Arbeit macht zunehmend psychisch krank

Besonders atypisch Beschäftigte leiden unter ihren Arbeitsbedingungen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Glaubt man den Veröffentlichungen der Regierung und der Bundesagentur für Arbeit, dann müsste es den deutschen Arbeitnehmern so gut gehen wie schon lange nicht mehr. Nur 2,976 Millionen Menschen waren im vergangenen Jahr in Deutschland im Schnitt erwerbslos, das ist der niedrigste Stand seit 20 Jahren. "Das Jahr 2011 kann als das mit Abstand erfolgreichste Jahr für die Erwerbstätigen im wiedervereinigten Deutschland bezeichnet werden", feiert beispielsweise Wirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) die derzeitige Lage am Arbeitsmarkt. Doch ein Blick hinter diese Erfolgszahlen zeigt: Für die arbeitende Bevölkerung in Deutschland sind keinesfalls goldene Zeiten angebrochen.

Denn die Arbeitsbedingungen hierzulande machen oftmals krank. Darauf weist die Gewerkschaft IG Metall bei der Vorstellung ihres Jahrbuchs "Gute Arbeit 2012" in Berlin hin. Die IG Metall sieht durch zunehmenden Stress und Leistungsdruck die Gefahr von psychischen Erkrankungen wie Burn-Out steigen. Daher beschäftigt sich das Jahrbuch dieses Mal mit der "Zeitbombe Arbeitsstress", um das Problembewusstsein zu schärfen und die Politik zum Handeln zu zwingen.

Dabei ist es zunächst wichtig zu wissen, welche Anforderungen die Beschäftigten an "gute Arbeit" überhaupt stellen. Laut einer Studie der Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA) sind dies vor allem ein festes und verlässliches Einkommen, welches für 93 Prozent sehr wichtig oder gar äußerst wichtig ist, gefolgt von einem sicheren Arbeitsplatz (88 Prozent). 83 Prozent sehen ein unbefristetes Arbeitsverhältnis als notwendig an. Gleichzeitig zeigt der DGB-Index "Gute Arbeit", dass nur 15 Prozent der Beschäftigten ihrem Arbeitsplatz eine gute Qualität attestieren, ein Drittel beurteilt die Qualität als schlecht.

Überzogene, kurzfristiger Renditeorientierung

Gleichzeitig nimmt die Zahl psychischer Störungen von Arbeitnehmern zu. Laut DAK-Report 2010 nahm die Anzahl der Fehltage von Arbeitnehmern von 2009 auf 2010 um 13 Prozent zu. Damit rangieren Fehltage aufgrund psychischer Probleme mittlerweile nur noch knapp hinter Fehltagen wegen Verletzungen. Ein Achtel des Krankenstandes machten demnach bereits heute Erkrankungen wie Depressionen oder Angsterkrankungen aus.

Die Folgekosten des psychischen Drucks sind hoch. So weißt Hans-Jürgen Urban, Vorstandsmitglied bei der IG-Metall, darauf hin, dass laut Statistischem Bundesamt jährlich 27 Milliarden Euro für die Behandlung arbeitsbedingter psychischer Erkrankungen ausgegeben werden müssten. Zusätzlich entstünden Kosten in Höhe von 26 Milliarden Euro aufgrund von Produktionsausfall. Diese Zahl ist wohl auch deshalb so hoch, weil die Dauer des Arbeitsausfall bei diesen Erkrankungen mit durchschnittlich 28,9 Tagen besonders lang ist. Über alle Erkrankungen hinweg betrachtet dauert eine Arbeitsunfähigkeit 11,3 Tage lang an.

Die Ursache für die Zunahme von psychischen Störungen ist laut IG Metall Stress. Aufgrund der Dominanz der Finanzmärkte, die trotz der Finanzkrise weiterhin besteht, komme es zu überzogener, kurzfristiger Renditeorientierung. Das geht zu Lasten der Arbeiter, deren Pensum durch Re-Strukturierungen und Kostensenkungen in den Unternehmen immer weiter erhöht werde. Urban zufolge sind besonders prekär Beschäftigte wie beispielsweise Leiharbeiter psychischen Belastungen ausgesetzt. Der Grund ist für ihn schnell ausgemacht: Die Unsicherheit ihrer Arbeitsverhältnisse ist ein akuter Stressfaktor. Zudem fühlten sich weder die Zeitarbeitsfirmen noch die Betriebe, die Leiharbeiter einsetzen, für die Betreuung dieser Mitarbeiter zuständig. Urban versprach, dass sich die IG Metall daher auch künftig für die Interessen von prekär Beschäftigten einsetzen werde.

