Wer hat das Mandat der Bevölkerung?

Ägypten: Die Koalition der revolutionären Jugend fordert eine Präsidentschaftswahl am 25.Januar 2012; der Militärrat macht ausländische Strippenzieher und Kriminelle für die Gewalt verantwortlich und die Muslimbrüder riskieren den Konflikt mit dem Militär

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Wie viel an Macht und Einfluss lässt sich über soziale Netzwerke im Internet herstellen? Die beinahe bis zum Ermüden erörterte Frage wird noch einmal da aufgeworfen, wo man ihr Anfang des Jahres größere Wirkung unterstellte, in Ägypten. Dort ruft eine Facebook-Kampagne dazu auf, für eine vorgezogene Präsidentenwahl zu mobilisieren. Sie soll symbolträchtig am 25. Januar stattfinden, der neue Präsident soll am 11. Februar, am Jahrestag der Machtabgabe Mubaraks, vereidigt werden.

Initiiert wird der Aufruf von der "Koalition der revolutionären Jugend des 25. Januar", unterstützt wird sie von sage und schreibe 1.500 Bloggern. Der Militärrat soll möglichst schnell seine Macht an eine zivile Regierung abgeben - das ist die politische Forderung hinter diesem Aufruf. Die Militärführung nimmt jedoch für sich in Anspruch, die "schweigende Mehrheit" hinter sich zu haben. Das stärkste Mandat der Bevölkerung reklamieren jedoch die Muslimbrüder, offizieller Wahlsieger der erste Runde der Parlamentswahlen und nach bisherigen Berichten auch Sieger der zweiten Runde.

Vertreter ihrer Partei, die Partei für Freiheit und Gerechtigkeit, hat beim ägyptischen Generalstaatsanwalt Klage gegen Militärführer eingereicht. Die Muslimbrüder-Partei wirft ihnen vor, dass sie für den Tod von Demonstranten verantwortlich ist. Damit verschärft sich der Konflikt zwischen der Militärführung und den Muslimbrüdern, die durch die Wahlen gestärkt sind.

Einmalige historische Chance für die Muslimbrüder

Mit dieser Legitimation im Rücken und die historisch einmalige Chance, in Ägypten Regierungsmacht zu erhalten, als Aussicht, riskieren die Muslimbrüder den Konflikt mit dem SCAF. Ihre politischen Möglichkeiten, den alten Generälen, ihren Gegnern im alten Regime unter Mubarak , Grenzen aufzuzeigen, dürften derzeit größer sein als die der revolutionären Protestbewegung, deren politische Vertreter im zweiten Wahlgang untergingen. Schließen sich die Muslimbrüder der Forderung nach baldigen Präsidentschaftswahlen und einer nachgezogenen Ausarbeitung der Verfassung an, so wird es der Militärrat sehr schwer haben, sich gegen diese Forderung durchzusetzen.

Denn welche Mehrheit der Bevölkerung, welches Mandat weiß der Militärrat hinter sich, um Aussagen wie die von General Mukhtar al-Mulla zu legitimieren? Al-Mullah hatte nach der ersten Wahlrunde statuiert, dass das Parlament nicht die Bevölkerung repräsentiere, weswegen der Militärrat weiterhin an der Kontrolle über Politik und Regierung festhalte.

Prügelnde und urinierende Militärpolizisten

Bilder von prügelnden Militärpolizisten, von Militärs, die von Dächern auf Demonstranten urinieren, die auf eine Frau einprügeln, sie halbnackt ausziehen und auf den ohnmächtigen Körper herumspringen, 12 Tote und geschätzte 500 Verletzte bei den Auseinandersetzungen zwischen Militärpolizisten und Demonstranten - alles das bleibt nicht ohne Wirkung auf den lange Zeit guten Ruf des Militärs in weiten Teilen der Bevölkerung.

Die Beteuerungen des Militärs schuldlos zu sein, ausländische Strippenzieher und Kriminelle für die Ausschreitungen verantwortlich zu machen, erzielen nicht die gewünschte Glaubwürdigkeit. Die Auseinandersetzungen fügen sich in eine Reihe von eskalierenden Vorfällen, bei denen die Beteiligung des Militärs offensichtlich ist und den Militärpolizisten unterstellt werden kann, dass sie die Ausschreitungen gar initiiert haben.

Selbst, wenn die sogenannte schweigende Mehrheit gewillt wäre zu glauben, dass bei den brutalen Auseinandersetzungen in Maspero, auf der Straße zum Innenministerium, Mohamed Mahmoud und zuletzt gegen die "Occupy cabinet"-Proteste, das Militär nur auf Provokationen reagiert habe, wie man das öffentlich darstellt, so bleibt ganz sicher - aufgrund der Filme und Fotos dieser Auseinandersetzungen - , ein Bild von überforderten Sicherheitskräften, die wie unter Mubarak, mit menschenverachtender Gewalt zugange sind. Auch die kursierenden Gerüchte lassen das Militär nicht gut aussehen.

Am Puls der Bevölkerung?

So wenig, wie der Militärrat weiter behaupten kann, sich am Puls der Bevölkerung zu orientieren - was sich realpolitisch in machtopportune Annäherungen zuerst an die Protestbewegung, dann an die Muslimbrüder und schließlich an die schweigende Mehrheit äußerte -, so wenig kann dies auch die revolutionäre Bewegung, wie die Wahlen zeigen. Während die Muslimbrüder und auch die Salafisten viel Arbeit darauf verwendeten, den Kontakt zur "schweigenden Mehrheit" außerhalb des Tahrirplatzes und der Hauptstadt in Wählerstimmen umzusetzen, begnügte sich der Protest , zumindest in seiner für die Öffentlichkeit sichtbaren Form - auf Freitagskundgebungen auf dem Hauptstadtplatz und Internetveröffentlichungen.

Dass die dauernden Proteste und Lager auf dem Tahrirplatz zu Spannungen auch mit Anwohnern führen würden und der Öffentlichkeit immer schwerer zu vermitteln waren, war bald absehbar und die Militärführung fand, auch hier wie Mubarak, einen Verbündeten im Staatsfernsehen, das diese Stimmung gegen die Proteste und Demonstranten schürte. Neue Protestformen, wie sie von Bloggern gefordert werden, führen möglicherweise vom Rand weg, wo die Protestbewegung nicht ohne eigenes Zutun hinmanövriert wurde.

Indeed, their ability to read Egyptian public sentiment is as bad as that of the military, and a good deal more myopic.

Frankenstein on Tahrir

Ob die revolutionäre Jugend den Kontakt zu größeren Teilen der Bevölkerung wiederherstellen kann, ist eine der Fragen, die mit der Kampagne für eine vorgezogene Präsidentschaftswahl beantwortet werden.