Sozialer Hintergrund und Geschlecht beeinflussen Schulnoten

Bildungsforscher Kai Maaz über die Gründe, warum Schüler aus unteren sozialen Schichten eher schlechtere Noten bei gleicher Leistung erhalten, während Mädchen oft besser als Jungen benotet werden

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"Herkunft zensiert? Leistungsdiagnostik und soziale Ungleichheiten in der Schule", lautet eine jüngst veröffentlichte Studie, in der einmal mehr deutlich wird, dass Schichtzugehörigkeit bei der Bewertung von schulischen Leistungen eine gewichtige Rolle spielt. Die Studie, die die Vodafone-Stiftung in Auftrag gegeben hat und von den Bildungsforschern Kai Maaz, Ulrich Trautwein und Franz Baeriswyl durchgeführt wurde, kommt zu dem Ergebnis, dass "Kinder aus sozial benachteiligten Familien ... in der Schule schlechtere Noten als Kinder aus sozial begünstigten Elternhäusern" erhalten. Im Telepolis-Interview geht Kai Maaz, der als Professor für quantitaive Methoden an der Potsdamer Universität lehrt, näher auf die Ergebnisse der Studie ein.

Herr Maaz, die soziale Herkunft spielt im deutschen Bildungssystem keine Rolle. Stimmt die Aussage?

Kai Maaz: Das wäre schön. In der Bildungsforschung ist der Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und sozialer Herkunft der Schüler vielfach untersucht worden. Größte Aufmerksamkeit haben die Befunde der PISA-Studien erfahren, die auf soziale Ungleichheiten der Bildungsbeteiligung und des Kompetenzerwerbs hingewiesen haben. PISA 2000 zeigte, dass es keinem Teilnehmerland gelang, den Kompetenzerwerb im Lesen, in der Mathematik und in den Naturwissenschaften von Merkmalen der sozialen Herkunft zu entkoppeln. Ungleichheiten zwischen sozialen Schichten im Kompetenzerwerb stellen somit ein transkulturelles Problem dar.

Für Deutschland war dieser Zusammenhang in der ersten PISA-Studie am stärksten. Erfreulicherweise deuten die Befunde der letzten PISA-Studie aus dem Jahr 20009 darauf hin, dass sich der Ungleichheitseffekt beim Kompetenzerwerb leicht abgeschwächt hat. Des Weiteren lässt sich für Deutschland ein Ungleichheitseffekt insbesondere beim Übergang in das Gymnasium feststellen.

Was genau haben Sie in Ihrer Studie untersucht?

Kai Maaz: Wir haben uns in unserer Studie mit der Leistungsbewertung in der Schule beschäftigt. Genauer mit der Frage, ob und welche leistungsfremden Schülermerkmale Einfluss auf die Notenvergabe der Lehrkräfte nehmen. Es gibt eine Fülle von anekdotischen Belegen dafür, dass die Leistungsbewertung oftmals ungerecht ist, und die erlebte Ungerechtigkeit wirkt oft noch lange nach. Weniger eindeutig sind die Befunde der empirischen Bildungsforschung.

Im Mittelpunkt unserer Studie stand die Frage, inwieweit bei der Leistungsdiagnostik auch Effekte des sozialen Hintergrunds der Schülerinnen und Schüler eine Rolle spielen, insbesondere in Bezug auf die kritische Phase beim Übertritt von der Grundschule in die Bildungsgänge der Sekundarstufe I. In anderen Worten: Wie stark hängt die Bewertung der Leistung einer Schülerin/eines Schülers - auch - davon ab, welchen familiären Hintergrund sie/er besitzt? Werden Schülerinnen und Schüler mit eher ungünstigem sozialen Hintergrund bei vergleichbaren Leistungen ungünstiger bewertet als ihre Mitschülerinnen und Mitschüler mit günstigerem sozialen Hintergrund? Darüber hinaus haben wir auch untersucht, ob das Geschlecht und der Migrationshintergrund der Schüler mit der Benotung zusammenhängen.

Fassen Sie doch bitte mal ihre Forschungsergebnisse zusammen.

Kai Maaz: Wir konnten zeigen, dass Leistungsbewertung in Form von Schulnoten nicht ausschließlich leistungsrelevanten Kriterien folgt. Vielmehr zeigten sich auch Einflüsse leistungsfremder Merkmale. Hierzu zählen insbesondere der soziale Hintergrund der Schülerinnen und Schüler sowie das Geschlecht. In den Teilstudien konnten Effekte dieser Merkmale sowohl am Beginn der Bildungsbiografie, in der Grundschule, als auch zu einem späteren Zeitpunkt, am Ende der gymnasialen Oberstufe, festgestellt werden. Demzufolge erhielten Kinder aus sozial weniger begünstigten Familien bei gleichen Leistungen in einem standardisierten Leistungstest schlechtere Noten als Kinder aus sozial begünstigten Familien. Geschlechterunterschiede zeigten sich zu Gunsten der Mädchen, die bei gleichen Leistungen in standardisierten Leistungstests bessere Noten erhielten als die Jungen.

Bei den beschriebenen Zusammenhängen zwischen sozialer Herkunft und Schulnoten und Geschlecht und Schulnoten handelt es sich um einen "Bruttoeffekt", bei dem unterstellt wird, dass die Ergebnisse in einem standardisierten Leistungstest ein valides Abbild der Gesamtleistung darstellen. Dies ist jedoch nicht der Fall, da standardisierte Leistungstests immer nur einen Ausschnitt der benotungsrelevanten Fähigkeiten und Verhaltensweisen erfassen. Leistungen im mündlichen Bereich, wie beispielsweise die Mitarbeit im Unterricht und bei den Hausaufgaben, fließen ebenfalls in die Notenvergabe mit ein und könnten für die beschriebenen Effekte verantwortlich sein.

