Falsche Weichenstellungen in der Arbeitsmarktpolitik

Grafik: Knuth/Hans Böckler Stiftung

Jahrelange Flexibilisierung und doch kaum Mobilität - Eine aktuelle Studie diagnostiziert strukturelle Fehler der deutschen Reformpolitik

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Die guten Meldungen reißen nicht ab: Die Arbeitslosenquote ist in Deutschland auf das Niveau der frühen 1990er Jahre gesunken, während die Zahl der Erwerbstätigen bei mehr als 41 Millionen liegt und seit knapp einem Jahr immer neue Spitzenwerte erreicht. Trotz tiefgreifender Probleme im Euroraum und nachwirkender Wirtschafts- und Finanzkrise scheint das "deutsche Jobwunder", das sich dutzendfach durch die Gazetten schlängelt, nicht gefährdet zu sein.

Wer nur die Zahlen betrachtet, muss davon ausgehen, dass sich die deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vor Begeisterung gar nicht zu halten wissen - und ihre so segensreich wirkenden Parlamentarier auf Händen zur nächsten Bundestagswahl tragen.

Unterschiedliche Befunde

Das ist offenkundig nicht der Fall. Dabei kommen selbst Kritiker jener berühmt-berüchtigten, von der rot-grünen Bundesregierung eingeleiteten Reformen, die den deutschen Arbeitsmarkt insgesamt flexibler gestalten sollten, nicht an dem Eingeständnis vorbei, dass positive Resultate erzielt wurden. Die Chance, den Status Arbeitslosigkeit zugunsten einer Erwerbstätigkeit zu verlassen, sei stärker gewachsen als das umgekehrte Risiko, nämlich durch den Verlust der Erwerbstätigkeit arbeitslos zu werden, meint Matthias Knuth, Soziologe am Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen:

Zweifellos müssen wir also von "Drehtüreffekten" ausgehen, aber es gehen doch mehr in die Drehtür hinein, als wieder herauskommen.

Matthias Knuth

Die Entwicklung der letzten Jahre hat allerdings auch Phänomene hervorgebracht, mit denen sich die Elterngeneration der heutigen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer noch nicht oder nur am Rande beschäftigen musste. Der Anteil der befristeten Neueinstellungen ist ebenso gestiegen wie die Zahl der Zeitarbeitsverhältnisse. Der Billiglohnsektor boomt, und die Lohnspreizung ist in neue Dimensionen vorgestoßen.

Gleichzeitig steigt die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, dem zudem immer wenige Deutsche positive Seiten abgewinnen können. Was nicht nur an der Entwicklung der Lohnpolitik liegt, die auch in der aktuellsten, den Anstieg der Verbraucherpreise einbeziehenden Betrachtung wenig Anlass bietet, auf eine nachhaltige Stärkung der Binnennachfrage zu hoffen. "Seit Mitte der 1980er Jahre nimmt die Arbeitszufriedenheit von Beschäftigten in Deutschland in einem langfristigen Trend ab", heißt es in einer 2011 veröffentlichen Untersuchung des IAQ.

Die DAK hat in einem 12-jährigen Beobachtungszeitraum sogar eine "deutliche Verschiebung des Krankheitsspektrums" festgestellt. Seit 1997 hätten sich Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen verdoppelt, während Herz-Kreislauf-Erkrankungen um 30 Prozent zurückgegangen seien. Mitte Dezember stellte die OECD den Bericht Sick on the Job? Myths and Realities about Mental Health and Work vor, der diesen Befund bestätigt.

Jeder fünfte Arbeitnehmer leidet unter psychischen Erkrankungen. Drei Viertel der Betroffenen geben an, dieser Zustand beinträchtige ihre Produktivität und das Arbeitsklima. (...) Wachsende Jobunsicherheit und Druck am Arbeitsplatz könnten dazu beitragen, dass sich diese Entwicklung in den kommenden Jahren noch verschärft.

OECD, 12. Dezember 2011

Der zähflüssige Arbeitsmarkt

Der deutliche Sprung des Stellenindexes der Bundesagentur für Arbeit BA-X und das Plus an offenen Stellen im November zeigen, dass der Durst nach Arbeitskräften ungestillt ist. Sorge bereitet mir, dass die Unternehmen aktuell im Schnitt 14 Tage länger brauchen, um offene Stellen zu besetzen als noch vor einem Jahr.

Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen im November 2011

Insgesamt also ein widersprüchliches Bild, das Matthias Knuth mithilfe eines interdisziplinären Ansatzes zu interpretieren versucht. Er analysiert deshalb weder einzelne Instrumente noch Personen, sondern versucht, einen Überblick über die Funktionsweise des gesamten Arbeitsmarkts zu gewinnen. Die Frage, ob es über Jahre gelungen ist, hier die Mobilität und Dynamik zu erhöhen, bietet sich an – schließlich war die Flexibilisierung ein zentrales Anliegen des rot-grünen Reformprojekts, das von Union und FDP in weiten Teilen unterstützt wurde.

Grafik: Knuth/Hans Böckler Stiftung

Das Ergebnis ist allemal aufschlussreich, denn trotz positiver Wirtschaftsdaten und Befristungen aller Art hat die Fluktuation abgenommen, der Arbeitsmarkt ist insgesamt "zähflüssiger" geworden:

Das Verhältnis von Nachfrage und Angebot am Arbeitsmarkt ist günstiger geworden; auch "die Stille Reserve" ist stark gesunken. Diese für die Anbieter von Arbeitskraft günstiger gewordenen Knappheitsverhältnisse schlagen sich jedoch weitaus weniger als in früheren Wachstumsperioden in einer Zunahme von Betriebswechseln der Beschäftigten nieder. (…) Obwohl oder auch gerade weil der Anteil von Arbeitsverhältnissen gewachsen ist, die von vornherein mit einem Verfallsdatum versehen sind, kommt es insgesamt nicht zu mehr, sondern zu weniger Übergängen am Arbeitsmarkt.

Matthias Knuth

Der Wissenschaftler stützt diese These auf drei unterschiedliche Gruppen. In den Reihen der Beschäftigten sei die Tendenz zu beobachten, den aktuellen Job so lange wie möglich zu behalten. Tatsächlich hat die Betriebszugehörigkeit mittlerweile einen Durchschnittswert von mehr als zehn Jahren erreicht. Kurzzeitarbeitslose finden aktuell sehr viel schneller eine neue Beschäftigung als in vorangegangenen Jahren. Sie sorgen in erster Linie für das Absenken der Arbeitslosenquote, doch eine Qualitäts- oder gar Einkommenssteigerung erleben sie in aller Regel nicht. Das hohe Tempo, mit dem sie wieder einen Job finden, hängt nach Einschätzung von Matthias Knuth mit ihrer "gewachsenen Konzessionsbereitschaft" zusammen.

Bei langzeitarbeitslosen Hartz-IV-Empfängern stellt sich die Situation völlig anders dar. Die Zahl der "erwerbsfähigen Leistungsberechtigten" sei seit dem Höchststand im April 2006 (bis zum April 2011) nur um 13 Prozent gesunken, während die Zahl der Arbeitslosen in diesen fünf Jahren insgesamt um rund 36 Prozent abgenommen habe.

Hartz IV: Perfekte Drohkulisse für Erwerbstätige

Aus der Hartz-IV-Falle gibt es also nur selten ein Entrinnen, doch seine Funktion erfüllt das Reformpaket offenbar trotzdem. Immer mehr Erwerbstätige sind bereit, zu suboptimalen Bedingungen unterhalb ihrer Qualifikation zu arbeiten, weil das, was danach kommt, noch schlimmer ist.

"Vor allem bei denjenigen, die erst seit kurzer Zeit arbeitslos seien, habe die Drohkulisse Hartz IV gewirkt", wurden "Ökonomen" zitiert, die sich im Jahr der Agenda 2010 zu Stellungnahmen berufen fühlten. Der Forscher des IAQ kommt auf der Suche nach Gründen für die schwach ausgeprägte Mobilität am flexibilisierten Arbeitsmarkt zum gleichen Ergebnis.

