Tagolution

Infrastruktur für die Post-Privacy-Demokratie

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Wir befinden uns in einer spannenden Zeit, in der wieder vermehrt über alternative Gesellschaftssysteme und neue Formen der Demokratie diskutiert wird. Aus dieser Sicht betrachtet haben die vielen und andauernden Krisen das Potential, neue Ideen in die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu katapultieren. Bei vielen Krisen fällt jedoch auf, dass oft kleine Auslöser enorme Auswirkungen auf die Stabilität des jeweiligen gesellschaftlichen Systems haben können, wofür auch der arabische Frühling ein Beispiel ist. Die folgende Idee hat den Anspruch, politische Methoden flexibler zu machen, damit sie den Anforderungen der jeweiligen Zeit leichter angepasst werden können.

Besonders vor dem Hintergrund aktueller Datenschutzdebatten und -bestrebungen scheint es geboten, zu Beginn ein paar Worte zum Begriff "post-privacy" zu verlieren. Dieser Beitrag ist kein Plädoyer zur Abschaffung der Privatsphäre. Die Entwicklung der Idee von Tagolution war eher zielorientiert, wobei eines der wichtigsten Ziele war, dass Tagolution selbst möglichst wenige Werte voraussetzt bzw. vorgibt, um der Politik bzw. der Gesellschaft die maximale Freiheit zur Definition ihrer jeweiligen Werte zu geben.

Dabei hat sich bei dieser konkreten Idee am Ende herausgestellt, dass sie post-privacy quasi "by Design" mitbringt. Eine tiefgreifende Diskussion möglicher Nachteile sowie möglicher Lösungen ist daher unbedingt erforderlich, ebenso wie es notwendig ist, mit Bedacht und Schritt für Schritt Erfahrungen im Umgang mit Tagolution zu erlangen.

Tagging

Grundsätzlich liegt der Idee von Tagolution ein bereits weit verbreitetes Konzept zugrunde. Jeder, der schon mal etwas mit einem Tag versehen hat (z.B. einen Kontakt bei XING, einen Blogbeitrag, einen Twitter-Beitrag …), kann es sich leicht vorstellen, denn es geht um nichts anderes als ein Taggingsystem. Ein System also, indem IDs sich gegenseitig mit Tags versehen, wobei eine konkrete Semantik der Tags nicht vorgegeben wird. Ein paar Beispiele zu bringen:

  • alice@example_forum.com => bob@example_forum.com : moderator "Alice" taggt "Bob" als "Moderator". Beide sind Nutzer des gleichen Forums.
  • ich@example.com => ISBN_3453521951 : like "Ich" möchte aussagen, dass mir das Buch mit dieser ISBN gefällt.

Tagolution stellt dabei die Infrastruktur bereit, über die solche Tags gesetzt, gespeichert und auf verschiedene Weise ausgewertet werden können. Die Auswertung stellt dabei vielfältige Funktionen zur einfachen statistischen Analyse der Tags zur Verfügung. Auf dieser Infrastruktur können nun Anwendungen wie z.B. Entscheidungen und Bewertungen aufgebaut werden, die ihren Tags durch die Strategie ihrer Vergabe sowie der Auswertung überhaupt erst einen Sinn verleihen.

Moderatorenwahl in einem Forum

Nehmen wir an, ein Onlineforum möchte seinen Nutzern die Möglichkeit geben, Moderatoren selbst aus ihrer Mitte zu wählen. Für eine Umsetzung mit Tagolution könnte sich der Forenbetreiber selbst ein System zur Wahl seiner Moderatoren ausdenken. Nehmen wir an, er legt fest, dass sein Forum ein Team von 5 Moderatoren haben soll, wobei sich jeder Nutzer als Moderator aufstellen lassen kann. Gewählt wird, indem Nutzer die Kandidaten ihrer Wahl mit dem Tag "moderator" versehen. Die fünf Kandidaten, die in der Community am meisten Tags auf sich versammeln konnten, sind die Moderatoren. Um eine zu starke Fluktuation seiner Moderatoren zu vermeiden, wird die Anzahl der vergebenen Tags nur einmal wöchentlich ausgewertet.

