Deutschland wenig attraktiv für ausländische Arbeitskräfte

Vor der Einführung der Arbeitnehmerfreizügigkeit rechneten Experten in Deutschland mit mehreren hunderttausend Zuwanderern. Doch das Interesse der Mittel- und Osteuropäer hält sich in Grenzen

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Seit dem 1. Mai 2011 gilt die uneingeschränkte Arbeitnehmerfreizügigkeit auch für acht Staaten aus Ost- und Mitteleuropa, die 2004 Mitglied der Europäischen Union wurden. Neben Österreich schöpfte allein Deutschland die damals beschlossenen Übergangsfristen voll aus, um sich möglichst lange vor der Zuwanderung ausländischer Arbeitnehmer zu schützen. Seit 2009 durften Akademiker kommen, alle anderen Arbeitnehmer nur unter bestimmten Voraussetzungen, die vom Aufnahmeland definiert wurden.

Eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) kommt nun zu dem Schluss, dass in den ersten neun Monaten dieses Jahres nur etwas mehr als 60.000 Menschen von dem Mobilitätsangebot Gebrauch machten und ihren Lebensmittelpunkt nach Deutschland verlagerten. Gleichzeitig verließen rund 25.000 EU-8-Bürger ihre neue Heimat wieder.

Die bescheidene Nettozuwanderung von ca. 36.700 Menschen ist zu gering, "um Löhne und Arbeitslosigkeit hierzulande zu beeinflussen", bilanzieren die IAB-Forscher.

"Wer auswandert, hat oft wirtschaftliche Gründe …"

"Höhere Bezahlung und bessere Jobchancen als daheim: Wer auswandert, hat oft wirtschaftliche Gründe", stellte das Institut der deutschen Wirtschaft Köln im April dieses Jahres fest und bezifferte die Zuwanderung für das laufende Jahr auf 466.000 Personen. 2012, so die Prognose der arbeitgeberfreundlichen Einrichtung, könnten dann sogar 615.000 Menschen aus Estland, Lettland, Litauen, Polen, der Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn auf den deutschen Arbeitsmarkt drängen.

Eine ganze Branche blickte im Frühjahr "besorgt nach Osten", und auch die SPD rechnete mit erheblichen Problemen. Man müsse die Gefahr bannen, dass Arbeitnehmer verstärkt im Niedriglohnsektor eingesetzt würden und dann "Arbeitsplätze von hiesigen Arbeitnehmern gefährden", hieß es im April. Am äußersten rechten Rand prophezeite (oder erhoffte) man gar einen "brutalen Kampf um die verbleibenden Arbeitsplätze".

Bis dato entspricht kein Szenario der Realität. Deutschland steht auf der Wunschliste der Migranten offenkundig deutlich hinter Großbritannien, das zusammen mit Irland seit 2004 etwa 80 Prozent der Zuwanderer aus den ost- und mitteleuropäischen Ländern aufgenommen hat. Gegen Deutschland, die neue Heimstatt eines boomenden Billiglohnsektors, spricht immer häufiger die Lohnentwicklung, aber auch in rein kommunikativer Hinsicht scheinen englischsprachige Länder im Vorteil zu sein.

So ist die ausländische Bevölkerung aus den EU-8 in Großbritannien nach Angaben des Europäischen Labour Force Surveys im II. Quartal 2011 um 127.000 Personen gegenüber dem Vorjahresquartal gewachsen. Damit entspricht die Nettozuwanderung aus den EU-8 in Großbritannien zur Jahresmitte 2011 dem Niveau des Vorjahres. Die Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes hat also bislang nicht zu einer spürbaren Umlenkung von Migrationsströmen aus den EU-8-Staaten nach Deutschland geführt.

IAB-Kurzbericht 24/2011

Mehr Beschäftigte als Zuwanderer

Manche Ergebnisse der IAB-Studie muten auf den ersten Blick kurios an. So stieg die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten aus den genannten Ländern zwischen April und August 2011 um rund 46.500.

