Der Apfel als Symbol verlorener Unschuld

Über den jüngsten Imagewandel einer IT-Firma

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Betrachten wir einmal ein Bild von Alan Turing. In Metall gegossen sitzt er da, auf einer Sitzbank. Neben ihm ist in der Rückenlehne ein Name eingraviert, der auf den ersten Blick wie "Jekyll" aussieht (à la "Jekyll and Hyde"). Und in der Hand hält er einen Apfel.

Die Symbolik bei der Geschichte ist relativ eindeutig, wenn man die Umstände kennt. Turing, ein schwuler Computerpionier, begeht, von der Gesellschaft in die Enge getrieben, kurz vor seinem 42. Geburtstag Selbstmord, indem er in einen mit Zyankali vergifteten Apfel beißt. Ob er sich das Gift wirklich auf diese "romantische" Art selbst verabreicht hat, bleibt ungeklärt, weil man den angebissenen Apfel, der neben der Leiche lag, nicht auf Gift hin untersuchte. Aber, dass die Gesellschaft ihn in den Selbstmord trieb, scheint unbezweifelbar - denn Turing wurde quasi "chemisch kastriert", um ihn von seiner Homosexualität zu kurieren.

Der Apfel wurde erst nachträglich symbolisch aufgewertet. Die Schneewittchen-Story war Turings Lieblingsmärchen, der Apfel hat bekanntlich biblische Konnotationen und in der Wissenschaft gebührt gerade diesem Obst der Ehrenplatz dank Isaac Newton. (Man sieht, Steven Hawking wird es ohne solch augenfällige Metaphorik, in den Jahrhunderten, die kommen werden, immer etwas schwerer haben, da mitzuhalten.)

Nun kommen wir zu Steve Jobs und der Firma Apple, die sich bekanntlich einen angebissenen Apfel als Firmen-Logo erwählte. Wo umgekehrt der jeweils runde und aufgeschnittene Apfel beim gleichnamigen Plattenlabel der Beatles für jeden einsichtig so was wie eine symbolische Darstellung des Prinzips männlich/weiblich, Ying und Yang darstellen, mochte, musste man bei Apple überhaupt erst mal auf den Dreh mit Turings Giftapfel kommen. Aber: Gefragt, ob dem so sei, antwortete Jobs: "Nein. Aber, bei Gott, wir wünschten, es wäre so gewesen."

Eine selten blöde Antwort, dafür, dass Jobs als das Unternehmergenie seiner Zeit, als der Henry Ford der IT-Branche gefeiert wurde. Aber natürlich, postum, scheint ihm sein Wunsch gewährt worden zu sein. Das Firmen-Logo sklerotisiert, opaleszierend, sich faulig verfärbend, zum Giftapfel. Zum Symbol einer verlorenen Unschuld.

Das ist eine wichtige Einschränkung. Die Produkte der Firma Apple sind keineswegs über Nacht zu bloßem Schrott geworden. Der ei-förmige iMAC ist nach wie vor eine Design-Ikone des 20. Jahrhunderts, vergleichbar der Déesse ("Göttin") von Citroën. Das eigenwillig benamte iPAD - (man assoziierte damit bekanntlich zunächst irgendwelche elektronischen Damenbinden! Ganz wie in diesem, lange vor der Einführung des iPAd entstandenen, MAD-Filmchen) - erweist sich als Schlager auf dem Markt, und so weiter.

Kritik der Warenästhetik

Allerdings sind diese Produkte eben auch (und nicht viel anderes als ein Tamagotchi) den Gesetzen des Marktes und der Moden unterworfen, das heißt, kurzlebige Tauschwertobjekte, für die man diensteifrig sein Geld hinblättert, wenn sie am Markt erscheinen.1

Der Käufer, der einem Schuster etwas husten wird, wenn der ihm ein paar handgenähte Lederschuhe für 250 Euro verkaufen will, zahlt gern das Doppelte für ein paar kunstvoll zusammengenähte Plastikbeutel, die ihm als wissenschaftlich/ergonomisch/elektronisch/astrophysisch berechnete Turnschuhe untergejubelt werden. Die einst von Wolfgang Fritz Haug angeworfene Kritik der Warenästhetik (eine marxistische Unterdisziplin, die allerdings durchaus alltagstaugliche Nützlichkeitsaspekte aufweist) verdient es, unter dem Eindruck des Turbo-Kapitalismus, ihrerseits turbomäßig wiederbelebt zu werden.

