Play the Literature

"Bad Mojo" (1996): Kafkas "Verwandlung" als Pate

(Hoch-)Literatur und neues Medium Games - eine Provokation?

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Narrative Games-Experimente arbeiten an interessanten Hybriden

Wie Telepolis kürzlich vermeldete, werden durch das Auslaufen der Verwertungsrechte 2012 die Werke von James Joyce gemeinfrei. Der US-Literaturprofessor und Joyce-Experte Sean Latham stellte thematisch dazu passend eine auf den ersten Blick gewagte Idee vor: Gemeinsam mit seinen Studenten fantasierte er darüber, "Ulysses" als Computerspiel herauszugeben - vor allem, um die Joyce-Erben so richtig zu ärgern. Trotz dieser für Games-Verfechter ernüchternden banalen Motivation ist es erfrischend, dass auch die strengste Riege der Literaturgrößen inzwischen - wenn auch nur halb im Scherz - das neue Medium in seiner Existenz bemerkt.

Dass ausgerechnet Grand Theft Auto als Beispiel herhalten muss, ist sicher einerseits der großen Popularität des Titels als auch andererseits seinem Genre geschuldet: Als Open-World-Game bietet sich die offene Welt à la GTA besonders gut für Werke an, die weniger durch lineare Handlung als durch Atmosphäre und episodenhaftes Erzählen bestechen. Open-World-Titel wie GTA oder jüngst Skyrim leben davon, dass der Spieler sich relativ frei in ihnen bewegen und sich auch abseits narrativer Linearität selbst beschäftigen kann - eine Eigenschaft, die manchen Werken eher zugutekommen würde als anderen.

Burroughs’ "Interzone - The Game"?

Dazu passt, dass der britische Games-Journalist und Autor Jim Rossignol vor einiger Zeit laut über ein Spiel zu William S. Burroughs nachgedacht hat einen anderen großen experimentellen Autor des 20. Jahrhunderts. Auch Rossignol sieht eine offene Welt wie in GTA als Leinwand für eine Spielerfahrung, die dem "Eintauchen" in die kolossalen Welten der experimentellen Erzähler durchaus nahekommen könnte:

No narrative, all side quests," says Greg J Smith. That suits the Burroughsian idea, of course. And yet you can see how a Burroughs quest structure might work: a fragmentary mass of clues leading towards one inevitability. "The Old Writer would write himself out of death." The endgame would be immortality, access to The Western Lands, and you’d find your way in the city. There might not be a story - perfect for the random sandbox play of the city in which a player is wandering, exploring, struggling - but that doesn’t mean there wouldn’t be an ending.

Ein interessanter Twist: Zwei experimentelle Autoren, die in ihrem Werk das lineare Erzählen revolutionierten oder zerstörten (Burroughs hat in seinen Cut-ups den Text ja tatsächlich physisch fragmentiert und neu zusammengesetzt), werden als Formgeber für ein anderes digitales Erzählen genannt, das den Spieler und seine Handlungsfreiheit als Arrangeur einer Handlung versteht. Als spielerische Elemente bietet Rossignol auch gleich einige rudimentäre Spielmechaniken für sein Gedankenprojekt:

The first is morphia: addiction. ... The longer you go without a hit, the harsher visuals and audio becomes, the more complex interactions are. ... Too long and you begin to lose control: the avatar wanders on his own, ravenous for junk. ... a tricky kind of videogame resource management: take too much and you’re fade out, overdosing, resetting to zero. Wake up in a bed in a dark room, sunlight through a single dirty pane.

Dass Burroughs ein berüchtiger Waffen-Freak war und das Haus nie ohne Revolver verließ, sollte im neuen Medium - bei allem Zug zur Seriosität - auch nicht schaden.

"The Dark Eye" (1995): Frühes Experiment an der Schnittstelle zwischen Games und Literatur

Burroughs würde einem derartigen Projekt vermutlich nicht abgeneigt sein, vor allem, da er selbst an einem Videospiel beteiligt war: 1995 sprach er in seiner unverwechselbaren Art Texte für das Adventure The Dark Eye ein, das als eines der ersten Spiele mit direktem Bezug zur (Hoch-)Literatur gelten kann:

Structurally, the game was a point-and-click adventure fueled by the macabre stories of Edgar Allan Poe. The player could experience three of the stories ("The Cask of Amontillado", "The Tell-Tale Heart", and "Berenice" from the perspectives of both murderer and victim. The poem "Annabel Lee" can be read while playing the victim in "Berenice".

wikipedia

Neben Joyce und Burroughs würde sich auch ein anderer literarischer Autor anbieten, dessen unverwechselbare literarische Welten als Gedankenexperiment ein interessantes Games-Umfeld abgeben könnten: Franz Kafka. Es wäre eine fantastische Herausforderung, Kafkas Miniaturen, Figuren und fragmentierte Skizzen zu einem Ganzen zusammenzufügen, das der Spieler selbst erforschen kann. Viele Elemente aus Kafkas Werk ließen sich auch im Medium Games umsetzen; vor allem Kafkas wiederkehrendes Motiv vom Eindringen in labyrinthische bürokratische Strukturen, wie etwa in Das Schloss oder Der Prozess, würden sich für eine Umsetzung in Spielwelten oder zumindest unverwechselbare interaktive Umgebungen anbieten.

