Sinkflug oder Stabilisierung einer Diktatur?

Syriens Einwilligung in die Friedensinitiative verblüfft - und trügt möglicherweise noch mehr, als es scheint

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Vergangenen Montag unterzeichnete Damaskus ein Abkommen mit der Arabischen Liga. Das Land, das sich seit neun Monaten abschottet, öffnet somit seine Tore internationalen Beobachtern, die aus unabhängiger Sicht über die Gewalt berichten werden. Beugt sich die eiserne Diktatur demnach dem internationalen Druck?

In 2 bis 3 Tagen bekommen wir internationale Beobachter. In 4 bis 5 Tagen wird der erste von ihnen getötet. Und in drei Wochen werden unsere Freitagsdemos unter dem Motto stehen: ‚Wir verlangen internationalen Schutz für die internationalen Beobachter'"

Aus einem Facebookeintrag

Es "witzelt" in der Tat bitter auf syrischen Facebookseiten, seit bekannt wurde, dass das syrische Regime in die Friedensinitiative der Arabischen Liga (AL) einwilligt hat. An ein ernsthaftes Einlenken von Damaskus mag keiner recht glauben - nicht zuletzt, weil dessen "Sicherheitskräfte" am gleichen Tag, da die Unterzeichnung des Abkommens bekannt wurde, neuerlich Gewalt angewendet haben. Je nach Quelle kamen 14 bis 100 Menschen um. Die letztere Zahl resultiert aus der Behauptung, dass 60 bis 70 Soldaten erschossen worden seien, die zu desertieren suchten.

Illusorischer Truppenabzug

Die tatsächlichen Fakten bleiben unklar und unverifizierbar. Doch nach neun Monaten Aufstand und allen bisherigen Berichten, denen in ihrer Summe sicherlich Glauben zu schenken ist, bleibt festzuhalten: Mit bislang großer Mehrheit ist der syrische Aufstand friedlich und weder von ausländischen Verschwörern, noch von inländischen Salafisten getragen. Zugleich hat er genuin revolutionäre Züge, verlangen die Revoltierenden doch keine Reformierung, sondern die grundlegende Erneuerung des Systems.

Angesichts dessen stellt sich die Frage, was wäre, wenn das Regime tatsächlich seine Truppen zurückziehen würde - wie im Rahmen der Friedensinitiative gefordert und auch von Russland verbal unterstützt. Die Antwort ist denkbar einfach: Die bereits Demonstrierenden, die schon bislang nicht einzuschüchtern waren, würden kein Halten kennen. Der Unmut würde auch in den noch ruhigeren Großstädte Aleppo und Damaskus ausbrechen (erste Großdemonstrationen erfolgten bereits kürzlich im Damaszener Stadtviertel Midan). Kurz - es gäbe vielleicht keine Systemerneuerung, aber einen entscheidenden Systemwechsel, da Baschar al-Assad gestürzt würde und mit ihm die alawitische Militärelite.

Weshalb liegen kaum Details zum Abkommen vor?

Nicht allein angesichts dieses simplen Kalküls ist Skepsis gegenüber Syriens Einwilligung angebracht. Schon der Umstand, dass die Details des Abkommens intransparent sind, gibt zu denken. So war anfänglich von 500 zu entsendenden Beobachtern die Rede. Mittlerweile sollen es nur mehr 150 sein, die bis Ende Dezember ins Land kommen sollen. Wo sie sich dort aufhalten sollen, scheint gleichfalls unklar.

Will man jedenfalls dem Oppositionellen Burhan Ghalioun ("Das syrische Volk hat einen sehr langen Atem") glauben, so hat der stellvertretende syrische Außenminister Walid Muallem bereits angemerkt, dass die Beobachter aus Sicherheitsgründen nicht alle Landesteile bereisen könnten. Sollten sie dies missachten und ihnen etwas zustoßen, würde das Regime dies als willkommenen Beweis für die Präsenz von "Terroristen" auslegen, erklärt Ghalioun weiter in seinem Interview gegenüber der libanesischen Tageszeitung As-Safir.

