Das rätselhafteste Buch der Welt

Das Voynich-Manuskript (hier eine Nachbildung) ist in einer unbekannten Schrift verfasst. Niemand konnte das rätselhafte Buch bisher entschlüsseln. Bild: Klaus Schmeh

Greg Hodgins über die Radiokarbon-Datierung des Voynich-Manuskripts, das vermutlich aus dem frühen 15. Jahrhundert stammt

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Telepolis-Autor Klaus Schmeh sprach mit dem kanadischen Wissenschaftler Dr. Greg Hodgins über das Voynich-Manuskript. Hodgins leitete im Jahr 2009 die Radiokarbon-Untersuchung des rätselhaften Buchs und ermöglichte damit erstmals eine zuverlässige Altersbestimmung.

Das Voynich-Manuskript ist ein handgeschriebenes Buch, das in einer unbekannten Schrift verfasst ist. Die Telepolis hat mehrfach darüber berichtet (Das Voynich-Manuskript: das Buch, das niemand lesen kann). Bis heute ist es niemandem gelungen, den Text zu entschlüsseln. Auch sonst wird das Manuskript nicht zu Unrecht als das rätselhafteste Buch der Welt bezeichnet. Weder der Verwendungszweck noch der Entstehungsort noch der Autor sind bekannt. Auch die Bedeutung der zahlreichen handgemalten Illustrationen im Manuskript liegt im Dunkeln. Die zahlreichen Unklarheiten trugen dazu bei, dass sich rund um das Voynich-Manuskript inzwischen unzählige pseudowissenschaftliche Theorien ranken. Mindestens 20 Personen behaupteten, den Text entschlüsselt zu haben, allerdings fand keine einzige dieser "Lösungen" Anerkennung.

Das Alter des Voynich-Manuskripts war ebenfalls lange ein Rätsel. Erst als der Besitzer - die Beinecke Rare Books Library an der Yale-Universität in den USA - im Jahr 2009 eine Radiokarbon-Untersuchung durchführen ließ, kam Licht in diese Frage. Ein Team unter der Leitung von Greg Hodgins von der University of Arizona stellte per Radiokarbon-Datierung fest, dass das Manuskript in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts entstanden sein muss.

Für die meisten Wissenschaftler war dies keine Überraschung, doch so manche spekulative Theorie geriet nun ins Wanken (Neue Datierung des Voynich-Manuskripts sorgt für Aufsehen). Anlass für die Untersuchung war eine Dokumentation des ORF über das Voynich-Manuskript. Bei Redaktionsschluss dieses Artikels hatten Hodgins und seine Kollegen ihre Ergebnisse noch nicht in einer Fachzeitschrift veröffentlicht. Das folgende Interview ist daher eine der ersten schriftlichen Informationsquellen zur Radiokarbon-Untersuchung des Voynich-Manuskripts.

Herr Hodgins, verraten Sie uns, wie alt ist das Voynich-Manuskript?

Greg Hodgins: Lassen Sie mich zuerst eines betonen: Ich kann Ihnen nur sagen, wie alt das Pergament ist, auf dem das Manuskript geschrieben ist. Wann die Schrift darauf entstanden ist, weiß ich nicht. Bezüglich des Pergaments lautet die Antwort auf Ihre Frage: frühes 15. Jahrhundert.

Wie haben Sie das herausgefunden?

Greg Hodgins: Das Labor, für das ich arbeite, führt Radiokarbon-Messungen durch. Auf diese Weise kann man allerdings nur organisches Material untersuchen, also Dinge, die einmal gelebt haben. Das Ergebnis ist die Zeitspanne, die seit dem Ableben des jeweiligen Objekts vergangen ist. Im Falle des Voynich-Manuskripts haben wir es mit Pergament zu tun, und Pergament ist nichts anderes als Tierhaut. Wir können sagen, wann das Tier, von dem die Haut stammt, geschlachtet wurde.

An welchen Stellen des Manuskripts haben Sie die Proben für die Radiokarbon-Untersuchung entnommen?

Greg Hodgins: Wir haben vier so genannte Bifolios untersucht. Ein Bifolio besteht aus zwei miteinander verbundenen Seiten. Beispielsweise stehen Seite 1 und Seite 8 des Voynich-Manuskripts auf demselben Bifolio. Von dieser Seite 8 haben wir eine Probe genommen - so konnten wir das Alter der für uns besonders interessanten Seite 1 bestimmen, ohne diese zu beschädigen. Außerdem nahmen wir Proben von den Seiten 26, 47 und 68.

Greg Hodgins (rechts, im Gespräch mit Telepolis-Autor Klaus Schmeh) arbeitet als Radiokarbon-Spezialist an der University of Arizona in Tucson (USA). Bild: Klaus Schmeh

Was genau liefert eine Radiokarbon-Untersuchung?

