Warum ich mir Hörbücher ... äh ... reinpfeife

Literaturerlebnisse jenseits von Fahrenheit 451

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"Hörbücher? Nein, danke. Das erinnert mich irgendwie immer an Fahrenheit 451", meint ein Freund, als ich ihn auf das Thema anspreche. Das Thema in diesem Fall: Audiobücher. Der Freund ist Physiker, Österreicher, und natürlich Oskar Werner-Fan. Das erklärt seine Haltung in der Sache, denke ich, obwohl er wahrscheinlich auch bloß den Film gesehen hat.

Ja, das war jetzt ein Witz. Ein schmächtiges Witzlein, ich weiß, das nicht unbedingt besser wird, wenn ich es jetzt auch noch erläutern muss. Allerdings, ohne Erklärung, bleibt der Witz überhaupt unverständlich. Also denn: die Geschichte, Fahrenheit 451, ist ein Science Fiction-Roman von Ray Bradbury aus dem Jahr 1953. Es geht darin um eine negative Utopie, um eine zukünftige Welt, in der Bücher verboten sind, bzw aktiv verbrannt werden. Fahrenheit 451 ist eine amerikanische Temperaturangabe, entsprechend 233 Grad Celsius, die im Roman als diejenige Temperatur genannt wird, bei der Papier spontan zu brennen beginnt.

Fahrenheit 844

Auch das gilt heute offenbar als unterhinterfragtes Faktum, weswegen ich an dieser Stelle anmerken darf, dass Bradbury natürlich, wie bei einem supereiligen amerikanischen Sci-Fi-Autor nicht anders zu erwarten, Fahrenheit und Celsius schlicht und einfach verwechselt hat. Das Buch müsste eigentlich 451 Grad Celsius heißen.

Egal - es geht jedenfalls darum, dass papierene Bücher offiziell verbrannt werden, und das ist eben auch das Thema in dem Truffaut-Film aus dem Jahr 1966, in dem Oskar Werner die Hauptrolle spielt. Der Hinweis auf Fahrenheit 451 im Bezug auf Hörbücher ist an dieser Stelle allerdings irgendwie passend, denn er impliziert ja, dass die Leute nicht mehr die Fähigkeit besitzen, selber ein Buch zu lesen, dass sie sich in die Unmündigkeit des durch einen fremden Mund, den Mund des Vor-Lesers, Bevormundeten, entlassen, dass sie nicht mehr selber lesen, sondern "lesen lassen". Und so weiter.

Weg von der reinen Beschallung

Umgekehrt habe ich einen Bekannten, gehobener Posten in der Universitätshierarchie in meinem Nachbarland, der total auf Hörbücher schwört. Auf die Frage nach seinen Hörgewohnheiten, schildert er mir: Die Klassiker fände er hervorragend, die Manns (alle), Zweig, Fontane etc., etc. Von den heutigen kenne er eigentlich nur Herta Müller und ein bisschen Schrott. "Ich würde mal so sagen", meint er: "Man sollte das Hörbuch vorher mal gelesen haben, oder zumindest eine mehr als vage Vorstellung vom Inhalt haben, sonst ist das Hören reine Beschallung. Pnin, von Nabokov, kannte ich vorher schon auswendig, dann erst habe ich es als Hörbuch gehört. Das war dann (obwohl ungekürzt) so etwas wie ein neues Buch. Pnin, ohne es je gelesen zu haben, kann man als Hörbuch gar nicht erfassen. Lediglich Pnins unglaublicher englischer Akzent kommt natürlich im Hörbuch voll zum Tragen und ist toll - aber das macht das Ganze nicht unbedingt besser."

Vladimir Nabokov: Pnin

Ach so ja. Ich vergaß anzumerken, dass wir uns die Hörbücher/Audiobooks selbstverständlich gleichermaßen auf Englisch wie auf Deutsch geben. Man muss die Sprache kennen, die man da hört. Ich höre mir auch Sachen in anderen Sprachen an. Ich nenne als Beispiel La Marquise von George Sand, gelesen von Natalie Baye. Das ist in meinen Ohren wunderhübsch, als ob ich eine Novelle von Droste-Hülshof in einer Fremdsprache erlebe, die ich nicht ganz verstehe. Quasi Sprachkurs im gehobenen Register. Als ob ich noch einmal für mein Abitur büffeln würde. Also DAS leistet das Hörbuch auch, man kann den Text einfach mitlesen, und sich dabei von einem Muttersprachler begleiten und automatisch korrigieren lassen.