Neues Gesetz: Todesstrafe für "Terroristen"

Abwegig klingt dies nicht. Zumal al-Assad die "Terroristen"-Karte mit zunehmender Konsequenz spielt. Behauptete er noch Anfang Dezember in seinem Interview mit dem US-Sender ABC, niemals Schießbefehle auf das Volk erteilt zu haben, so erließ er vor wenigen Tagen ein Gesetz zur Bestrafung von Waffenschmugglern, die die "Absicht" hegten, "terroristische Akte" zu begehen. Wann etwas "terroristisch" ist und wie eine "Absicht" juristisch zu beweisen ist, bleibt nebulös. Hingegen erklärt die staatliche Nachrichtenagentur SANA was dergleichen Absichtsträger erwarte: bis zu lebenslängliche Haftstrafen in Arbeitslagern - oder die Todesstrafe.

Auch sonst zieht Damaskus alle Register, um sich den Rücken frei zu halten. So berichtet As-Safir, unter Berufung auf Informanten, von weiteren Zugeständnissen der AL gegenüber Syrien: Die unabhängigen Beobachter sollen statt zwei nur mehr einen Monat lang anwesend sein. Sie müssen "eng mit Syrien kooperieren, um dessen Souveränität zu wahren" - und ihre Berichte der AL und Damaskus zeitgleich vorlegen.

Sollte dies stimmen, wäre das Unterfangen tatsächlich jene Farce, die die Opposition darin sieht. Von einem "Trick", der bloße "Zeitschinderei" bezweckt, ist die Rede.

Wahlen von Russland bis in die USA

Der Faktor Zeit kommt momentan allerdings nicht nur dem syrischen Regime zugute: Zwar will von den USA bis Russland, von Israel bis zum Iran und von Qatar bis zur Türkei keiner Syrien den Syrern überlassen, doch gilt es für mehrere Staatschefs sich auch auf Interna zu konzentrieren. So finden in Russland Präsidentschaftswahlen statt (4. März), im Iran Parlamentswahlen (29. März), in Ägypten Parlaments- und Präsidentschaftswahlen - und in den USA im November Präsidentschafts- und Kongresswahlen.

Auf letztere bereitet sich offensichtlich auch Israel vor: Da Benjamin Netanyahu mit einer potentiellen zweiten Amtsperiode des von ihm wenig geschätzten Barack Obama rechnet, will er diesem adäquat begegnen - durch einen eigenen, möglichst erdrutschartigen Sieg. Da er sich seiner gegenwärtigen Stärke sicher ist, hat er die internen Parteiwahlen in seiner Likudpartei auf den 31. Januar vorverlegt.

Eskalationsgefahr im benachbarten Irak

Zu diesem Interessensnetzwerk kommt die neue Situation im Irak hinzu: Kaum, dass der letzte US-Konvoi abgezogen ist, erließ die schiitische Führung unter Nouri al-Maliki, die mit Damaskus verbündet ist, einen Haftbefehl gegen den sunnitischen Präsidenten Tareq al-Hashemi, der mittlerweile nach Kurdistan geflohen ist. Die Anklage lautet auf terroristische Aktivitäten. Beobachter warnen bereits vor neuerlichen Gewalteskalationen zwischen den Konfessionen.

Duckt sich gar die Arabische Liga?

All dies klingt nach einem anhaltenden blutigen Kampf für die Syrer. Zumal die panarabische Zeitung Al Quds al Arabi auch fragt, ob die AL nicht ihrerseits Vorteile aus der so lasch gewordenen Friedensinitiative zieht?

Immerhin, so der Autor, habe die AL eingesehen, dass manche ihrer wirtschaftlichen Sanktionen - wie etwa das Einfrieren aller Geschäfte mit der syrischen Zentralbank ("Sanktionen haben noch nie ein Regime gestürzt") - Papiertiger seien, da sich Mitgliederstaaten wie Jordanien aus Eigeninteresse nicht einmal selbst daran hielten. Auch die Türkei, die lange von ihren Exporten nach Syrien profitierte, habe starke wirtschaftliche Einbußen erlitten. Seither sei es in Ankara, das bis vor kurzem noch so enthusiastisch gen Damaskus drohte, erstaunlich ruhig geworden.

Sollte die Einschätzung des Al Quds al Arabi-Autors zutreffen, käme dies einem großen Rückschlag für die syrischen Opponenten gleich.