, eine Ausweitung der Zusammenarbeit auf immer mehr Gebiete, eine Begrenzung der Versagungsgründe sowie die Vereinbarung von Fristen, innerhalb derer ein Ersuchen erledigt werden muss.

"Reparatur" früherer Regelwerke

Zwar findet bereits zwischen einzelnen Ländern eine teilweise gut entwickelte Zusammenarbeit in Strafsachen statt. Grundlegend sind hierfür entweder bilaterale Verträge, das EU-Rechtshilfeübereinkommen aus dem Jahr 1959 bzw. dessen Zusatzprotokolle sowie das Schengener Durchführungsübereinkommen von 1990. Jedoch nehmen längst nicht alle EU-Mitgliedstaaten an den Regelwerken teil, die überdies für den ersuchten Staat nicht immer verbindlich sind.

Bereits 2008 hatte es den Versuch gegeben, mit einer Europäischen Beweisanordnung (EBA) die grenzüberschreitende Amtshilfe weiter zu standardisieren. Das Abkommen wurde indes kritisiert, da es weite Teile der justiziellen Zusammenarbeit ausgespart hatte: Etwa die Durchführung körperlicher Untersuchungen oder die Entnahme von biometrischen Daten, die Überwachung des Telekommunikationsverkehrs, verdeckte Überwachungsmaßnahmen, die Überwachung von Kontobewegungen, Untersuchungen von Schriftstücken oder die Übermittlung von Vorratsdaten. Die Europäische Ermittlungsanordnung wird nun als eine Art "Reparatur" der unzureichenden Europäischen Beweisanordnung ins Rennen geschickt.

"Zurückweisungsgründe" werden weiter beschränkt

Die Aufnahme grenzüberschreitender Spitzelei in das zukünftige gemeinsame Regelwerk hatte bereits für hektische Reaktionen der deutschen und britischen Delegation in Brüssel geführt: Befürchtet wurde, dass die klandestine grenzüberschreitende Infiltration womöglich stärker juristisch oder öffentlich kontrolliert werden könnte (Polizeispitzel belügen Staatsanwaltschaften und Gerichte).

Jetzt erhitzt die grenzüberschreitende Telekommunikationsüberwachung die Gemüter. Dabei geht es sowohl um die Herausgabe bereits vorliegender Verkehrs- und Standortdaten aus der Vorratsdatenspeicherung (sogenannte "historische Daten"), als auch um Maßnahmen in Echtzeit.

Bereits im Juni hatten die EU-Justizminister eine Einigung über weitgehende Teile der EEA herbeigeführt. Unter anderem wurde die Kostenregelung bestimmt: Alle Ausgaben im Hoheitsgebiet des "Vollstreckungsstaats" werden von diesem getragen. Dass dies regelungsbedürftig ist, hatte kürzlich eine bekanntgewordene Überwachung deutscher Server auf Geheiß Schweizer Polizisten gezeigt: Bayern und die Schweiz hatten nach Abschluss der Überwachung linker Aktivisten gestritten, wer die Kosten hierfür tragen solle (Landeskriminalamt Bayern schnüffelt mit DigiTask für Schweizer Polizei).

Die strittigen Punkte zur Telekommunikationsüberwachung werden nun in den Artikeln 27b und 27d geregelt. Dort wurde unter anderem ein sogenannter "ergänzender Erwägungsgrund" verankert, der den ersuchten Behörden erweiterte "Zurückweisungsgründe" einräumt. Zwangsmaßnahmen dürfen nur dann abgelehnt werden, wenn eine entsprechende Maßnahme den Polizeien oder Geheimdiensten "in einem vergleichbaren innerstaatlichen Fall nicht genehmigt" werden würde. Der "Vollstreckungsstaat" darf seine Zustimmung "von der Erfüllung jeglicher Bedingungen" abhängig machen.

Festgelegt wird ebenso, welche standardisierten Angaben zur Identifizierung der Zielperson gemacht werden müssen, wie lange die Überwachung dauern soll und auf welche Art und Weise die Daten ausgeleitet werden sollen. Möglich sind hierfür zwei verschiedene Verfahren: Entweder die direkte Übertragung an ersuchende Polizeien oder Geheimdienste anderer Regierungen, oder aber die "Überwachung, Aufzeichnung und anschließende Übermittlung des Ergebnisses der Überwachung des Telekommunikationsverkehrs an den Anordnungsstaat".

Zusatzkosten für Entschlüsselung

Die offenen Fragen wurden am 2. Dezember 2011 auf "Expertenebene" diskutiert und zuletzt am Mittwoch auf dem Rat der Justizminister in Brüssel erörtert. Italien trägt etwa vor, dass die Telekommunikationsüberwachung ein "heißes Eisen" sei. Auch Schweden mag sich nicht mit dem gegenwärtigen Entwurf abfinden: Schwedische Gesetze differenzieren nicht zwischen dem Abhören von Telekommunikation in Echtzeit oder der Herausgabe von auf Vorrat gespeicherten Verbindungsdaten. Aus diesem Grund wurde auch die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung bislang nicht implementiert.

Einige Delegationen machen geltend, dass die Verpflichtung zur Amtshilfe weitreichende Konsequenzen für Telefonprovider hat: Ihnen könnten weitere Kosten entstehen, wenn zukünftig mit ausländischen Behörden zusammengearbeitet werden müsste. Diensteanbieter werden zur "technischen Hilfe" bei der Überwachung der "öffentlich zugänglichen Telekommunikationsnetze und -dienste" angehalten. Unklar ist ebenso, ob die Mehrausgaben der Telekommunikationsanbieter von den nationalen Regierungen oder aus EU-Töpfen bestritten werden. Tatsächlich wurden die erwarteten Kosten nie vorher analysiert. Großbritannien forderte deshalb, die Telekommunikationsüberwachung ebenso wie verdeckte Ermittlungen aus der EEA herauszunehmen.

Kompliziert wird eine Überwachungsmaßnahme auch dann, wenn Telefone genutzt werden, deren Provider weder im anordnenden noch im durchführenden Staat angesiedelt sind. In diesem Fall muss auch dieser dritte Staat von der Maßnahme unterrichtet werden, auch wenn "dessen technische Hilfe nicht erforderlich ist".

Eine weitere Klausel wurde für erwartete Zusatzkosten eingebaut. Die Anordnungsbehörde kann etwa um "eine Transkription, eine Dekodierung oder eine Entschlüsselung der Aufzeichnung ersuchen". In diesem Fall müssen die Kosten aber vom anordnenden Staat übernommen werden.