Greg Hodgins: Ein Radiokarbon-Datum besteht immer aus einer Zahl und einer Abschätzung der Ungenauigkeit. Wenn man dieselbe Probe mehrfach datiert, erhält man nicht immer genau dasselbe Ergebnis, doch in der Regel liegen die Werte einer Messreihe eng beieinander. Die einzelnen Ergebnisse sind meist normalverteilt, daher drücken wir ein Radiokarbon-Datum mit Hilfe des Mittelwerts und der Standardabweichung aus. In unserem Labor lassen wir meist sechs Werte in die Berechnung einfließen. Die Standardabweichung wird dabei auch als "statistischer Fehler" oder "statistische Ungewissheit" bezeichnet.

Es gibt allerdings noch andere Faktoren, die dafür sorgen, dass die Messung vom wahren Wert abweicht. Diese fallen in den Messstatistiken einer bestimmten Probe zwar nicht auf, doch durch eine große Zahl von Messungen bei unterschiedlichen Proben und durch den Vergleich der Werte unterschiedlicher Labore kommt man ihnen auf die Spur. Manchmal geben wir daher als Ergebnis einer Radiokarbon-Messung eine größere potenzielle Abweichung als die Standardabweichung an. Das ist oftmals eine Frage der Bewertung, wobei wir im Zweifelsfall immer den größeren Abweichungswert nehmen.

Haben am Ende alle vier Proben aus dem Voynich-Manuskript das gleiche Ergebnis geliefert?

Greg Hodgins: Im Grunde ja. Die Messungen der vier Seiten des Voynich-Manuskripts ergaben Radiokarbon-Datierungen, die eng beieinander liegen. Die Standardabweichungen überschneiden sich. So gesehen sind alle Proben gleichen Datums.

Und wie lautete das Ergebnis?

Greg Hodgins: Das durchschnittliche Radiokarbon-Alter der vier Seiten betrug 516±18 Radiokarbon-Jahre. Dies entspricht dem Zeitraum zwischen 1404 und 1438. Die Wahrscheinlichkeit, dass das Voynich-Pergament in diesem Zeitintervall entstanden ist, beträgt 95 Prozent. Da alle Seiten aus demselben Buch stammen, handelt es sich aus meiner Sicht um vier Messung am selben Objekt und es ist gerechtfertigt, einen Mittelwert zu bilden, um so die Abweichung zu verringern.

Sie haben einmal gesagt, der Begriff "Fehler" ("Error") werde in diesem Zusammenhang oft missverstanden…

Greg Hodgins: Das ist richtig. "Fehler" ist in diesem Zusammenhang der statistische Fachbegriff für Messabweichungen. Es bedeutet nicht, dass ein Fehler ("Mistake") gemacht wurde. Das dürfte den meisten Telepolis-Lesern klar sein, aber ich erwähne es trotzdem. In den USA nutzen die Gegner evidenzbasierten Denkens diese missverständliche Bezeichnung immer wieder aus. Den Begriff "Fehler" interpretieren sie so, dass die Wissenschaft nicht weiß, wovon sie redet.

Fälschung ist relativ unwahrscheinlich geworden

Warum haben Sie die Tinte des Voynich-Manuskripts nicht untersucht?

Greg Hodgins: Mein Kollege Joe Barabe hat das getan. Er ist Mikroskopist und hat neben der Tinte auch die Farbpigmente im Voynich-Manuskript untersucht. Für eine Radiokarbon-Analyse enthält die Tinte nicht genug organisches Material. Wir hätten so große Stücke entnehmen müssen, dass das Manuskript völlig verunstaltet worden wäre.

Können Sie uns sagen, was die Analyse der Tinte und der Farbe durch Ihren Kollegen ergeben hat?

Greg Hodgins: Wenn man die chemische Zusammensetzung einer Sache untersucht und daraus Rückschlüsse auf die Entstehungszeit ziehen will, dann schaut man vor allem nach Anomalien. Dazu gehören vor allem Tinte oder Farbpigmente, deren chemische Zusammensetzung eine industrielle Herstellung nahe legt, sowie moderne Chemikalien. Joe Barabe hat im Voynich-Manuskript aber nichts Anachronistisches gefunden. Die Vielfalt an Tinten, Bindemitteln und Farben darin ist allerdings sehr beschränkt. Darüber hinaus wurden die im Voynich-Manuskript nachgewiesenen Materialien über einen langen Zeitraum hinweg genutzt. Erst im 19. Jahrhundert kamen neue Farbpigmente auf die Paletten der Künstler. Daher ist die chemische Analyse für die Zeit vorher nicht sehr aussagekräftig.

Kann man nach Ihrer Untersuchung ausschließen, dass das Voynich-Manuskript eine gut 100 Jahre alte Fälschung ist? Der Buchhändler Wilfried Voynich (1865-1930), nach dem das Buch benannt ist, wurde ja immer wieder als möglicher Fälscher genannt.