Für die These, dass die unterschiedlich strenge Benotung von Kindern aus verschiedenen sozialen Herkunftsgruppen auf sozialschichtspezifische Ausprägungen motivationaler Merkmale wie Gewissenhaftigkeit oder Anstrengungsbereitschaft zurückzuführen sind, konnten wir keine empirischen Belege finden. Anders beim Geschlechtereffekt: die unterschiedliche Benotung von Mädchen und Jungen ist zumindest teilweise auf Unterschiede in der Anstrengungsbereitschaft und der Gewissenhaftigkeit im Unterricht zurückzuführen.

Worin liegen die Ursachen für diese Chancenungleichheit?

Kai Maaz: Die Gründe für die Ungleichheit liegen zum einen in den Leistungsunterschieden der Kinder unterschiedlicher Herkunftsgruppen, die schon zu Beginn der Schulzeit bestehen. Diese Unterschiede werden zwar in der Grundschule und in der Sekundarschule nicht größer, aber sie werden auch nicht kleiner. Zum anderen sind die unterschiedlichen Benotungspraxen zu nennen, wenngleich sie nur einen vergleichsweise geringen Anteil an der Bildungsungleichheit nehmen. Bezogen auf die Ungleichheit in der Bildungsbeteiligung sind schließlich die Eltern, die zu einem sehr frühen Zeitpunkt eine Entscheidung über den weiteren Bildungsweg für ihr Kind treffen müssen, zu nennen. Wichtig ist, dass diese drei Bereiche nicht isoliert, sondern gleichzeitig betrachtet werden.

Bildungswege müssen so lange wie möglich offen gehalten werden

Diese Probleme sind aber doch schon länger bekannt. Warum tun sich die Verantwortlichen im deutschen Bildungssystem so schwer damit, die Rahmenbedingungen zu ändern?

Kai Maaz: Diese Frage kann ein Bildungspolitiker sicher besser beantworten als ein Bildungsforscher. In der Tat sind die Probleme schon länger bekannt und auch in der Bildungsforschung seit vielen Jahren gut dokumentiert. Forschungen, die sich mit der Frage beschäftigen, wo und wie soziale Ungleichheiten entstehen, gibt es bislang noch relativ wenige. Aber es gibt auch Bewegung in der Schullandschaft. Der Trend zu einem Zwei-Säulen-Modell im Sekundarschulbereich, das nur zwischen dem Gymnasium und einer weiteren Schulform unterscheidet, wäre eine solche Entwicklung.

Was müsste getan werden, um die angesprochenen Nachteile für Kinder aus bildungsfernen Schichten aus dem Weg zu räumen?

Wichtig ist es, Bildungswege so lange wie möglich offen zu halten. Eine zu welchem Zeitpunkt in der Bildungsbiografie auch immer getroffene Bildungsentscheidung darf nicht in eine Sackgasse führen. Die Entscheidung, das Abitur erwerben zu wollen, muss auch nach dem Übergang in das Sekundarschulsystem ohne größere Verzögerungen möglich sein. Bildungssysteme, in denen wie in Berlin an allen Schulen des Sekundarschulsystems alle allgemeinbildenden Abschlüsse erworben werden können oder Bildungssysteme mit einer ausdifferenzierten Oberstufe, wie beispielsweise in Baden-Württemberg, mit den beruflichen Gymnasien, sind hier zu nennen.

Unabhängig von der Struktur ist es wichtig, bei den Leistungsunterschieden der Kinder anzusetzen und Kinder aus sozial schwächeren Familien gezielt zu fördern. Wenn es uns gelingt, diese Leistungsunterschiede zu egalisieren, würden wir einen Großteil der Ungleichheit sowohl des Kompetenzerwerbs als auch der Bildungsbeteiligung beseitigen können.

Haben Sie einen Rat für Eltern, die merken, dass ihr Kind möglicherweise wegen seiner sozialen Herkunft benachteiligt wird? Was könnten diese Eltern unternehmen?

Kai Maaz: In Ihrer Frage steckt schon ein Großteil der Antwort. Schule ist keine Angelegenheit zwischen Schülern und Lehrern. Auch die Eltern gehören dazu. Ich fände es wichtig, Eltern gerade aus den sozial weniger begünstigten Familien noch besser über die Möglichkeiten unterschiedlicher Bildungslaufbahnen zu informieren. Wenn Eltern erkennen, dass man mit einem Abitur bessere Ausbildungschancen hat und ein Hochschulabschluss zu höheren Einkommen führt und auch besser vor Arbeitslosigkeit schützt, werden sie sicher alles daran setzen, dass ihr Kind einen möglichst guten Abschluss macht und das Kind fördern.

Um auf Ihre Frage zurückzukommen: Wenn Eltern erkennen, dass Ihr Kind aufgrund seiner sozialen Herkunft möglicherweise benachteiligt werden könnte und so sein Bildungspotenzial nicht entfalten kann, ist schon viel erreicht. Problematischer ist es möglicherweise, Eltern aus den sozial weniger begünstigten Herkunftsgruppen vom hohen Wert von Bildung zu überzeugen.