Vorsicht Mist. Dringend zu meiden.

Aber da muss man Glück haben. Unlängst hörte ich mir beispielsweise eine Story von Henry James an, The Wings of the Dove von 1902. Henry James war so um die letzte Jahrhundertwende herum quasi der Theodor Fontane Amerikas, aber noch um etliche Grade verquaster - eher eine Art Thomas Mann. Ich konnte jedenfalls absolut nicht begreifen, was der Mensch auf dem Hörbuch mir da vorlas. Als ich mir den Text von Gutenberg downloadete, fiel mir gleich mal auf, dass der gelesene Text eine undeklariert gekürzte Version darstellt.

Irgendjemand hat den Roman von James wie mit einer Gartenschere schnipp und schnapp großformatig beschnitten. Und der Vorleser hat nicht etwa an den herausgeschnittenen Stellen ein dezentes Atempäuschen eingelegt, sondern er ist dann einfach wie mit dem Motormäher, brumm, brumm, über alle diese Textbrüche hinweg gepest. Schlimmer noch, der amerikanische Schauspieler, der den Text lesen sollte, hat selber nicht begriffen, was er da eigentlich las, und deshalb zahlreiche Stellen, wie er wohl meinte, verbessert oder korrigiert. So kam es, dass der Klassiker auf einmal als völliger Blödhammer dastand. Da tut man gut (oder besser) dran, sich doch ans Buch zu halten, also selber zu lesen. Leider steht auf der Audio-Packung nicht drauf: Vorsicht, kompletter Mist. Dringend zu meiden. Man muss also, wenn man bei einem Audiobuch mitlesen will, Glück haben.

Die Segnungen des Päderasten

Mein Bekannter kennt ein gutes Beispiel für ein geglücktes Hörbuch, Thomas Manns Zauberberg: "Hörbuch stark gekürzt, aber dermaßen hervorragend gelesen von Gerhard Westphal, dass man noch Feinheiten entdecken kann, die einem beim Lesen stets entgangen sind." Ich persönlich mag nun wieder Westphal weniger, obwohl ich mir so gut wie den ganzen Thomas Mann - von Westphal gelesen - angetan habe. Da finde ich freilich die kürzeren Geschichten von Mann, gelesen von Will Quadflieg, um eine Spur angenehmer. Der Vergleich Tonio Kröger, gelesen vom schon etwas altersgeschwächten Autor selber, und Quadflieg, schwungvoll, eine Stimme in den besten Mannesjahren, überzeugt und bereitet dem Zuhörer Vergnügen. Ich fand auch Tod in Venedig, gelesen von Quadflieg, süffig, eingängig, leicht verständlich, und gerade in unserer Zeit, in der an allen Orten die Päderasten-Skandale der Klerikal-Schweinderln über dem katholischen Sumpf irrlichtern, musste ich schon sehr lachen, als der alte Aschenbach seinen Tadzio en passant -- "segnete". Solche Details "hört" man in der Audio-Version einfach deutlicher, als wenn man sie leise, selber, liest und dabei irgendwie "überfliegt".

Thomas Mann: Tod in Venedig

Mein Bekannter kommt zu dem Fazit: Ein Hörbuch kann die Lektüre nie ersetzen, ist aber ein äußerst schönes Werkzeug zum Repetieren. Für seine Mutter sei es andererseits schon wieder lebenswichtig: Sie hat früher pro Tag etwa einen Roman gelesen, vieles selbst aus dem Russischen übersetzt; vor ein paar Jahren wurde sie blind, was eine Katastrophe war, und ohne Hörbücher wäre die Katastrophe noch viel größer.