Allerdings - ob man heute noch, wie Haug 1971 oder Barthes 1957 über Objekte und Produkte philosophieren darf, ohne massiv abgestraft zu werden - ist an sich schon ein Hinweis darauf, um wie viel näher wir, insgesamt, global, an eine Welt von "1984" herangerückt sind. Realität und Mythos verschwimmen, und so sind auch symbolische Realitäten voll "real" geworden, während die Ebene des realiter Realen eher hinter einem Vorhang des Mythischen versteckt oder verborgen gehalten wird.

Auf der symbolischen Seite hat es die Firma Apple nun eben einmal voll erwischt. Vor kurzem noch die Engelschöre für den gen Himmel entflogenen Jobs - und zack! Schon folgte der nasse Schwamm, voll in die Fresse. Und ausgerechnet die New York Times, die doch als eine der ersten überhaupt das iPad über den grünen Klee lobte und ihre eigene iPad-taugliche elektronische Version ins Netz stellte - erweist sich nun als Vorreiterin, die mit dem anklagenden Zeigefinger auf Apple weist. Kein Wunder, dass die Leute bei Apple, die ja mehr-als-nur-ein bisschen selber in einer quasi-religiös/sektiererischen Schlaufe befangen wirken, darin eher den Stinkefinger der Konkurrenz zu wittern scheinen.

Und natürlich. Die NYT ist ja die Stimme des Empire, sie ist ja das Flagschiff amerikanischer Politik. Und amerikanische Politik, wie einem ein John Marciano oder Noam Chomsky beliebig lange und ausführlich erklären können, ist die Politik des internationalen Hegemonialstrebens, also "Empire" - Gewaltausübung unter Vorspiegelung falscher bzw. irreführender Daten und Angaben. Beispielsweise, wenn ein massiver Krieg in Indochina geführt wird, angeblich um der Bevölkerung der bombardierten Länder zur "Demokratie" zu verhelfen. Ähnlich über die vergangenen 20 Jahre, im Irak. Ähnlich in Afghanistan. Ähnlich demnächst in Pakistan und/oder im Iran.

Die einzige verbliebene militärische Supermacht der Welt, ein Pleitegeier, der seine Kreise über den noch zuckenden Gerippen der übrigen Geflügelschar der Welt zieht, ist auf einzigartige Weise abhängig von der Wirtschafts-Supermacht China. Und umgekehrt. China könnte den USA nicht einfach den Stöpsel aus der Wanne ziehen, oder den Strom abstellen. Aber Amerika kann ohne Chinas absoluten Gehorsam und blinde Gefolgschaft auch nicht mehr viel ausrichten. Eben erst verkündet der Economist auf seinem Titel, der Staatskapitalismus sei das gewinnende Wirtschaftsmodell von Morgen.

Apples Zulieferfirmen im "chinesischen Gulag"

Na! Da muss China ein wenig geknutet werden, bevor die USA ihren nächsten blindwütigen Angriff starten. Und wie besser, als das man einmal eine ausführliche Beschreibung der katastrophalen Arbeitsbedingungen bringt, die in Apples Zulieferfirmen im tiefsten Innern des "chinesischen Gulags" herrschen? Menschenrechte, menschengerechte Arbeitszeiten? Pustekuchen. Arbeitszeiten von 60, 72 und mehr Wochenstunden, 6-7 Tage ohne Ruhetag, Lohnentzug des ohnehin schon geringen Tagesentgelts bei Zu-spät-Kommen, Selbstmorde der in riesigen Schlafbunkern manchmal zu zwanzigst in drei Zimmern miteinander Hausenden, usw. Hier im Detail nachzulesen, in einer maschinenpistolenartig hingeratterten Serie von fünf Artikeln innerhalb weniger Tage:

In China, Work Hazards Reveal the Human Costs of the iPad
By CHARLES DUHIGG and DAVID BARBOZA
The workers assembling iPhones, iPads and other devices often labor in harsh conditions. Problems are as varied as onerous work environments and sometimes deadly safety problems. In some cases, employees work seven days a week. They live in crowded dorms and some say they stand so long that their legs swell until they can hardly walk. Under-age workers have helped build Apple's products, and the company's suppliers have improperly disposed of hazardous waste and falsified records.
January 26, 2012

Apple's iPad and the Human Costs for Workers in China
By CHARLES DUHIGG and DAVID BARBOZA
A staggering manufacturing system in China has made it possible for Apple and other companies to make devices almost as quickly as they can be dreamed up, but for workers, it can be dangerous.
January 25, 2012

Apple, America and a Squeezed Middle Class
By CHARLES DUHIGG and KEITH BRADSHER; DAVID BARBOZA, PETER LATTMAN and CATHERINE RAMPELL CONTRIBUTED REPORTING.
Building Apple's iPhone in the United States would demand much more than hiring Americans - it would require transforming the national and global economies.
January 22, 2012

Apple Releases List of Its Suppliers for the First Time
By NICK WINGFIELD and CHARLES DUHIGG The move accompanied a report detailing troubling practices inside many of the facilities.
January 14, 2012

Der offensichtlich politisch völlig unbeleckte neue Apple-Chef Tim Cook hatte zu diesen Anschuldigungen, die ihm ja wohl kaum heute zum ersten Mal zu Ohren kommen, nichts weiter zu sagen, als: Das ist die Verantwortung der Chinesen. Wir können sie nur darauf hinweisen, dass sie das ändern müssen.

Dann besann er sich aber eines Besseren und schrieb der NYT:

Tim Cook: 'We Care About Every Worker'
By CHARLES DUHIGG
After a New York Times article on conditions in Chinese factories that make Apple products, Timothy Cook, Apple's chief executive, sent a companywide memo on Thursday to explain. "We care about every worker in our worldwide supply chain. Any accident is deeply troubling, and any issue with working conditions is cause for concern," he wrote.
January 27, 2012

Cook weiß allerdings, dass er ohne die Chinesen nichts machen kann:

Letzte Woche berichtete Apple über eines der wirtschaftlich erfolgreichsten Quartale, das ein Konzern jemals zu vermelden hatte, 13.06 Milliarden Dollar an Profiten auf 46.3 Milliarden Dollar an Umsätzen. Die Verkaufszahlen hätten noch höher sein können, meinte der Chefs der Firma, wenn ihre ausländischen Fabriken besser gespurt hätten.

Na super. China liefert die Produktzahlen, die Apple braucht, um die Kohle zu machen, an die diese Firma jetzt gewöhnt ist. Die Produktionsstätten in China fallen zu lassen und nach Taiwan oder Indien umzusiedeln, würde, was Arbeitsbedingungen und menschenwürdige Bezahlung betrifft, kaum etwas bringen. Aber Produktionsverzögerungen, Kapitaleinbrüche würden Apple vielleicht in die Miesen rücken lassen.

Machen wir uns nichts vor. Alle amerikanischen Firmen lassen im Ausland arbeiten, aber kein Land ist sooo billig und zuverlässig wie China. Die amerikanische Lebensmittelherstellung in China ist so ausgedehnt, und, nach den ständig neu aufblühenden Skandalen wegen tödlichem Baby-Milch-Pulver, selbstverständlich auch so besorgniserregend, dass amerikanische Behörden wie EPA , USDA, DEA in China Dependancen aufziehen - ohne nennenswerten Erfolg, aber für ziemlich viel Geld. Das Ganze dient letztlich einzig zur Beruhigung der amerikanischen Öffentlichkeit. Diese Organisationen sind schließlich auch in den USA zu keiner geordneten Leistung fähig - man denke nur an die oft tödlichen, ausgedehnten Fleischskandale.

Obwohl - noch - beträchtliche Unterschiede zu Südkorea oder China bestehen, fallen die Resultate (namentlich auf dem technischen Sektor) ziemlich eindeutig zu Gunsten der Asiaten aus. Hier sehen wir beispielsweise die obersten Bosse von VW auf einer Autoschau, wie sie in einem koreanischen Auto Marke Hyundai sitzen. "Nix scheppert", sagt Herr Winterkorn da voller Bewunderung. "BMW kann's nich. Wir könn's nich. Wieso kann's der?" Schönes Video. Europäische Industriespione bei der Arbeit.