Bei der abhängigen Beschäftigung insgesamt beträgt die Zunahme gut 53.800 Personen. Gegenüber dem Vorjahresmonat waren im August 2011 rund 57.100 mehr EU-8-Bürger sozialversicherungspflichtig beschäftigt; zieht man die geringfügig Beschäftigten hinzu, so sind es knapp 71.400 mehr. Damit ist die Beschäftigung von Personen aus den EU-8-Staaten von April bis August 2011 fast doppelt so stark gestiegen wie die Zahl der Zuwanderer.

IAB-Kurzbericht 24/2011

Saisonale Effekte, etwa durch den Einsatz ausländischer Arbeitskräfte in der Landwirtschaft oder Baubranche, will das Institut nicht als ausschlaggebenden Faktor gelten lassen. Vielmehr sei davon auszugehen, dass Selbständige und Arbeitskräfte, die bislang in keiner Statistik auftauchten, nach dem 1. Mai ein Beschäftigungsverhältnis aufgenommen hätten. Auch die Deutsche Rentenversicherung hatte mehrfach vor dem Problem der Scheinselbstständigkeit gewarnt, das "als Reaktion auf die Freizügigkeitsbeschränkung für Arbeitnehmer" aus den EU-8-Staaten zu interpretieren sei.

Die IAB-Forscher sehen in den Zahlen einen Beweis für erhebliche "Verzerrungen in der Beschäftigtenstruktur", die durch die Einschränkung der Freizügigkeit "bei gleichzeitiger Einführung der Niederlassungsfreiheit" entstanden sind. Positive Einflüsse auf die Sozialversicherungssysteme oder den Abbau der Schwarzarbeit kommen damit erst Jahre später zur Geltung.

Deutschland war auf die Gesamtsituation folglich schlecht vorbereitet, weil Regierungen und Expertengremien einmal mehr von falschen Voraussetzungen ausgingen – oder allzu unbedarft glaubten, noch immer im allseits bestaunten (Wirtschafts)Wunderland Europas zu leben.

Der Fachkräftemangel und der schwammige Arbeitsmarkt

Seit Jahren warnen Ökonomen und Unternehmer vor dem vermeintlichen Fachkräftemangel, der die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft bedrohen und entscheidend schwächen könnte (Phantomdebatten im Dienste der Lohnsenkung). Folgerichtig "bejubelten" diverse Institute Anfang des Monats die "Job-Initiative" des Bundeswirtschaftsministers Philipp Rösler (FDP), der darüber nachdenkt, hochqualifizierte Arbeitskräfte aus wirtschaftsschwachen EU-Staaten abzuwerben.

Unter diesen Umständen sollte auch der neu geschaffenen Freizügigkeit für Arbeitnehmer aus dem Osten und der Mitte Europas eine erhebliche Bedeutung für die Personalplanung hiesiger Unternehmen zuwachsen. Das dachte jedenfalls Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) im April dieses Jahres.

Im Augenblick ist der Arbeitsmarkt jedoch aufnahmefähig wie ein Schwamm. Die Zahl der offenen Stellen steigt, und viele Unternehmen suchen immer intensiver nach passenden Fachkräften. Auch deswegen ist die volle Freizügigkeit auf dem Arbeitsmarkt ab dem 1. Mai für Deutschland eine große Chance. Denn es werden nach den Erfahrungen unserer Nachbarn, die schon früher die Schranken gesenkt haben, vorzugsweise gut ausgebildete, mobile junge Menschen kommen.

Ursula von der Leyen

Die so händeringend nach Fachkräften suchende Wirtschaft ist daran aber offenbar nur sehr bedingt interessiert. Nach den Berechnungen des IAB kennen zwar vier von fünf deutschen Unternehmen die seit Mai geltenden Regelungen, machen aber trotzdem kaum Anstalten, offene Stellen mit Fachkräften aus den EU-8-Staaten zu besetzen.

Im IV. Quartal 2010 gaben 17 Prozent der Betriebe an, dass sie ein Problem bei der Rekrutierung von Fachkräften hätten. Von diesen Betrieben hatten etwa 32.000 im II. Quartal 2011 immer noch Stellen sofort zu besetzen und Kenntnis von den Neuregelungen. Allerdings haben nur 3 Prozent dieser Unternehmen Personal aus den EU-8-Staaten nach dem 1. Mai eingestellt, 22 Prozent haben sich auf Neueinstellungen von EU-8-Bürgern vorbereitet.