Zu seinem berühmtesten Werk - Die Verwandlung - gibt es bereits ein Spiel: Bad Mojo (1996) basiert lose auf Kafkas wohl berühmtestem Werk und lässt den Spieler in Form einer Kakerlake über und durch alltägliche Gegenstände navigieren.

Neues Erzählen im Spiel

Natürlich lassen sich derartige Gedankenexperimente über eine organische Verbindung von (Hoch-)Literatur und Games kaum mit dem Mainstream der aktuellen Games-Konventionen unter einen Hut bringen: Der Massenmarkt und seine Bestseller, von Modern Warfare bis zu Farmville, lässt um ihre Säulenheiligen besorgte Literaturfreunde entsetzt das Weite suchen. Dass anspruchsvolles Erzählen und die Bearbeitung komplexer Themen im interaktiven Medium aber nicht undenkbar ist, beweisen weniger die darum bemühten Tripel-A-Titel wie etwa Heavy Rain, die als kommerzielle Wagnisse in Themenwahl und Innovationslust stets auf Nummer sicher gehen müssen, sondern die unzähligen Experimente im Independent-Bereich, in dem Einzelne bei weitem kühner ihre Visionen von der Zukunft des Erzählens im Spiel verwirklichen können.

Dass Games inzwischen auch durchaus imstande sind, mit wenig "Action" oder genretypischen Zutaten ästhetisch und inhaltlich avancierte Welten umzusetzen - und das wären jene der Literatur wohl am augenscheinlichsten -, beweisen unter anderem die höchst empfehlenswerten Mod-Projekte von Daniel Pinchbeck. Mit Dear Esther und Korsakovia hat er im Auftrag der Universität Portsmouth, die sein Projekt zum experimentellen Storytelling in Games unterstützte, zwei höchst interessante Beiträge zu einem "anderen" Spielen greifbar gemacht, das einen möglichen Brückenschlag zur Literatur darstellen könnte.

"Korsakovia" (2010): Dan Pinchbecks Experiment versetzt uns in den Kopf eines psychisch Kranken.

Dear Esther versetzt den Spieler in First-Person-Perspektive in eine traumähnliche, surreale Welt auf einer Hebriden-Insel; bei der Erforschung dieser seltsam leblosen, verlassenen Wildnis findet der Spieler subtile Hinweise auf die zugrundeliegende Geschichte, die zugleich von einer Stimme aus dem Off in Fragmenten weiter erhellt wird. Dear Esther ist weniger klassisches Spiel als narrative Meditation mit den Mitteln des Mediums Computerspiel: Es gibt keine Gegner, keine Rätsel und keine auf den ersten Blick offensichtliche Aufgabe; der Reiz des Eintauchens in die sich langsam eröffnende Welt hat durchaus etwas mit dem (Auf-)Lesen einer Narration gemeinsam, was vor allem die in den jungen Games-Wissenschaften wildernden Kulturwissenschafter in ihrer These vom Medium Spiel als essenziell narratives bestärken dürfte.

Der kritische Erfolg des ursprünglich als Freeware-Modifikation für Valves Half-Life 2 herausgegebenen Games-Experiments führte dazu, dass Dear Esther 2012 als Standalone-Titel neu produziert und somit einem bedeutend größeren Publikum zugeführt werden wird; Anfang Februar erscheint das Esperiment an der Schnittstelle zwischen Literatur und Spiel mit rundum erneuerter Grafik als Remake und konnte sich schon vorab als Favorit in den prestigeträchtigen Independent Games Festival Awards 2011 behaupten.

"Dear Esther" (2012): Der Favorit der IGF-Awards besticht grafisch und erzählerisch.

Auch Pinchbecks direkt der Ursprungsversion von Dear Esther nachfolgendes Projekt ging in eine ähnlich experimentelle Richtung: Als blinder Heilanstaltspatient mit dem Korsakoff-Syndrom, das die Unterscheidung zwischen Realität und Wahnvorstellung unmöglicht macht, navigiert der Spieler in Korsakovia durch eine zunehmend fragmentarischer werdende Innenwelt. Auch hier ergibt sich durch die Wechselwirkung zwischen spielerischer Aktion und dieser zum Teil widersprechenden Narration aus dem Off ein interessanter Kontrast, der auktoriales Erzählen und spielerisches Handeln zusammenführte - ein Kunstgriff, der auch souverän die dem Medium eigenen Mittel zu ihrem Recht kommen lässt. Korsakovia ist mehr "Spiel" als Dear Esther, bietet dem Spieler also mehr Aktionsmöglichkeiten, bleibt aber dem experimentellen Ansatz Pinchbecks treu. Auch das letztes Jahr in Kritikerkreisen gefeierte The Stanley Parable, ebenso eine Modifikation, experimentierte mit der Autorität des Erzählers in einem narrativen Medium, das zumindest die Illusion freier Willensentscheidung bietet.

Im Lichte dieser und ähnlicher Experimente erscheint eine mögliche Verschmelzung avancierter literarischer Texte wie jener von Joyce, Burroughs oder Kafka nicht mehr so absurd, wie von Sean Latham mit seiner als Provokation gemeinten Ansage beabsichtigt. Hybride Spiele, die zwischen Narration, Atmosphäre und spielerischem Handeln changieren, könnten sogar als Blaupause für eine neue Art des Spielens funktionieren - nicht als Ersatz für die als "unreif" behauptete gegenwärtige Form, sondern als Erweiterung um ein ästhetisches und inhaltliches Element, das bislang fehlt.

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