"Wer braucht da noch Roboter, wenn es schon Zintillionen Chinesen gibt?"

Dieses Herr-und-Diener-Verhältnis zwischen Ländern ist nichts Neues. Zu Zeiten, als Deutschland noch in BRD und DDR geteilt war, ließen BRD-Firmen preisgünstig in der DDR für den BRD-Markt Billigprodukte fertigen, mit denen Firmen wie Quelle dann in Westdeutschland Kohle machten. Gedient war beiden Ländern damit. In der DDR gab es gesicherte und relativ besser bezahlte Arbeitsplätze, in der BRD gab es billige Qualitätsprodukte, die damals noch mit den Japanern mithalten konnten. Und Quelle wuchs und gedieh und gab der Bevölkerung im Großraum Nürnberg gesicherte Arbeitsplätze. Keinem Menschen - etwa bei Stern, Bild oder anderen aufklärerisch orientierten deutschen Medien - wäre es eingefallen, die grässlichen Arbeitssituationen in der DDR anzuprangern und auf eine Verbesserung der ostdeutschen Arbeitsverhältnisse zu drängen. Nach dem Mauerfall war es dann aus mit dem schönen Traum und die Arbeitslosigkeit zog ein - drüben, wie hüben.

Freilich ändert das wenig an der Tatsache, dass die Arbeitssituationen in China wirklich unbeschreiblich sind. Sie sind REAL genau so wie die Parodien, die Charlie Chaplin in "Modern Times" darstellte:Hier sortieren ein paar junge Chinesen in einem "Roboter-Tempo" Spielkarten in Kartons ein.

Und hier ist die Szene aus dem Chaplin-Film. Sie ist natürlich länger und komödiantischer. Und damals illustrierte sie, für jeden verständlich, die Unmenschlichkeit des maschinellen Arbeitsprozesses. Heute schreibt einer unter den wirklichen, unmenschlichen Film aus China: "Wer braucht da noch Roboter, wenn es schon Zintillionen Chinesen gibt?" Das ist der vermutlich ironisch gemeinte Kommentar einer amerikanischen Bürgers-Rotznase zu diesen Bilder - und der Kleine hat ja recht. Das war, ironischerweise, vor 80 Jahren auch nicht anders.

Damals reiste Egon Erwin Kisch, der aus Prag stammende und damals in Deutschland wohl berühmteste Reporter deutscher Zunge, heimlich nach China. Nach seiner Rückkehr veröffentlichte er eilig noch im Dezember 1932 sein Buch, "China Geheim", bevor es dann im nächsten Frühjahr, nach der Machtergreifung der Nazis, öffentlich verbrannt wurde. Ich müsste an dieser Stelle die Seiten 98 bis 107 komplett zitieren, wass aber mit dem deutschen Urheberrecht kollidieren würde, weshalb sich der Leser das Buch kaufen, ausleihen oder auf einem anderen Wege beschaffen muss.

Man sieht, die Firma Apple mit dem angebissenen Apfel-Logo hat die grausamen Arbeitssituationen in China nicht erfunden, nicht einmal eingeführt oder durch besondere Nachlässigkeit zugelassen. Sie sind immer schon so da gewesen, im Auftrag einheimischer und fremder Dienstherren. Die Apple-Leute haben nur symbolisch in dieser Situation, mehr als Nike und andere Kollegen, einen chinesischen Sündenfall begangen, weil sie, durch den großen Erfolg in Amerika, jeden Haushalt an der Vergewaltigung ihrer chinesischen Opfer persönlich mitbeteiligen. Da wird man in den mehrheitlich christlichen USA vielleicht den Apfel fallen lassen. Müssen. Und einen Pfirsich hernehmen. Eine mehr iranische Frucht. Ein taugliches Kriegssymbol?

Ach so, ja: Weil es in dem Text immer um Apfel geht, habe ich mich hier zur Abwechslung mal Sohn der Birne genannt: "Pearson". (Tom Appleton)

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