Der Forenbetreiber implementiert eine Benutzeroberfläche für die Wahl in seinem Forum, wobei er hier die Freiheit hat, den Vorgang des Taggings komplett vor seinen Nutzern zu verstecken und ihnen so die gewünschte Usability bieten zu können. Sicher könnte der Forumbetreiber das ebenso in seiner eigenen Datenbank implementieren. Die Nutzung von Tagolution ist für ihn aber interessant, weil er die Vertrauenswürdigkeit in die Wahl der Moderatoren dadurch erhöhen kann.

Anforderungen

Die Hauptaufgabe von Tagolution besteht darin, die Vertrauenswürdigkeit der vergebenen Tags sicherzustellen. Dafür wird Tagolution als verteiltes bzw. dezentrales System konzipiert, in dem jeder (Menschen, Unternehmen, einfach jeder) einen Knoten bereitstellen kann. Die Daten werden mehrfach redundant im System abgelegt, so dass auch der Ausfall von Teilen des Systems keine Auswirkungen auf die Integrität und Vollständigkeit der Daten hat. Außerdem wird die Vergabe von Tags durch kryptographische Signaturen abgesichert, indem jedes gesetzte Tag mit einer Signatur versehen wird. Dabei hängt die Vertrauenswürdigkeit des Tags natürlich stark von der Vertrauenswürdigkeit des jeweils eingesetzten Schlüssels ab.

Für das Forenbeispiel oben könnte es ausreichen, dass der Betreiber für seine Nutzer selbst Schlüssel generiert, so dass dieser mit dem Signaturprozess nicht in Berührung kommt. Für diesen Anwendungsfall mag das ausreichend sein, in einem anderen Fall ist es aber ggf. deutlich wichtiger, dass der Nutzer selbst die Kontrolle über seine Schlüssel behält. Tagolution macht keine Vorgabe zur Schlüsselverwaltung, so dass hier ebenfalls Spielraum für die Anwendungen besteht. Ein sehr wichtiger Aspekt für die Vertrauenswürdigkeit ist die Offenheit des Systems. Alle Daten von Tagolution können von jedem (weil öffentlich) abgefragt werden. So ist für jeden überprüfbar, ob es Manipulationsversuche gab und ob ein Knoten fehlerhafte Daten zurückliefert.

Eine genaue technische Spezifikation ist wahrscheinlich keine Raketentechnik, man kann sich also an bestehenden Technologien orientieren. So gibt es bereits Systeme wie Bitcoin oder Freenet, die sehr ähnliche Anforderungen und Konzepte umsetzen. Allgemein sind verteilte Datenbanken nichts Neues und können hier als Orientierung dienen.

Trotzdem gibt es auch einige Probleme zu lösen, wie z.B. die Abwehr von Flooding-Angriffen oder die Entwicklung einer schnellen und effizienten Abfrageschnittstelle, über die die gewünschten Auswertungen gefahren werden können. Und das sind nur zwei Beispiele. Es gibt also noch viele Punkte, die durchdacht und konkretisiert werden müssen.

Verdeutlichung der Funktionsweise von Tagolution mit seinen Anwendungen

Zu trocken?

Da es mir in diesem Beitrag allerdings weniger um Technik als um die Skizzierung der Idee und ihrer Perspektiven geht, möchte ich hier ein kurzes Szenario beschreiben, wie sich Tagolution in der Gesellschaft etablieren und welche Auswirkungen es haben könnte. Grundannahme ist eine bestehende Implementierung, die die genannten Anforderungen erfüllt und verifizierbar die gewünschte Vertrauenswürdigkeit hält.