Schöner Schlafen mit Faust

Für sich selber merkt er an: "Ich schlafe eigentlich nie ohne Hörbuch ein, auch wenn ich’s schon oft gehört habe (aus dem Dr. Faustus von Mann hör ich immer wieder Dinge raus, die mir entgangen sind). Ich bin allerdings auch kein "normaler" Hörbuch-Hörer, ich höre nicht "statt zu lesen" sondern "um mehr ‘zu lesen’", oder besser zu lesen. Für mich stellt das Hörbuch eher eine Ergänzung dar. Allerdings kann es das nur sein, wenn es auch gut gelesen ist (und möglichst ungekürzt.) Eine Tradition in unserer Familie war: vorlesen. Ich habe als Kind so gut wie jedes Hörspiel gehört, das damals der Südwestfunk Baden-Baden gesendet hatte, und [später, beim Umzug ins Ausland- Anm. T.A.] hatte ich mir sogar noch Kassetten mit Hörspielen mitgenommen. Vielleicht rührt daher meine Schwäche für Hörbücher (oder die Geduld, sie auch anzuhören)."

In der Tat, die alten Hörspiele. Ein besonders schönes Beispiel hierfür ist ein im Internet kursierender privater Kassettenmitschnitt von Richard Hülsenbecks Verwandlungen. Ein Kurzroman (eine Novelle) aus dem Jahr 1918, der praktisch so-wie-er-da-im-Buche-stand und mit geringfügigen dramaturgischen Änderungen, Musikeinlagen, etc. - zu einem Hörspiel verwandelt wurde. "Hörspiel des Jahres 1994". Dazu gibt’s als Faksimile das Buch, als PDF, damit man mitlesen kann, bzw. damit man die paar kleinen Schnipsel, die in der Audio-Fassung rausgefallen sind, hinterher nachlesen, auflesen, kann. Das ist nun beides: Ein wirklich schönes Hörbuch, das man sich immer wieder geben möchte, und eine Lese-Entdeckung, auf die man sonst nicht gekommen wäre, weil das Buch natürlich längst im Orkus der Zeit perdu gegangen ist.

Audio: Bücher für Lese-Muffel?

Die Frage, Warum man sich hinsetzt und ein vorgelesenes Buch - oder vorgelesene Artikel aus dem Spiegel oder der Zeit - anhört, statt den Kram selber zu lesen, hat sicher eine sinnvolle Antwort. Warum gibt es dieses Phänomen heute, und warum war es vor 30 Jahren unbekannt? Ich selber kaufte mir einst Unmengen von Schallplatten mit den Stimmen verschiedener Autoren, die aus ihren eigenen Werken vorlasen, Isaac Bashevis Singer selber oder Eli Wallach der Singers Geschichten las, Ernest Hemingway, Truman Capote, Arthur Miller, Dylan Thomas en gros, und und und. Aber es gab kaum andere Menschen, die sich für diese Sachen interessierten. Nach 20 Minuten Old Possum’s Book of Practical Cats war jeder Zuhörer eingeschlafen. Wenn ich heute die in den Fünfzigerjahren massenhaft produzierten Literaturschallplatten - z. B. mit Lesungen von Klaus Kinski - anhöre: der junge Kinski, ein sehr genialisch daherplappernder, in Wirklichkeit eher epigonaler Ernst-Deutsch-Aufguss - tue ich mich ebenfalls schwer, länger als 20 Minuten zuzuhören - oder zuhören zu wollen. Aber damals schien es dafür ein kaufbereites Massenpublikum zu geben.

Also die Hörgewohnheiten ändern sich, und das Charakteristikum des heutigen Hörbuchs ist es denn auch, dass das Publikum oft Romane in Serie hört - jeweils stundenlange Vampir- oder Fantasy-Geschichten, die dann in sechs bis 20 Folgen immer weiter gesponnen werden. Hier bewohnt man eine Traumwelt für die Dauer einiger Wochen oder Monate, bis dann eine weitere, ähnliche, sich anbietet, in der man wieder eine Zeit lang Zuflucht finden kann.

Lesen für Zigarren-Dreher

Die Serien ... Leser? ... Hörer? ... sind wahrscheinlich schon Leute, denen das Lesen als solches, als reiner Zeitvertreib, als Mittel zum Spaß, Mühe bereitet. An der Schwelle zum Analphabetismus? Wer weiß. Sie genießen dennoch Geschichten, von denen sie in andere Welten entführt werden, sie hören zu, während sie gleichzeitig andere Dinge erledigen, Einkäufe, Autofahren, all die geschäftigen Elemente des Alltags, die ihnen keine Zeit zum Lesen ließen, wenn sie sich einfach nur der stumpfen Monotonie ihrer Beschäftigungen überlassen würden.