IAB-Kurzbericht 24/2011

Ob sich an dieser Situation Entscheidendes ändern würde, wenn das vor langem versprochene "Ziellandkonzept" den Arbeitgebern eine verlässliche Staaten-Hitparade und eine Liste der bestqualifizierten Arbeitskräfte an die Hand gäbe, steht freilich ebenso in den Sternen, wie die Antwort auf die Frage, ob sich Menschen in den von deutschen Ministern anvisierten Ländern eher begeistern ließen als ihre Kollegen in Ost- und Mitteleuropa.

Rumänien und Bulgarien

Rumänien und Bulgarien werden im schwarz-gelben "Ziellandkonzept" wohl keine große Rolle spielen, und in Spanien droht den Ernstgenannten sogar ein Einwanderungsverbot aus vergangen geglaubten Zeiten. Wenig überraschend also, dass die Debatte um die Arbeitnehmerfreizügigkeit in die nächste Runde geht, nachdem sich die Bundesregierung gerade entschieden hat, die Beschränkungen für beide Länder bis Ende 2013 beizubehalten.

Felix Pakleppa, Hauptgeschäftsführer des Zentralverbandes des Deutschen Baugewerbes, befürchtete andernfalls obligatorisch den "Verlust Tausender Arbeitsplätze", und ein CDU-Europaabgeordneter mit dem klangvollen Namen Thomas Mann warnte so eindringlich vor "starken Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt für Geringqualifizierte und für Langzeitarbeitslose", als hätte seine Partei gerade eine neue Klientel entdeckt.

Ein aktueller Bericht der Europäischen Kommission kommt allerdings zu ganz anderen Ergebnissen. Demnach hatte die Beschäftigung mobiler Arbeitskräfte aus Bulgarien und Rumänien, die in vielen Mitgliedsstaaten bereits jetzt keinen Beschränkungen mehr unterworfen sind, überwiegend positive Auswirkungen auf die Arbeitsmärkte der Aufnahmeländer.

Diese Arbeitskräfte haben zum Qualifikationsmix beigetragen und den Arbeitskräftemangel in bestimmten Wirtschaftszweigen und Berufen ausgeglichen, z. B. im Baugewerbe, in Privathaushalten und im Hotel- und Gaststättengewerbe. Schätzungen lassen außerdem positive Auswirkungen (…) auf das langfristige BIP der EU erkennen, das für die EU-27 um 0,3 % ansteigt (0,4 % für die EU-15). Studien zufolge gab es auch keine nennenswerten Auswirkungen auf die Arbeitslosigkeit oder die Löhne einheimischer Arbeitskräfte in den Aufnahmeländern, (…).

Pressemitteilung der Europäischen Kommission vom 11.11.2011

Überdies gebe es bislang keine Belege "für eine unverhältnismäßige Beanspruchung von Leistungen und Zuschüssen". Die Beschäftigungsquote der zugewanderten Bulgaren und Rumänen bewege sich mit 63 Prozent in etwa auf dem Durchschnittsniveau der anderen 25 Staaten (65 Prozent).

So liegt der Verdacht nahe, dass die Bundesregierung auch in diesem Fall ein wichtiges Thema des deutschen und internationalen Arbeitsmarkts vor sich herschiebt, statt es aktiv zu gestalten. Die Opposition hat sich in diesem Punkt besser aufgestellt und die traditionelle Forderung "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" seit geraumer Zeit um den Zusatz "am gleichen Ort" ergänzt.

Die auf dem CDU-Parteitag angestoßene Mindestlohn-Debatte könnte Bewegung in die weiteren Auseinandersetzungen bringen, da der schwer angeschlagene Koalitionspartner ohnehin kaum noch ins Gewicht fällt. Aber von einem tragfähigen Konsens mit sich selbst ist die Union noch weit entfernt.

Willi Zylajew, Vertreter des CDU-Arbeitnehmerflügels, gab jüngst mit Blick auf die eigenen Parteifreunde zu Protokoll: "Fakt ist, dass die Kräfte, die die soziale Marktwirtschaft zersetzen wollen, nicht nachgeben werden. Ich hoffe, dass sie damit keinen Erfolg haben."