Das verstärkte "Fordern und Fördern" des SGB II wirkt also offenbar weniger auf diejenigen, die dieser Behandlung ausgesetzt sind, als auf jene, die sie vermeiden wollen. Das sind zum einen die noch versicherten Bezieherinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld, die (…) rascher und offenbar bereitwilliger eine Erwerbstätigkeit auch zu schlechteren Konditionen aufnehmen – mit dem positiven Effekt kürzerer abgeschlossener Arbeitslosigkeitsdauern und andererseits dem Risiko unterwertiger oder atypischer Beschäftigung. Zum anderen wirkt das neue Arbeitsmarktregime auf die Beschäftigten, die das Risiko von Arbeitslosigkeit trotz sinkender Arbeitslosenzahlen höher bewerten als vor den Hartz-Reformen, weil sie nur für kürzere Zeit mit Lohnersatzleistungen rechnen können, die am früheren Einkommen bemessen sind.

Matthias Knuth

In der Summe haben die Reformen und die Art der Krisenbewältigung die Position der Beschäftigten in Deutschland keineswegs verbessert. Für viele Arbeitsplätze im "Job-Wunderland" muss ein hoher Preis gezahlt werden, der noch nicht einmal endgültig fixiert ist:

Die Stabilisierung von Beschäftigung bei subjektiv gesteigerter Unsicherheit garantiert einen umfassenderen, flexibleren und unmittelbareren Zugriff auf Arbeitskraft als im Alternativfalle extern-numerischer Flexibilisierung, die den Charakter einer Drohkulisse annimmt, mit der die interne Flexibilisierung durchgesetzt wird.

Matthias Knuth

Aktive Arbeitsmarktpolitik und Ausbau der Arbeitslosenversicherung

Deutschland ist und bleibt Anker für Stabilität und Wachstum in Europa. Nach zwei außergewöhnlich wachstumsstarken Jahren ist die deutsche Wirtschaft nach wie vor in einer erfreulich robusten Verfassung. (...) Maßgeblich hierfür ist der ausgesprochen positive Dreiklang aus steigender Beschäftigung, wachsenden Einkommen und stabilen Preisen. Die Bundesregierung wird mit ihrer Wirtschaftspolitik das Wachstum nach den Grundsätzen der Sozialen Marktwirtschaft stärken und verstetigen.

Philipp Rösler, Bundesminister für Wirtschaft und Technologie am 18.01.2012

Gegen mehr Mobilität und Dynamik wäre nichts einzuwenden. Wenn sie denn Arbeitslose und Beschäftigte in die Lage versetzen würde, sich für ambitioniertere und besser bezahlte Aufgaben zu empfehlen. Doch die Entwicklung der im Fachjargon wohlklingenden "Mobilitätsketten in höherwertige Beschäftigung" ist kein großes Thema der deutschen Arbeitsmarktpolitik.

Matthias Knuth ist allerdings davon überzeugt, dass auf diese Weise nicht nur der behauptete Fachkräftemangel von vornherein ausgeschlossen, sondern auch neue Möglichkeiten für Menschen geschaffen werden könnten, die im Moment keine realistische Chance haben, eine halbwegs adäquate Beschäftigung zu finden. Zu diesem Zweck müsse allerdings auch darüber nachgedacht werden, die Arbeitslosenversicherung moderat auszubauen, ohne generell auf Anreizelemente zu verzichten. Die Perspektive einer längeren, "von Bedürftigkeit unabhängigen maximalen Leistungsdauer" sei allerdings unabdingbar.

So sieht es – unter vielen anderen – auch der Paritätische Gesamtverband, der vor wenigen Tagen die "sprunghaft gestiegene Armut unter Erwerbslosen" scharf kritisierte.

Mit den politischen Eingriffen seit der Einführung von Hartz IV hat man die Arbeitslosenversicherung mutwillig ins Leere laufen lassen. Eine Pflichtversicherung, die nur in jedem dritten Schadensfall greift und auch dann nicht einmal zuverlässig vor Hartz IV schützt, wenn die Menschen jahrelang eingezahlt haben, grenzt an Abzocke.

Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen

Der Wissenschaftler formuliert sein Unbehagen ein wenig vorsichtiger, plädiert aber für einen noch fundamentaleren Ansatz.

Die Arbeitsmarktpolitik muss wieder dazu kommen, gesamtwirtschaftliche Rationalitäten durchzusetzen, statt einzelwirtschaftlichen Wünschen nachzulaufen.

Matthias Knuth

Bis derart Naheliegendes und doch so Unwahrscheinliches geschieht, werden allerdings wohl noch einige Regierungen durchs Land ziehen ...