Der Deutschland-Flop

Bildungsministerin Annette Schavan sieht die Bundesrepublik auf dem Weg zu einer "echten Stipendienkultur". Das Prestigeprojekt aus ihrem eigenen Haus stößt allerdings auf geringes Interesse

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Auch wenn die Bildungsreformen in Deutschland allenfalls schleppend vorankommen – um Schlagworte, die aufmunternde Perspektiven erahnen lassen, sind die politischen Verantwortungsträger nicht verlegen. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wirbt auf ihrer Homepage für die "Bildungsrepublik Deutschland" und schaut genau hin, wenn der forschungsfreudige Nachwuchs zum technischen Gerät greift.

Bundesbildungsministerin Annette Schavan bei der Auftaktveranstaltung am 1. Februar 2011 mit den ersten Stipendiaten. Bild: BMBF

Ihre Parteifreundin und Kabinettskollegin Annette Schavan ahnt derweil eine unionsgeführte Kulturrevolution voraus, die den Wissenschaftsstandort Deutschland "nachhaltig verändern" soll. Neben BAföG und Studienkrediten soll mit dem Deutschland-Stipendium eine dritte Säule der Studienfinanzierung etabliert werden, denn zu einem "modernen und gerechten Bildungssystem" gehören nach Ansicht der Ministerin alle drei.

Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik sind wir dabei, eine echte Stipendienkultur zu schaffen, wie sie in anderen Ländern längst existiert.

Annette Schavan

Halbe Wahrheiten

Das stimmt leider nicht, auch wenn die Gesamtzahl der Stipendiaten von 16.400 im Jahr 2005 auf 37.000 im Jahr 2011 deutlich angestiegen ist. In der optimistischen Pressemeldung des Ministeriums ist allerdings keine Rede davon, dass 2005 noch weniger als zwei Millionen Studierende an den deutschen Universitäten und Fachhochschulen eingeschrieben waren. Im laufenden Wintersemester 2011/12 wird die Zahl der Nachwuchsakademiker dagegen auf 2,4 Millionen geschätzt.

Noch aufschlussreicher sind die fehlenden Ausführungen zum sogenannten "Deutschlandstipendium", mit dem die schwarz-gelbe Bundesregierung die Studienfinanzierung in Deutschland grundlegend reformieren wollte. Die Beihilfe beträgt 300 Euro im Monat, die zur Hälfte vom Bund aufgebracht und zur anderen Hälfte von privaten Geldgebern getragen werden. "Rund" 5.500 dieser Stipendien seien seit dem Start im Sommersemester 2011 vergeben worden, "rund" drei Viertel der 388 Hochschulen in Deutschland hätten sich an dem Programm beteiligt und zu diesem Zweck "etwa" 10 Millionen eingeworben.

Auf der Themenseite des Bildungsministeriums schmilzt diese Summe schon wieder auf 8,6 Millionen, und weder hüben noch drüben wird in den aktuellen Erfolgsmeldungen noch einmal explizit darauf hingewiesen, dass 2011 eigentlich 10.000 Stipendien vergeben werden sollten.

Nach Medienberichten, die sich auf eine Kleine Anfrage des Bundestagsabgeordneten Klaus Hagemann (SPD) stützen, beteiligte sich ein Viertel der deutschen Hochschulen aus strukturellen Gründen oder schlichtem Desinteresse erst gar nicht an der fröhlichen Jagd auf private Investoren. Die von Annette Schavan angepeilte Quote soll nur das Saarland erreicht haben, während die Hochschulen in Berlin (165 Deutschlandstipendien statt 637) oder Hamburg (16 Deutschlandstipendien statt 328) bislang weit hinter den Zielmarken zurückblieben.

"Hochschulleitungen schaden Studierenden"

Für die FDP ist der Fall deshalb klar. Der schwächelnde Koalitionspartner hält das Deutschlandstipendium für ein Erfolgsmodell – und doch irgendwie auch nicht. Für alle Fälle diagnostiziert die Bundesvorsitzende der Liberalen Hochschulgruppe eine "Verweigerungshaltung" an den deutschen Bildungstempeln. Deren Ursache sei in veralteten Strukturen zu suchen, dabei brauche man nun Hochschulleitungen, "die bereit sind, neue Wege für eine nachhaltige Finanzierung und bessere Studienbedingungen zu gehen", meint Kristina Kämpfer.

Besonders enttäuscht ist die junge Liberale von einer der Galionsfiguren der "unternehmerischen Hochschule". Dabei sei Hamburgs Uni-Präsident Dieter Lenzen doch eigentlich ein "moderner Hochschulmanager".

Daher ist sein Boykott des Deutschlandstipendiums für mich unverständlich. Hamburgs Wirtschaft bietet enormes Potential für Stipendien und darüber hinaus auch für weitere private Hochschulinvestitionen. Schaden tut Präsident Lenzen somit nur denen, in dessen Dienst er steht: den Studierenden!

Kristina Kämpfer

Opposition setzt auf BAföG

Hat sich Dieter Lenzen etwa mit den in Hamburg regierenden Sozialdemokraten und dem in Berlin agitierenden Klaus Hagemann solidarisiert, der das Prestigeprojekt der Bildungsministerin seit Monaten als "Luftschloss" verunglimpft?