Zu Beginn würden erste kleine Anwendungen entstehen, die sich gut mit dem Datenschutzempfinden unserer heutigen Gesellschaft vereinbaren lassen. Das könnten Anwendungen wie ein simpler, von einem konkreten "Social Network"-unabhängigen "Like"-Button sein, worüber Nutzer im Netz öffentlich aussagen können, ob sie Inhalte, Produkte oder andere Dinge gut finden.

Ein anderes Beispiel wäre eine Anwendung, mit der sich Vereine oder andere Institutionen organisieren können. Hier gibt es viele Gruppen, die ohnehin transparent arbeiten und bei denen nur selten geheime Abstimmungen benötigt werden. Diese können Ämtervergabe, Satzungs- oder Regeländerungen, Projektentscheidungen, etc. sehr gut über Tagolution abwickeln, ohne sich noch zusätzlich über eine vertrauenswürdige Infrastruktur Gedanken machen zu müssen. Es ist anzunehmen, dass hier gerade aus der Open Source Szene viele interessante Anwendungsmöglichkeiten erwachsen werden.

Irgendwann könnten die Nutzer anfangen, Tagolution dafür einzusetzen, Statements zu äußern. Ähnlich z.B. der häufigen Nutzung von Gruppen in den VZ-Netzwerken, wo die Gruppen dafür zweckentfremdet werden, um Neigungen und Meinungen zu äußern. Theoretisch könnten die Nutzer das auch in ihr Profil schreiben, aber so entsteht direkt eine Vernetzung mit anderen Nutzern, die das Gleiche denken. Auf Basis von Tagolution umgesetzt würde das schnell weitere Kreise ziehen. Ein Nutzer könnte so leicht ähnlich denkende Nutzer identifizieren, wodurch sich Vorschläge für Stream-Abonnements ableiten ließen.

Durch eine solche Ähnlichkeitsanalyse lassen sich allerdings auch ganz andere Ideen umsetzen. Ein Unternehmen könnte beispielsweise über sich die sehr unscharfe Aussage treffen, dass es umweltfreundlich agiert. Über Tagolution könnten Nutzer (also bspw. Kunden) dieser Aussage des Unternehmens zustimmen oder sie ablehnen. So kann ein Nutzer, der das Unternehmen noch nicht kennt, aus der durchschnittlichen Zustimmung der zu ihm ähnlichen Personen, einen Anhaltspunkt finden, wie er das Unternehmen möglicher Weise wahrnehmen würde.

Sehr interessant könnte Tagolution auch für Adhocracy-Implementierungen sein. So, wie auch die Umsetzung von liqd.net, die ebenfalls kein Wahlgeheimnis kennt. Eine konkrete Adhocracy-Installation müsste sich so nur vor Manipulation seiner Texte schützen. Die Vertrauenswürdigkeit der einzelnen Votes wäre nicht mehr abhängig vom Betreiber. Natürlich muss Tagolution hierfür ebenfalls eine geeignete Auswertungsschnittstelle mitbringen.

Vertrauen

Mit wachsender Verbreitung und Nutzung werden die öffentlichen Profile einzelner Nutzer immer aussagekräftiger, was Methoden zur Selbstregulierung erforderlich macht. So können Unternehmen und Personen durch Tags markiert werden, die sich z.B. nicht als "ehrenhaft" bzw. verantwortungsvoll bei der Nutzung der Daten aus Tagolution erweisen und Nutzer diskriminieren bzw. benachteiligen. Je relevanter die geteilten Daten der Nutzer dabei sind, desto stärker wird die Wirkung einer solchen Negativbewertung. Jeder Nutzer könnte nun sofort sehen, wie das Ansehen dieses Unternehmens in seinem Freundeskreis oder auch im Kreis von Gleichgesinnten ist. Ein absoluter Wert (X wurde 10.000 mal als "verantwortungslos" getaggt) ist hier eher weniger hilfreich, aber ein relativer Wert zu einem wählbaren sozialen Kontext (X wurde bei meinen 20 besten Freunden 10 mal als "verantwortungslos" getaggt) ist sehr aussagekräftig und kann die Meinung einer Person sich mit diesem Unternehmen einzulassen nachhaltig beeinflussen.