Greg Hodgins: Wir wissen nun zwar, wie alt das Pergament ist, aber nicht notwendigerweise, wann der Text darauf geschrieben wurde. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um eine Fälschung aus späterer Zeit handelt, nun deutlich geringer. Wenn man vier Seiten aus dem Manuskript auswählt und feststellt, dass sie alle aus der gleichen Zeit stammen, dann ist es sehr wahrscheinlich, dass auch die restlichen Seiten so alt sind. Für einen Fälscher ist es ohne Zweifel sehr schwierig, einige Hundert unbeschriebene Pergamentblätter aus dem 15. Jahrhundert aufzutreiben, die obendrein zur gleichen Zeit entstanden sind. Der Voynich-Manuskript-Experte René Zandbergen hat außerdem einen Brief aus dem 17. Jahrhundert ausfindig gemacht, in dem das Manuskript allem Anschein nach erwähnt wird. Das macht eine moderne Fälschung noch unwahrscheinlicher. Doch bevor wir den Autor des Voynich-Manuskripts gefunden haben, können wir nicht zu 100 Prozent sicher sein.

Warum gibt es zu Ihrer Radiokarbon-Untersuchung noch keine Veröffentlichung in einer wissenschaftlichen Fachzeitschrift?

Greg Hodgins: Demnächst wird eine solche Veröffentlichung erscheinen.

Die Radiokarbon-Untersuchung kam auf Betreiben eines österreichischen Fernsehteams zustande, das eine Dokumentation für den ORF drehte. Wie konnte ausgerechnet ein Fernsehteam aus dem fernen Europa die Beinecke Library davon überzeugen, das Voynich-Manuskript auf diese Weise untersuchen zu lassen? Immerhin hat man dort eine solche Analyse zuvor Jahrzehnte lang abgelehnt.

Greg Hodgins: Ich kenne die Vorgeschichte nicht. Ich weiß auch nicht, warum die Beinecke Library die Anfrage des Fernsehteams akzeptiert hat. Der Auftrag an mein Labor kam allerdings von der Beinecke Library selbst - und nicht etwa von einem Fernsehsender.

Wie viele Tierhäute wurden für das Voynich-Manuskript verarbeitet?

Greg Hodgins: Das weiß ich nicht genau. Wenn ich mich mit so einem Manuskript beschäftige, dann schaue ich durch die Brille des Radiokarbon-Untersuchers. Dabei sehe ich eher eine Tierherde als ein Buch. Jedes Tier der Herde hat seine eigene Lebenszeit und liefert damit eine eigene Radiokarbon-Datierung. Es kann durchaus sein, dass einige der Seiten des Voynich-Manuskripts vom selben Tier kommen, aber sicherlich nicht alle Seiten des Buchs.

Was halten Sie von der Hypothese, dass das Voynich-Manuskript in Norditalien entstanden sein muss, weil darin so genannte Schwalbenschwanzzinnen abgebildet sind? Solche Zinnen gab es zur fraglichen Zeit angeblich nur in Norditalien.

Greg Hodgins: Ich kenne diese Behauptung aus der Voynich-Literatur. Allerdings ist mir bisher keine belastbare Quelle dafür bekannt. Das Forschungsthema ist jedenfalls sehr interessant. Ich habe mir bisher noch keine Meinung dazu gebildet.

Schauen wir nun noch auf ein anderes bekanntes Objekt, das von Ihrer Institution untersucht wurde: die Vinland-Karte. Ist Sie Ihrer Meinung nach echt?

Greg Hodgins: Die Diskussion darüber pendelt seit Jahrzehnten hin und her. Die Radiokarbon-Untersuchung spricht für die Echtheit. Da man auf der Karte jedoch moderne Farbpigmente gefunden hat, schlossen einige, dass es sich um eine Fälschung handelt. Andererseits könnte es sein, dass diese Pigmente erst später auf die Karte gelangt sind. Die Diskussion ist nach wie vor im Gange.

Auch das Turiner Grabtuch wurde mit der Radiokarbon-Methode untersucht. Es wurde als Fälschung entlarvt. Zweifel an der Korrektheit dieser Untersuchung hat Greg Hodgins nicht. Bild: Giuseppe Enrie, 1931

Und was halten Sie von der Radiokarbon-Datierung des Turiner Grabtuchs? Manche behaupten, die Untersuchung, die das Tuch als Fälschung aus dem Mittelalter entlarvt, sei fehlerhaft.

Greg Hodgins: Ich kenne keinen Radiokarbon-Experten, der die korrekte Datierung des Turiner Grabtuchs anzweifelt. Aber wenn jemand wirklich etwas glauben will, dann zählen selbst die besten Argumente nicht.

Der Text erschien in ähnlicher Form erstmals in der Zeitschrift Skeptiker (4-2011). Klaus Schmeh ist Autor des neu erschienenen Buchs "Nicht zu knacken - Von ungelösten Enigma-Codes zu den Briefen des Zodiac-Killers" (Hanser 2012), in dem auch das Voynich-Manuskript eine Rolle spielt, sowie Mitglied der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP). Seine Web-Seite: www.schmeh.org

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