Die SPD lehnt das Deutschlandstipendium mehr oder weniger geschlossen ab, auch wenn die Genossen in Nordrhein-Westfalen das als Testballon entwickelte Stipendienprogramm der Vorgängerregierung bis 2014 weiterführen und so lange ganz unbekümmert darauf hinweisen, dass NRW "als einziges Bundesland" gemeinsam mit privaten Stiftern begabte Studierende unterstützt.

Die Einschätzung von Holger Mann, Sprecher für Hochschule und Wissenschaft im Sächsischen Landtag, ist bei den Sozialdemokraten dennoch mehrheitsfähig. Er möchte die staatliche Förderung lieber in den "Ausbau des BAföGs" stecken.

Auch Grüne und Linke lehnen das Stipendiensystem in der jetzigen Form ab. Kai Gehring, Sprecher für Bildungs- und Hochschulpolitik bei Bündnis 90/Die Grünen, vermutete bereits im Februar, dass dem "Studierenden-Boom" eine Stipendien-Flaute gegenüberstehen würde, und die Linkspartei befürchtet, "dass neue Abhängigkeiten der Hochschulen entstehen und private Geldgeber und die Wirtschaft über die Verwendung öffentlicher Gelder entscheiden".

In der Stipendienfrage – und bei der Suche nach alternativen und/oder bewährten Formen der Studienfinanzierung - zeichnet sich somit ein seltener Konsens zwischen den drei Oppositionsparteien ab.

Das BAföG ist, wenn auch mit Einschränkungen, eine vergleichsweise verlässliche Form der Ausbildungsfinanzierung. Die vage Aussicht auf ein Stipendium - oder anders gesagt: das Recht an einem Auswahlverfahren teilzunehmen - wird kaum die finanziellen Nöte vieler Studieninteressierten lindern, zumal niemand von einem 300 Euro-Stipendium seinen Lebensunterhalt bestreiten kann.

DIE LINKE

Auch von Seiten der Piraten, die sich Hoffnungen machen, im nächsten Bundestag vertreten zu sein, droht Schavans Prestigeprojekt, wenn es denn zur Abstimmung steht, wohl ein vorzeitiges Ende. Verschiedene Landesverbände, so etwa die Piraten in Rheinland-Pfalz oder Mecklenburg-Vorpommern, haben sich klar gegen "weitere Exzellenz-Initiativen und Elite-Förderungen" und für die Aufstockung des BAFöG ausgesprochen.

Die "besten zehn Prozent"

Das Thema Stipendien bestimmt nicht die Schlagzeilen und zeigt doch eindrucksvoll, wie die Bundesregierung allerorten an den politischen Notwendigkeiten vorbeioperiert, um weiter unverdrossen die eigene Klientel zu unterstützen. "Mittelfristig ist es unser Ziel, dass die besten zehn Prozent unserer Studierenden ein solches Stipendium erhalten", hatte Annette Schavan im Februar 2010 erklärt und dabei geflissentlich übersehen, dass die mangelnde Förderung leistungsstarker Studenten nun gerade nicht zu den zentralen Problemen des deutschen Bildungssystems gehört.

Stattdessen muss die Politik einen Weg finden, damit Kinder aus schwierigen sozialen Verhältnissen und bildungsfernen Familien überhaupt eine Chance bekommen, ihre Qualitäten unter Beweis zu stellen. Mit einem Stipendienprogramm, das fast ausschließlich auf herausragende Studienleistungen setzt oder im FDP-Jargon den Dreiklang "Leistung zählt. Engagement zählt. Persönlichkeit zählt" propagiert, wird die soziale Schieflage sicher nicht begradigt.

Dabei weiß man im Bildungsministerium genau, wo die Hebel angesetzt werden müssten, wenn die Weichen ernsthaft neu gestellt werden sollen. Kurz vor Weihnachten erschien auf der Homepage ein Topthema, das sich scheinheilig den Bildungsverlierern dieser Republik widmete.

Noch viel zu oft entscheidet die Herkunft darüber, ob Jugendliche studieren oder nicht. Eltern sind Vorbilder für ihre Kinder, das gilt auch für die Bildungswege. So nehmen von 100 Akademikerkindern in Deutschland immerhin 71 ein Hochschulstudium auf. Von 100 Kindern nicht akademischer Herkunft studieren dagegen nur 24. Denn deren Eltern fühlen sich oft hilflos: Sie wissen nicht, ob sie ihre Kinder während des Studiums finanziell und inhaltlich unterstützen können.

Bundesministerium für Bildung und Forschung, 21.12.2011

Dass die Politik für diese Situation nur sehr bedingt verantwortlich ist, geht aus Fragen an Katja Urbatsch, Gründerin des Netzwerks arbeiterkind.de, hervor. "Warum unterstützen viele Eltern ihre Kinder nicht, wenn die studieren wollen?", fragt das Bildungsministerium empört, um dann auf die annähernde Unmöglichkeit einer gesellschaftlichen und bildungspolitischen Lösung hinzuweisen.

Viele dieser Kinder kommen aus kaputten Familien, haben vor der Schule nicht gefrühstückt und leben in Elternhäusern voller Streit und materiellen Sorgen. Können Schule und Gesellschaft diese Lücke wirklich füllen?

Bundesministerium für Bildung und Forschung, 21.12.2011

Oder sollten sie sich nicht lieber auf die Förderung von "Leistung, Engagement und Persönlichkeit" konzentrieren? Das Programm des Deutschlandstipendiums soll in diesem Jahr jedenfalls von rund 10 auf mehr als 36 Millionen Euro aufgestockt werden.