Dies ist auch dringend notwendig. Denn die Zahl der Leiharbeiter erreicht immer neue Rekordstände und knabbert mittlerweile an der Millionenmarke. 910 000 Menschen haben im vergangenen Jahr ihren Lebensunterhalt als Leiharbeiter verdienen müssen - ein Anstieg von 13 Prozent zum Vorjahr. Es zeigt sich dabei ebenfalls, wie unsicher diese Form der Beschäftigung ist. Die Hälfte der Jobs war nach nicht einmal drei Monaten beendet.

Unwürdige Behandlung

Was für die Unternehmen eine willkommene Flexibilisierung ist, macht die Leiharbeiter erwiesenermaßen sowohl körperlich als auch psychisch krank, wie Studien mittlerweile belegen. Körperlich schwere Arbeit, Bezahlung auf Niedriglohnniveau und der ständig drohende Wechsel des Arbeitsplatzes oder gar der Arbeitsplatzverlust zehren an den Nerven der Beschäftigten. Doch auch die Stammbelegschaft wird durch die billigen und leicht austauschbaren Leiharbeiter unter Druck gesetzt. Immerhin steht implizit die Drohung des Arbeitgebers im Raum, Stammbelegschaft durch billige Leiharbeiter zu ersetzen. Das schwächt die regulär Beschäftigten bei Lohnverhandlungen und in ihrem Einsatz für bessere Arbeitsbedingungen.

Zudem erhöht sich die Bereitschaft, sich trotz Krankheit zur Arbeit zu schleppen. Laut DGB-Index Gute Arbeit bejahen mehr als drei Viertel der Arbeitnehmer, in den letzten 12 Monaten mindestens einmal trotz Krankheit zur Arbeit gegangen zu sein. Doch aus Liebe zur Arbeit oder zum Arbeitgeber geschieht dies zumeist nicht, wie weitere Zahlen des DGB zeigen. Demnach erhöht sich die Bereitschaft, trotz Krankheit zur Arbeit zu gehen, je unwürdiger sich die Mitarbeiter bei ihrer Arbeit behandelt fühlen. So bleiben 27 Prozent der Arbeitnehmer, die sich nie unwürdig behandelt fühlen im Krankheitsfall zu Hause. Wer in hohem Maße unwürdig behandelt wird, traut sich das nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 13 Prozent. Nur zehn Prozent sind es noch in der Gruppe, die sich in sehr hohem Maße unwürdig behandelt fühlen. Die Zahlen machen deutlich, wie sehr Leistungsdruck und die Angst vor Arbeitsplatzverlust mittlerweile das Leben der Menschen bestimmen.

Die Kosten trägt die Allgemeinheit

Die Folge ist eine Zunahme der psychischen Erkrankungen. Die Zahl der Fälle von Arbeitsunfähigkeit aufgrund von psychischen Erkrankungen ist unter AOK-Mitgliedern zwischen 1999 und 2010 69,7 Prozent gestiegen. Die Zahl der ausgefallenen Arbeitstage stieg im selben Zeitraum sogar um 76,9 Prozent. Ebenso nimmt die Frühverrentung wegen verminderter Erwerbsfähigkeit aufgrund psychischer Störungen zu. Waren davon 1993 noch gut 41.000 Personen betroffen, waren es 2010 schon 71.000 - 71 Prozent mehr in 18 Jahren. Laut Deutscher Rentenversicherungen haben die Frühverrentungen aufgrund psychischer Störungen 2010 bereits einen Anteil von fast 40 Prozent an allen Frühverrentungen. Damit sind psychische Erkrankungen der mit großem Abstand wichtigste Grund für Frühverrentungen überhaupt.

Während die Unternehmen immer mehr versuchen, ihre Rendite durch Flexibilisierung der Arbeit zu steigern, bleiben die Arbeitnehmer, die letztlich die Rendite erwirtschaftet haben, mit gesundheiltichen Folgeschäden zurück. Die Kosten dafür trägt die Allgemeinheit. Zumal die besonders belasteten prekär Beschäftigten aufgrund ihres niedrigen Lohns nicht einmal die Möglichkeit haben, in die Sozialkassen einzuzahlen - geschweige denn, eine Altersvorsorge anzusparen.