Bei Personen angewendet könnte eine solche Abwertung eines Nutzers bei verantwortungslosem Umgang mit der öffentlichen, digitalen Identität eines anderen Nutzers mit der Zeit möglicher Weise zu einer Werteverschiebung führen. So könnte es üblicher werden, persönliche Standpunkte und Meinungen öffentlich zu äußern und einen Teil der Privatsphäre öffentlich zu kommunizieren, auf der anderen Seite könnten wohl Werte wie Authentizität, Vertrauen oder Würde an Bedeutung gewinnen.

Durch eine solche Entwicklung würden auch Sympathie und Antipathie offener ausgelebt, was zu einer Veränderung der Gruppenbildung führen kann, da z.B. Heuchelei von den Nutzern als negativ bewertet wird und so direkt sichtbare soziale Auswirkungen hat. Natürlich haben auch positive Bewertungen, ebenso wie alle anderen Veränderungen des sozialen Kontexts eines Nutzers direkt Auswirkungen auf seinen sozialen Status.

Wollen wir das?

Letztlich steigen wir an dieser Stelle in die Diskussion über die Vor- und Nachteile einer post-privacy-Gesellschaft ein. Kritiker werden wahrscheinlich eben soviele Horrorszenarien malen, wie Verfechter Utopien aufstellen können. Wahrscheinlich liegt die Wahrheit irgendwo in der Mitte und eine solche Gesellschaft muss lernen, mit völlig neuen Problemen umzugehen, während andere schier unlösbar erscheinende Probleme dort keine Rolle spielen.

Das Interessante an Tagolution ist, dass es einfach ausprobiert werden kann. Wir können Erfahrungen damit sammeln, ohne dass davon die ganze Gesellschaft tangiert wäre, und so Schritt für Schritt lernen, damit umzugehen. Der Grund für Tagolution liegt allerdings nicht in "post-privacy", sondern, wie eingangs beschrieben, in dem Wunsch, ein System zu entwerfen, welches der Zivilisation Flexibilität in der Auswahl und Evolution ihrer organisatorischen Methoden und Institutionen bieten kann. Durch die Möglichkeit verschiedene Institutionen oder auch Staaten mit verschiedenen Anwendungen zu organisieren, steht einer Evolution dieser Methoden nichts im Weg. Die vertrauenswürdige Infrastruktur - Tagolution - ist davon unabhängig.

Lust?

Nun ist Tagolution bisher nur eine Idee. Allerdings kann ich nicht ausschließen, dass es bereits eine ähnliche Idee gibt, die mir nur noch nicht bekannt ist. Außerdem braucht diese Idee noch viele Gedanken vieler Menschen. Gedanken, die ebenso mit Gefahren wie mit Chancen spielen, die vorstellbare Szenarien zeichnen, welche sich aus Tagolution ergeben können. Außerdem benötigt die Idee eine konkrete technische Spezifikation und eine Implementierung. Ich möchte jeden herzlich dazu einladen, darüber zu bloggen und sich bei der Entwicklung und weiteren Konzeption von Tagolution einzubringen.

Ich habe eine öffentliche Google Group angelegt, die allerdings keine Inhalte enthält. Wer möchte, kann dort direkt Gedanken zum Thema zur Diskussion stellen oder sich zur Mitarbeit melden. Es ist auch möglich, mich direkt über Facebook oder Google+ anzuschreiben.

Dave Gööck ist geschäftsführender Gesellschafter eines Dienstleistungsunternehmens für Webentwicklung. In seiner Freizeit befasst er sich mit möglichen Zukunftsszenarien.

Der Artikel "Tagolution - Infrastruktur für die Post-Privacy-Demokratie" von Dave Gööck steht unter der CC-Lizenz Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Unported. Er beruht auf einem Text auf goeoeck.net.