Auf irgendeiner Schallplatte von Studs Terkel gab es die Geschichte von den mexikanischen Zigarren-Drehern, die allesamt Analphabeten waren und den ganzen Tag über einer relativ monotonen Arbeit nachgingen. In der großen Fabrikhalle stellten sie einen Stuhl auf einen Tisch, jeder Mann zahlte ein oder zwei Pesos, und dort oben setzten sie einen Mann hin, der ihnen während der Arbeit die großen Romane der Weltliteratur vorlas. So wurden sie gebildete Männer, des Lesens unkundig, aber sie kannten ihren Zola, ihren Gorki, und andere progressive Autoren. Während ich dies schreibe, bin ich mir nicht sicher, ob ich diese Anekdote wirklich bei Studs Terkel gehört oder nicht doch eher gelesen habe, vielleicht auch bei Egon Erwin Kisch in seinem Mexiko-Buch - jedenfalls aber ist dies eine frühe, noch untechnische Form des Audio-Buchs gewesen, mit dessen Hilfe sich die damalige Arbeiterklasse die Errungenschaften der bürgerlichen Kultur zu eigen machen wollte.

Heute ist das Erlebnis der gemeinsamen Literatur-Rezeption und Diskussion einem gesellschaftlich entsolidarisierten, singulären Literatur-Konsum gewichen. In der englischsprachigen Welt spricht man dementsprechend auch nicht mehr von "Literature" sondern nur mehr von "Fiction". Literatur hat noch irgendwie ein ernsthaftes Anliegen, dem möchte sich der Leser der "Fiction" möglichst entziehen. Das Hörbuch ist idealerweise das Medium des leichten Genusses.

Die Topographie der Texte

Denn hier stellt sich bald heraus, dass nicht jedes Werk der Literatur auch eine brauchbare Topographie für einen Hörtext bietet. Zwei Jahre lang brauchte der österreichische Schauspieler Wolfram Berger, um Robert Musils Mann ohne Eigenschaften als Hörbuch aufzunehmen - insgesamt ist das Trumm nachher an die 60 Stunden lang geworden. Wobei man sich streckenweise schon arg fadisiert -- wie bei einem Theaterstück, das nur aus Regieanweisungen besteht, aber keine Dialoge anzubieten hat. Im Grunde kann man sich diese Audio-Version nur anhören, wenn man parallel dazu auch das Buch liest, und dann braucht man natürlich die Fernbedienung als Lesezeichen, um dem Gegenüber immer wieder mal ein Quasselpause aufzuerlegen.

Franz Kafka: Der Prozess

Ähnlich ging es mir mit Kafkas Prozess, gelesen von Christian Brückner, der deutschen Synchronstimme von Robert de Niro. Ich hielt das ursprünglich für einen Witz. Grollendes Mafia-Nuscheln: "Irgendjemand musste Gregor Samsa verleumdet haben ...". Aber nein, der Schauspieler wollte gar nicht mit Reißzwecken gurgeln, seine Stimmlage war ganz normal, die übliche Robert de Niro-Stimme eben, und Kafkas Jahrhundertwerk verrutschte nach ein paar Minuten zu einem langatmigen Plüschkrimi, bei dem nur leider Sherlock Holmes niemals auftritt. Da hätte man sich gewünscht, irgendjemand hätte dem Buch die gleiche Anverwandlung angedeihen lassen, wie der Verwandlung von Hülsenbeck.

Ein Sprung aus der Seite heraus

Ja, der Text in der Hörfassung muss einen Sprung aus der Seite heraus und in die Welt hinein tun. Das Buch muss sich buchstäblich umkrempeln. Vor etlicher Zeit las ich beispielsweise in Telepolis einen Artikel über den Nazi-Film Jud Süß. Natürlich hatte ich diesen Film irgendwann und irgendwo - vermutlich auf Arte - schon einmal gesehen. In Erinnerung war mir nur geblieben, dass die deutschen Schauspieler im Film damals ein sehr mieses Jiddisch hinlegten. Sie konnten es nicht, denn sie kannten es nicht. Danach sah ich den Film zufällig wieder - in einer stark flimmernden Version mit englischen Untertiteln - und dachte: der Film hätte genauso gut (oder: schlecht) auch damals in Amerika entstehen können. Es wäre ein Leichtes, ihn neu zu synchronisieren und die antisemitischen Anstriche zu überpinseln. Dann fragte ich mich, in welcher Beziehung dieser Film eigentlich zu Lion Feuchtwangers gleichnamigem Roman stünde? Feuchtwangers Jud Süß. Damals ein Weltbestseller - zunächst in England, später auch in Deutschland. Und Feuchtwanger war ja alles andere als ein Nazi: er war Jude, er war links, er musste vor den Nazis fliehen - nach Amerika.

Aber, komisch, der Roman von Feuchtwanger war in Neuseeland (wo ich lebe) nicht mehr aufzutreiben. Zufällig fand ich The Ugly Duchess, einen anderen Roman von ihm - aber damit hatte es sich auch schon. Langer Vorrede kurzer Sinn: Jetzt finde ich die deutsche Audio-Version des Romans, als Hörspiel. Acht Stunden lang, eine Produktion des Südwestfunks aus dem Jahr 1981. Das Erlebnis ist interessant, erschütternd, bewegend, man kommt auch nicht um die Tränen herum. Den Roman kenne ich nun noch immer nicht, aber die Hörfassung ist hinreißend, und sie verdient es, dass sie weiträumig bekannt wird. Dass man sagt: "Jud Süß. Kenn ich. Ein wunderschönes Hörbuch." (Jiddisch konnten die deutschen Schauspieler des Jahres 81 übrigens immer noch nicht, aber man sieht es ihnen leichter nach, da ihre Absicht nicht die Diffamierung war.)

Das Alte Rom, mit oder ohne Latinum

Und um gleich bei den historischen Schinken zu bleiben: auch ich habe mehrere Jahre lang Latein genossen und schließlich ein Großes Latinum erworben, Gott weiß wozu und warum. Immerhin: ich kann heute Comics auf Spanisch, Italienisch und sogar Portugiesisch lesen. Aber die alten Römer interessierten mich (damals) nicht mal bei Asterix. Auftritt Robert Harris. Das ist der Mann, der den Roman Fatherland geschrieben hat. Wo die Nazis den Zweiten Weltkrieg gewonnen haben und jetzt, im Jahr 1964, die Massenmorde an den Juden das bestgehütete Geheimnis des Zwanzigsten Jahrhundert sind. Der Film mit Rutger Hauer als Kommissar, mit John Lennon-Brille. Harris hat auch The Ghost geschrieben, unlängst verfilmt von Roman Polanski.

Und dann gibt es noch die Romane, die in der Römerzeit spielen. Pompeii erschien mir ein bisschen überladen mit lateinisch angehauchten Requisiten, wie einer dieser Filme mit Russell Crowe (Gladiator) oder Brad Pitt (Troy). Aber Harris hat eine Story, die man bei Edward Gibbon (Verfall und Untergang des Römischen Reiches) oder bei Sueton (Die zwölf Cäsaren) nicht so schnell finden würde. Die letzten Stunden der untergegangenen Stadt Pompeji.

Robert Harris: Imperium

(Schnitt hinüber zum Hörbuch.) Auf einmal tritt die Geschichte vom Papier heraus, und eine dieser typischen britischen Sprecherstimmen erzählt uns hautnah eine Story, als ob sie gerade heute passierte, als handele es sich um einen typischen Dick Francis. Ein paar miese Typen krauchen mitten in der Nacht am Vesuv herum, Null Ahnung, dass sie nur noch kurz zu leben haben, und vollends willig, einander jederzeit eins in die Fresse zu semmeln. Ich weiß, für diese Geschichten bräuchte ich nicht mal das Kleine Latinum, aber sie sind spaßig. Spannend. Harris’ Cicero Romane, Teil 1 (Imperium) und 2 (Lustrum) hätten mich womöglich motiviert, nicht nur das Große Latinum zu erwerben, sondern auch noch Cicero im Original zu lesen, wenn es sie damals schon gegeben hätte, als ich mein Latein erlernte. Und dann, wenn man Lust auf ein weiteres Buch des Autors verspürt: Bingo! Da steht es - Conspirata - und wer kann sagen, ob es nicht komplett erfunden ist, wie Fatherland? Das Audiobuch, "ein Roman, kein Geschichtsbuch", wie Harris uns anfangs zu bedenken gibt, entführt uns rasant in seine Welt ... bis wir allmählich drauf kommen: es ist eine gänzlich andere Produktion, aber der gleiche Text (!) wie Lustrum. Die andere Lesart lässt die beiden Versionen als zwei parallele und doch separate Teile nebeneinander bestehen. Wunderbar!

Drei Klassiker aus dem Mars-Theater

In der Kategorie, "das Audiobuch soll dem Text eine neue Seite eröffnen", weise ich noch auf drei Werke hin, die man einfach kennen muss. Das erste ist Die letzten Tage der Menschheit von Karl Kraus, gelesen von Helmut Qualtinger. Ich glaube, dass dieses Stück, dem Kraus selber nur Aufführungschancen in einem "Marstheater" einräumte, ohne Qualtingers Lesung heute gar nicht mehr präsent wäre, dafür aber jetzt fast schon in gar keiner anderen Version mehr vorstellbar ist. Es ist wie eine Jazz-Aufnahme, wie ein Konzert, bei dem die ultimative Performance eingefangen wurde. Es ist ein Werk der Literatur, das primär in seiner Audiovariante existiert. (Man könnte sagen: Das Audio-Buch IST das Marstheater.)

Das Gleiche gilt für den Roman der Josefine Mutzenbacher der gemeinhin als ein Porno-Machwerk des Bambi-Autors Felix Salten angesehen wird. Da die meisten Leser des Buches Männer sind, und es selten schaffen, den ganzen Roman durchzulesen, ohne mindestens dreimal Hand an sich zu legen, ist es klar, dass die solcherart zum Ein-Hand-Lesen Verführten das Werk als "Schund" denunzier(t)en. Erst in der Audio-Fassung der Schauspielerin Ulrike Beimpold wird offenbar, dass es sich hier um einen weiblichen Schelmenroman, also einen Schelmenroman mit weiblicher Heldin handelt - und zudem um ein Stück Weltliteratur. Man muss es kennen. Schon um dem Buch den Ruf zu nehmen, es handle sich um Schmuddelkram, der von der staatlichen Zensur geahndet werden müsse.

Zum Ausklang verweise ich noch auf die weibliche Robinsonade von Marlen Haushofer, Die Wand, einen Roman aus dem Jahr 1963. Es ist eine Science Fiction Erzählung in Form eines gelegentlichen Tagebuchs, eines Journals. Eine Frau ist zufällig als einziger Mensch auf der Welt am Leben geblieben, und schildert nun, wie ihr Leben weitergeht. Der Roman selber ist sehr zu Herzen gehend. Und was ebenfalls keine Kleinigkeit ist: es gibt eine ausgezeichnete amerikanische Übersetzung davon, unter dem Titel The Wall.

Es gibt wenigstens zwei (jeweils unterschiedlich gekürzte) kommerziell greifbare Lesungen des Romans. Eine von Julia Stemberger, einer Wiener Schauspielerin, die diesen Roman einer österreichischen Schriftstellerin offenbar mit Blick auf ein vornehmlich deutsches Hörpublikum in einem merkwürdig hochdeutschen Theaterdeutsch (durchsetzt mit schwäbisch anmutenden Diphthongen!) liest, so dass einem das erste Auftreten des Wortes "Jause" ("Zwischenmahlzeit") nach etwa 10 Minuten als geradezu außerirdisch um die Ohren klatscht. Die andere Lesung, von Elisabeth Schwarz, der "deutschen Stimme von Meryl Streep", in der PMS-angereicherten Stimmlage einer Über-Fünfzigjährigen, (real war sie beim Aufnahmetermin bereits 66) - wirkt überzeugender. Und, obwohl aus Stuttgart gebürtig, hat sie ihre "au"-Laute durchaus unter Kontrolle. Der Vergleich zwischen den beiden Aufnahmen bleibt trotzdem interessant. Und: ich für meinen Teil kann von diesem Roman einfach nicht genug kriegen. Auch audiomäßig nicht.

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